2. Internationale Orpheusakademie 14.–18.4.2004 in Gent
Florian Wetter
Seit 2001 bietet das Orpheus Instituut in Gent im Rahmen seines Doktorandenstudiengangs regelmäßig Veranstaltungen zu musiktheoretischen Fragen an, seit 2003 findet in jährlichem Turnus die durchweg hochkarätig besetzte International Orpheus Academy statt. In beiden Jahren war das Thema weit gefaßt: 2003 ging es um das »20. Jahrhundert«, 2004 um »Musik und Theorie von ca. 1600–1750«.
Der von Thomas Christensen (Chicago) im Eröffnungsvortrag ausgeführte Gedanke, eine Landkarte des besagten Zeitraums zu erstellen, ohne dabei eine allgemeingültige und übergeordnete ›Theorie‹ zu verfolgen, stand programmatisch für die pluralistische Ausrichtung der ganzen Veranstaltung. Zudem sollten Theorie und Praxis deutlich aufeinander bezogen werden.[1] Hier knüpften die meisten Vorträge an. Ausgehend vom aristotelischen Theoriebegriff skizzierte Thomas Christensen die Wandlungen, denen das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis im Laufe der Zeiten unterworfen war. Christensen wies schließlich insbesondere auf das veränderte Selbstverständnis der barocken Theoretiker hin: Nur noch wenige Schriften beschäftigten sich mit akustischen Problemen oder Schwingungsverhältnissen; die praktische Anwendbarkeit für Generalbaßspiel und Komposition rücke in den Vordergrund. Wie sehr sich die allgemeine geistesgeschichtliche Entwicklung auf das musiktheoretische Denken auswirkt, wurde nicht nur hier, sondern auch angesichts zahlreicher anderer Beiträge im Verlauf der Akademie wiederholt deutlich. So betonte Penelope Gouk (Manchester) für das Gebiet der Medizingeschichte zunächst, wie wenig der heute geläufige naturwissenschaftliche Wissenschaftsbegriff auf Denker wie beispielsweise Isaac Newton zutrifft. Das Bestreben, den Menschen und die ihn umgebenden Phänomene ›ganzheitlich‹ zu verstehen, stehe im Zentrum einer allgemeinen Naturphilosophie, im Rahmen derer beispielsweise Optik oder Akustik lediglich als Teilbereiche verstünden würden. Die Musik und als deren Sinnbild wiederum das gestimmte Instrument fänden infolgedessen bei Medizinern und Naturphilosophen wie Thomas Willis oder George Cheyne als allgemeine Metapher für das Gleichgewicht von Körper und Geist Verwendung.
Im Sinne derartiger interdisziplinärer Überlegungen war es wiederum Christensen, der an anderer Stelle die Bedeutung von Descartes und Newton für die Theorie Rameaus betonte. Zeige sich Rameau im Traité de l’harmonie von 1722 noch stark inspiriert von dem mechanistischen Weltbild der kartesianischen Philosophie, so werde er im Laufe der Jahre immer mehr von zentralen Gedanken Newtons beeinflußt: Die Idee von der Tonika als ›Gravitationszentrum‹, gehe – so Christensen – direkt auf den Einfluß der Newtonschen Gravitationstheorie zurück.
»The Music Itself« war der Ausgangspunkt von Susan McClarys (University of California) Ausführungen. In einer Art von »Queer Theory« verband McClary subjektive Eindrücke mit theoretischen Erwägungen und versuchte sich so der Musik des italienischen und französischen Barocks zu nähern. Beginnend mit dem Begriff der Rhetorik bei Monteverdi und der Charakterisierung seiner Opernfiguren suchte sie die Hauptunterschiede zum französischen Barock zu erläutern. McClary betonte, der hohe Affektgehalt der italienischen Musik stehe in starkem Gegensatz zur französischen Ästhetik, die sich dem Reglement der strengen französischen Hofkultur eines Louis XIV. habe unterwerfen müssen. Demgegenüber entziehe sich die italienische Musik tendenziell einer stringenten Dramaturgie und vereine in ihrem Wesen das Element des Kalküls mit dem der Willkür.
Das Schaffen Johann Sebastian Bachs unter formalen und harmonischen Aspekten zu beleuchten, machte sich Joel Lester (New York) zur Aufgabe. Lester, selbst als Geiger konzertierend tätig, bezog vielfältige aus der künstlerischen Praxis stammende Überlegungen in seine analytischen Interpretationen mit ein. Bachs Musik erschien Lester mitunter als eine Art nonverbale Unterweisung in Komposition: den Präludien in C-Dur, c-Moll, D-Dur und e-Moll aus dem Wohltemperierten ClavierI liegt ein jeweils ähnlich gehaltener Generalbaß zu Grunde, wobei Bach den kompositorischen Anspruch des Modells steigert und sich die Textur der Präludien zunehmend verdichtet. Lester lehnte einen traditionellen Formbegriff bei Bach als anachronistisch ab, behauptete aber andererseits das Prinzip einer »Heightening Complexity« als entscheidendes formbildendes Kriterium.
Wie vorbarocke Stimmführungsmodelle, die aus der Improvisation eines vierstimmigen Satzes hervorgegangen waren, sich im Barock verfestigen und schließlich in das Modell der ›Regula del Ottava‹ münden, zeigte Markus Jans (Basel). Anhand zahlreicher Beispiele erörterte Jans unterschiedliche Variantenbildungen, die sich bis in den Choralsatz Bachs verfolgen ließen. Daraus resultierten weitreichende Überlegungen über das Verhältnis zwischen ›Modalität‹ und ›Tonalität‹, die – entgegen landläufiger Meinung – keineswegs sich gegenseitig ausschließende Systeme darstellten.
Probleme der ›musica ficta‹ bildeten den Gegenstand von Gérald Geays Vortrag. Geay, Komponist, Forscher und Herausgeber im Bereich alter Musik am Centre de Musique Baroque de Versailles, sprach von der enormen Wichtigkeit, über die ›Materialbeschaffenheit‹ der einzelnen Modi genauestens orientiert zu sein, um dem ausführenden Musiker einen sinnvoll spielbaren Notentext vorlegen zu können. Dies betreffe nicht nur Fragen der Vorzeichnung, sondern auch die Problematik, daß bei vier- bzw. fünfstimmigen Kompositionen Stimmen oftmals fehlten und nur ein Gerüstsatz überliefert sei.
Einen interessanten Blick auf aufführungspraktische Aspekte anderer Art warf Marc Vanscheeuwijck (University of Oregon). Im Mittelpunkt seines Interesses standen die Auswirkungen der Akustik der Kathedrale von Bologna. Vanscheeuwijck untersuchte insbesondere die Folgen des enormen Nachhalls von acht bis zwölf Sekunden auf Komposition wie Rezeption.
Den ungewöhnlichsten Programmpunkt bildete sicherlich der »Versuch einer Interpretation mit der Geige in der Hand« des flämischen Geigers Sigiswald Kuijken. Seine Interpretation des Adagios aus Bachs Sonate g-Moll für Solovioline zeigte, wie sich theoretisches Wissen mit instrumentalem Können zu verbinden vermag. Antworten auf die Fragen nach Phrasierung, Tempo, Dynamik bezog Kuijken aus der Struktur der »Linie«, worunter er die übergeordnete harmonische Progression verstand, die er in seiner Interpretation plastisch herauszuarbeiten versuchte.
So erwies sich die in Gent gezeichnete ›Landkarte‹ mit ihren verschiedenen Landschaften des Denkens und Musizierens im Barock als vielfältig: Sie bot das Bild eines reichen Faches, das gerade im Zusammenhang mit anderen Disziplinen zu bedenkenswerten Aussagen gelangen kann. Die International Orpheus Academy 2004 mit ihren etwa 35 Teilnehmern aus aller Welt führte so zu einem intensiven und lehrreichen Zusammenkommen in einer entspannten, kollegialen und häufig sogar freundschaftlichen Atmosphäre.
Anmerkungen
Diese Zielsetzung verfolgt das Orpheus Instituut seit seiner Gründung 1996 mit besonderer Verve. Musikern mit einer bereits abgeschlossenen künstlerischen Ausbildung soll es so möglich werden, ihre praktischen Erfahrungen mit einer vertieften akademischen Ausbildung zu verbinden und ihre Studien mit dem Doktorgrad nach amerikanischem Vorbild abzuschließen: In Kooperation mit den Konservatorien in Amsterdam und Den Haag sowie der Fakultät der Künste an der Universität Leiden wird den Absolventen des Genter Instituts der ›docArtes‹ verliehen. |
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