Feilen, Andreas / Christina Schnauß / Mark Gotham (2024), »Studie zur Harmonielehre an Hochschulen und Universitäten im deutschsprachigen Raum und im internationalen Vergleich«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 21/2. https://doi.org/10.31751/1218
eingereicht / submitted: 19/06/2023
angenommen / accepted: 28/03/2024
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 30/12/2024
zuletzt geändert / last updated: 30/12/2024

Studie zur Harmonielehre an Hochschulen und Universitäten im deutschsprachigen Raum und im internationalen Vergleich

Andreas Feilen, Christina Schnauß, Mark Gotham

Der Artikel stellt das Ergebnis einer explorativen Datenerhebung zu Inhalten und Terminologie im Harmonielehreunterricht vor. Lehrende an deutschsprachigen Hochschulen und Universitäten wurden zu den von ihnen im Unterricht verwendeten Lehrwerken und Fachbegriffen befragt. Der internationale Vergleich gebräuchlicher Termini wie auch das Korpus häufig verwendeter Lehrwerke bestätigen erstmals datenbasiert, dass der Harmonielehreunterricht im deutschsprachigen Raum traditionell geprägt ist.

This article presents the results of an exploratory data collection on content and terminology in the field of Harmonielehre. Teachers at German-speaking colleges and universities were asked about the textbooks and terminology they use in their harmony lessons. The international comparison of common terms as well as the corpus of frequently used textbooks reveal that harmony teaching in German-speaking countries remains largely traditional.

Einleitung

Immer wieder zeigt es sich in verschiedenen Kommunikationssituationen innerhalb der internationalen Arbeitsgruppe aus englisch- und deutschsprachigen Musiktheoretiker:innen am Institut für Musik und Musikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund, dass die Verständigung über Fachtermini besondere Schwierigkeiten birgt. So illustriert der sowohl in der englischen wie deutschen Fachsprache verwendete Begriff ›parallel‹ in besonderer Weise die sprachlichen Diskrepanzen. Dient er im Deutschen zur Beschreibung der parallelen Dur- und Molltonart (z. B. C-Dur und a-Moll), so nutzt man ihn im Englischen zur Bezeichnung für die auf demselben Grundton basierenden Dur- und Moll-Tonarten respektive -Akkorde. Somit entspricht der englische Begriff parallel dem deutschen Terminus ›Varianttonart‹ (z. B. C-Dur und c-Moll); der deutsche Begriff der ›Paralleltonart‹ hingegen ist als relative key zu übersetzen.

Für den Terminus modal mixture ist hingegen keine eindeutige Übersetzung ins Deutsche möglich. Auch wenn dieser Begriff in der englischen Harmonielehretradition zum Standardvokabular gehört, existiert in der deutschen Lehrtradition keine adäquate Übersetzung und somit auch kein eigenständiger Begriff. Zwar behandelt die deutsche Lehre Teilaspekte dieses musiktheoretischen Begriffs, doch gibt es keinen expliziten thematischen Oberbegriff wie modal mixture[1] – wenn überhaupt, wird der Begriff in Lehrwerken jüngeren Datums direkt aus dem Englischen adaptiert.

Ein weiteres Beispiel ist der englische Begriff texture. Die offensichtliche deutsche Übersetzung ›Textur‹ wäre sicherlich geeignet, auch im Deutschen die harmonische sowie rhythmische Struktur von Musik zu beschreiben, doch handelt es sich dabei um keinen etablierten Begriff in der deutschen Fachliteratur bzw. -sprache.[2] Alle deutschen Entsprechungen, die im Sinne eines Oberbegriffs zusammenfassend dasselbe musikalische Phänomen beschreiben, bilden eher Umschreibungen als einen festen terminus technicus.[3]

Darüber hinaus fällt beim Vergleich von englisch- und deutschsprachigen Lehrwerken auf, dass in den englischsprachigen Büchern ein bestimmter thematischer Aufbau dominiert: So differenziert man konsistent zwischen diatonic harmony und der darauf aufbauenden chromatic harmony – eine Kategorisierung, die zwar auch in der deutschen Lehrliteratur inhaltlich und strukturell nachvollzogen, aber nicht in dieser strengen Systematik durchgeführt wird. Obschon man harmonische Phänomene der chromatic harmony, so etwa das prominente Beispiel des ›Neapolitanischen Sextakkords‹, problemlos auch mit deutschen Fachbegriffen definieren kann – hauptsächlich wird man oberbegrifflich von alterierten Akkorden sprechen –, ist diese strenge thematische Einteilung in der deutschsprachigen Lehrliteratur nicht gegeben.

Ziel des vorliegenden Artikels ist es, mittels einer explorativen Datenerhebung zu konkretisieren, was zunächst nur in Fachgesprächen in Lehre und Forschung an der TU Dortmund debattiert wurde. Die stichprobenartige Sichtung von musiktheoretischer Lehrliteratur der lokalen Bibliothek unterstrich die Diskrepanzen zwischen musiktheoretischen Begriffen in der deutschen und englischen Lehrtradition. Klarerweise ist die in Dortmund verfügbare Literatur nicht unbedingt repräsentativ für den gesamten deutschsprachigen Raum: So ergibt sich das Problem, dass für den deutschsprachigen Raum bislang noch keine Erhebung der am häufigsten benutzten Musiktheorielehrwerke vorgelegt wurde, während im US-amerikanischen Raum bereits aktuelle Studien über die am häufigsten verwendete Lehrliteratur im Bereich der Musiktheorie existieren. Die Studie von Barbara Murphy und Brendan McConville aus dem Jahr 2017 gibt einen umfangreichen Überblick zu diesem Thema.[4] Diese Ergebnisse sollen in Teilen als Vergleichsgröße für eine statistische Erhebung und Evaluation der am häufigsten verwendeten Lehrliteratur im deutschsprachigen Raum dienen. Auf den Ergebnissen aufbauend, geht es im Abschnitt »Vergleich von englisch- und deutschsprachiger Terminologie am Beispiel von modal mixture« um die Differenzen zwischen englisch- und deutschsprachigen musiktheoretischen Termini im Fach Harmonielehre, also um die Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede in beiden Lehrtraditionen.

Die explorative Datenerhebung

Um einen aktuellen Überblick über Lehrinhalte und verwendete Lehrwerke im Bereich Musiktheorie zu erlangen, wurde eine explorative Datenerhebung durchgeführt. Im Rahmen der Umfrage wurde ein Verteiler mit nahezu 500 E-Mail-Adressen von Musiktheorielehrenden an Universitäten und Hochschulen im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich und der Schweiz) generiert. Mithilfe einer ausführlichen Online-Recherche wurden öffentlich zugängliche E-Mail-Adressen von Lehrenden zusammengetragen und zudem Sekretariate von Musikinstituten und -hochschulen und/oder deren Institutsleitungen angeschrieben. Zusätzlich wurde die Umfrage über den Newsletter der Gesellschaft für Musiktheorie, erschienen am 11.2.2023, verbreitet. Die Befragten wurden gebeten, den Link zur digital erstellten Umfrage an das entsprechende Kollegium weiterzuleiten. Die Umfrage, die mit der Online-Umfrage-Applikation LimeSurvey programmiert wurde, war ab dem Sommer 2022 und bis zum Frühjahr 2023 aktiv, und es konnte ein Rücklauf von 361 digitalen Antwortbögen verzeichnet werden, wovon jedoch nicht alle Bögen vollständig ausgefüllt waren. Die anonyme Umfrage war dergestalt, dass keine der zu gebenden Antworten verpflichtend war. Das heißt wiederum, dass eine jede Frage eine andere Anzahl von gegebenen Antworten (jeweilige Teilstichprobengröße n) aufweisen kann. Die erhobenen Daten zu den Teilnehmenden, deren Lehre und verwendeten Lehrwerken sollen im Weiteren unter folgenden Gesichtspunkten näher aufgeschlüsselt werden:

  • Lehrprofile und demographische Struktur der Musiktheorielehrenden im deutschsprachigen Raum

  • verwendete Lehrwerke im Harmonielehreunterricht

  • Verwendung und Bekanntheit von Fachtermini (teilweise aus der englischsprachigen Harmonielehre)

Lehrprofile der Umfrageteilnehmenden

Im Rahmen der Befragung gab es einen Rücklauf von 361 Antwortbögen, obschon von diesen einige unvollständig ausgefüllt blieben. Knapp 150 Personen machten Angaben zur eigenen Person: Der Großteil der Teilnehmenden ist deutscher (80 %), der kleinere Teil ist österreichischer (13 %) und schweizer (5 %) Nationalität. Lediglich 2 % der befragten Personen teilten mit, anderer Nationalität zu sein.

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Abbildung 1: Nationalitäten der befragten Musiktheorielehrenden (n = 144)

Zudem ist die Mehrheit der Teilnehmenden männlich (82 %).

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Abbildung 2: Geschlechterverteilung der Lehrenden (n = 143)

Das Durchschnittsalter der antwortenden Personen liegt bei 46 Jahren.

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Abbildung 3: Altersstruktur der Lehrenden (n = 136)

Die Angaben zu den Studiengängen, in denen die Befragten lehren, verteilen sich recht gleichmäßig und vornehmlich auf Musiktheorie, Künstlerisches Fach und Lehramt Musik. Weniger als ein Viertel der Befragten unterrichtet Studierende der Musikwissenschaft.

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Abbildung 4: Tätigkeitsschwerpunkte der Lehrenden (n = 149)

Verwendete Lehrwerke im deutschsprachigen Harmonielehreunterricht

Neben der Befragung der Lehrenden nach musiktheoretischen Inhalten im Hochschulunterricht sollten auch die deutschsprachigen Lehrwerke auf bestimmte Fachtermini hin untersucht werden. Dafür galt es, ein möglichst relevantes und gültiges Korpus von aktuell in der Lehre an Hochschulen und Universitäten im deutschsprachigen Raum verwendeten Lehrwerken abzubilden. Demzufolge beinhaltete die Umfrage die Bitte, in einem offenen Eingabefeld verwendete Lehrwerke in der eigenen Lehre einzutragen. 

Es sei vorausgeschickt, dass nicht alle Teilnehmenden bei dieser Frage Lehrwerke nannten – zumindest nicht nur: Gelegentlich wurde erläutert, dass man auf Wissen und Erfahrungen aus der eigenen Studien- und Berufszeit zurückgreife und die Inhalte frei und ohne externes Lehrwerk vermittle. Viele Teilnehmende verwiesen auf eigens erstelltes Unterrichtsmaterial.

Bevor auf die in der Umfrage angegebenen Lehrwerke im Bereich der Harmonielehre genauer eingegangen wird, soll eine Definition eines Lehrwerks versucht werden, um das Korpus besser eingrenzen zu können. Nach Peter Rummenhöllers Artikel »Harmonielehre« in der Musikenzyklopädie Musik in Geschichte und Gegenwart lässt sich ein Lehrwerk der Harmonielehre im heutigen Sinne wie folgt definieren:

Unter Harmonielehren seien [...] jene Lehrbücher verstanden, die – zunächst propädeutisch – von der Struktur der Intervalle, Dreiklänge und Akkorde handeln, um dann zu ihrem eigentlichen Gegenstand, der Verbindung der Akkorde untereinander, dem Verhältnis zwischen den Harmonien zu kommen.[5]

Da nicht alle im Rahmen der Umfrage angegebenen Lehrwerke als Harmonielehren gelten können, wurden die Angaben in folgender Weise vorsortiert: Es wurden nur Bücher betrachtet, die Harmonielehre als Hauptgegenstand und in umfänglicher Weise behandeln. Das heißt, dass sie thematisch möglichst breit aufgestellt sind und sich nicht nur einem einzelnen Themenbereich widmen. Die Fokussierung auf das Fach Harmonielehre hatte zudem zur Folge, dass etwa reine Formenlehre- oder Gehörbildungslehrwerke, die ebenfalls unter den Angaben zu finden waren, ausgeschlossen wurden. Angegebene nicht-deutschsprachige Lehrwerke erscheinen ebenfalls nicht in der Auflistung, da der Fokus explizit auf den aktuellen Stand der deutschsprachigen Lehrtradition gerichtet ist. Doch spielte es keine Rolle, welcher Stilistik die Lehrwerke zuzuordnen sind: Unter anderem in Anlehnung an unterschiedliche musikbezogene Studiengänge wurden zum Beispiel sowohl ›klassische‹ Harmonielehren mit einem behandelten Zeitraum vom 16. bis zum 20. Jahrhundert als auch Jazz-Harmonielehren in das Korpus aufgenommen. Eingang in die Liste fanden Bücher, die ab dem Jahr 1900 erstmals erschienen sind, wodurch noch ältere, historische Lehrwerke hier nicht aufgeführt werden, da insbesondere die moderneren Lehrmeinungen und Unterrichtsmethoden betrachtet werden sollen.

Insgesamt 105 Befragte gaben Auskunft zu den in ihrer eigenen Lehre verwendeten Lehrwerken (unmittelbar oder für die eigene Vorbereitung). Die Nennung von mehreren Werken war selbstverständlich möglich. Solche, die von weniger als drei Personen genannt wurden, fanden keine Berücksichtigung. So ergibt sich eine Rangliste von insgesamt 27 Lehrwerken (Tab. 1). Waren einzelne Angaben zu Werken so unvollständig, dass eine eindeutige Zuordnung nicht zweifelsfrei möglich war, konnten diese ebenfalls nicht in die Zählung aufgenommen werden.

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Tabelle 1: Verwendete Lehrwerke im deutschsprachigen Harmonielehreunterricht (n = 105)

Das meistverwendete Buch ist Diether de la Mottes Harmonielehre. Mehr als ein Drittel der rückmeldenden Personen (36 von 105) verwenden dieses Buch im Rahmen der eigenen Lehrveranstaltungen. Kein anderes Lehrwerk ist auch nur im Ansatz so häufig genannt worden. Bemerkenswert ist, dass sich der größte Abstand direkt zwischen den ersten beiden Listenplätzen zeigt: De la Mottes Harmonielehre wird mehr als doppelt so häufig in der Lehre verwendet wie Ulrich Kaisers Internetplattform www.musikanalyse.net bzw. openmusic.academy. De la Mottes Harmonielehre hat somit bis heute großes Gewicht in der deutschsprachigen Lehre, obwohl es sich um eine relativ alte Publikation handelt. Die fortwährende Relevanz dieser Schrift lässt sich auch anhand der im Jahr 2022 bereits erschienenen 19. Auflage erkennen. Somit findet das Werk seit Generationen Verwendung und besitzt bis heute einen herausragenden und prägenden Stellenwert in der Lehre.

Die zweitplatzierte Lehrplattform von Ulrich Kaiser nimmt ebenfalls eine besondere Stellung ein. Unter den 27 Lehrwerken stellt es die einzige Online-Publikation dar und unterstreicht die zunehmend wichtiger werdende Rolle von open access Online-Veröffentlichungen mit interaktiven Übungsmöglichkeiten, die über die einer Printfassung deutlich hinausgehen.[6]

Zwei Bücher aus den frühen 1990er Jahren teilen sich den dritten Platz: 15,2 % der Befragten verwenden die Harmonik von Gárdonyi/Nordhoff sowie die Harmonielehre im Selbststudium von Thomas Krämer. Letzteres fokussiert auf die Grundlagen der Funktionstheorie und ist somit deutlich traditioneller ausgerichtet.

Auch den vierten Platz teilen sich zwei Lehrwerke, die von 13,3 % der Befragten für die eigene Lehre verwendet werden. Thomas Daniels Buch Der Choralsatz bei Bach und seinen Zeitgenossen nimmt in seiner speziellen Ausrichtung auf den barocken und vornehmlich Bachʼschen Stil eine Sonderstellung ein, wenngleich es immer noch Kriterien eines Lehrwerks der Harmonielehre erfüllt. Reinhard Amons Lexikon der Harmonielehre dagegen ist nicht als pädagogisches Lehrwerk angelegt, sondern präsentiert seine Inhalte in alphabetischer Sortierung. Darüber hinaus erhebt es einen größeren Anspruch auf thematische Vollständigkeit von harmonischen Phänomenen und verbindet Aspekte der Harmonielehre aus sehr verschiedenen Stilistiken und Lehrtraditionen. 

Bei einem der beiden fünftplatzierten Bücher, Arnold Schönbergs Harmonielehre von 1911, handelt es sich um das zweitälteste der genannten und nach 1900 erschienenen Werke. Trotz eines Alters von über 110 Jahren greifen nach wie vor etwas mehr als zehn Prozent der Lehrenden für ihren Unterricht auf das Werk zurück. Die im Vergleich zu Schönbergs Lehrwerk vier Jahre ältere Harmonielehre von Rudolf Louis und Ludwig Thuille rangiert mit 4 % auf dem 12. Platz und ist also bei Weitem nicht so präsent in der aktuellen Lehre. Es bleibt festzuhalten, dass die am häufigsten verwendeten Lehrwerke jüngeren Datums sind und sogar meist nach der Jahrtausendwende veröffentlicht wurden.

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Abbildung 5: Anteil der Nennungen von Lehrwerken (kumuliert), nach Jahr der Erstauflage

Einen Vergleichspunkt bietet im Folgenden die US-amerikanische Studie von Murphy/McConville. Wie es allgemein im angelsächsischen Raum übliche Praxis ist, wird hier zwischen diatonic und chromatic harmony unterschieden. Dementsprechend führen Murphy/McConville die Ergebnisse in zwei separaten Tabellen an:

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Tabelle 2: Häufig verwendete Lehrwerke im US-amerikanischen Raum für diatonic harmony[7]

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Tabelle 3: Häufig verwendete Lehrwerke im US-amerikanischen Raum für chromatic harmony[8]

Bezogen auf das Jahr der Erstauflage der am häufigsten verwendeten Lehrwerke weist die US-amerikanische Studie eine ähnliche Verteilung zur vorliegenden Umfrage im deutschsprachigen Raum auf: Drei der fünf aufgeführten Lehrwerke stammen aus den 2000er und 2010er Jahren, zwei weitere aus den 1970er und 1980er Jahren.

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Tabelle 4: Häufig verwendete Lehrwerke im US-amerikanischen Raum nach Jahr der Erstauflage

Weiterführende Aspekte der Lehre im deutschsprachigen Raum

In der Umfrage wurde um weitere Angaben zu den Seminaren und Lehrveranstaltungen gebeten, beginnend mit der Nennung der in der Lehre verwendeten Theorien und Methoden. Die abgefragten Optionen ›Funktionstheorie‹, ›Stufentheorie‹ und ›Generalbasslehre‹ werden allesamt als Teil der Lehre genannt. Die Funktions- sowie Stufentheorie findet bei rund 80 % der Lehrenden Verwendung, die Generalbasslehre sogar in rund 90 % der Fälle.

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Abbildung 6: Verwendete Theorien oder Methoden in der Lehre (n = 162)

Die Antworten auf die Frage nach der in der je eigenen Lehre vorrangig verwendeten Theorie oder Methode ergaben ein etwas gewandeltes Bild: Ein knappes Drittel der Befragten (31 %) vermittelt primär Funktionstheorie; die Stufentheorie steht nur halb so häufig im Mittelpunkt des Unterrichts. Es mag erstaunen, dass die Generalbasslehre einen so hohen Stellenwert einnimmt, doch ist hier zu bedenken, dass es an vielen Hochschulen nach wie vor ein eigenes Lehrfach ist. Bei knapp einem Fünftel sind weder Generalbasslehre, Funktions- oder Stufentheorie Hauptlehrgegenstand.

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Abbildung 7: Vorrangig verwendete Theorie in der Lehre

Ein weiteres Untersuchungsfeld betraf die Vertrautheit mit Fachtermini aus der deutsch- und englischsprachigen Harmonielehre. Für jeden Terminus wurde nach der Bekanntheit des Begriffs (»[…] ist mir bekannt / nicht bekannt«) gefragt. Im zutreffenden Falle wurde zusätzlich die Verwendung des Begriffs in der eigenen Lehre (»[…] ist Teil meiner Lehre / nicht Teil meiner Lehre«) erfragt. Die Option, nur einzelne oder auch gar keine Termini zu benennen, führte in Einzelfällen zu Schwankungen der Stichprobengröße zwischen n = 186 und n = 194.

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Tabelle 5: Bekanntheit und Gebrauch von Fachtermini im deutschsprachigen Harmonielehreunterricht (n = 186–194)

Der Begriff ›Neapolitanischer Sextakkord‹ fungierte in der Umfrage als Testgröße. Wie zu erwarten war, kannten alle Befragten den Begriff. Bei über 98 % der Teilnehmenden ist der ›Neapolitaner‹ Teil der Lehre. Vergleichbar ist der Terminus ›übermäßiger Quintsextakkord‹. Die in der englischen Lehre differenzierenden Begriffe german, french und italian sixth sind offenbar nicht ganz so bekannt, zudem benutzen über 30 % diese Bezeichnungen im Unterricht nicht. Ein seltener, aber originär deutscher Terminus ist die ›freie Leittoneinstellung‹, der lediglich 70 % vertraut war und nur von der Hälfte davon auch als Lehrgegenstand behandelt wird.

Zwei weitere englische Begriffe wurden in Form ihrer Kurzschreibweisen abgefragt: ›CTo7‹ (common-tone diminished seventh) und ›CT+6‹ (common-tone augmented sixth). Nur etwa einem Drittel der Lehrenden waren diese bekannt – in der Lehre sind sie nur in ca. 10 % bzw. 13 % aller Fälle vertreten. Über den in der englischen Lehre sehr präsenten Begriff modal mixture wussten dagegen gut 70 % Bescheid; etwas weniger als die Hälfte wiederum gab an, ihn auch in der Lehre zu verwenden.

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Abbildung 8: Bekanntheit und Verwendung von Fachtermini im deutschsprachigen Harmonielehreunterricht (= 186–194)

Abschließend soll im Folgenden noch am Beispiel des Begriffs modal mixture auf Übersetzungsprobleme sowie differierende Begriffsauslegungen in den englisch- und deutschsprachigen Lehrwerken eingegangen werden.

Vergleich von englisch- und deutschsprachiger Terminologie am Beispiel von modal mixture

Bei dem Begriff modal mixture handelt es sich um einen englischen Terminus, für den es in der deutschsprachigen Lehre keine eindeutige Entsprechung gibt. Zudem werden unter modal mixture gefasste Phänomene in deutschsprachigen Lehrwerken kaum bis gar nicht behandelt. Bezugnehmend auf die fünf in den USA am häufigsten verwendeten Lehrwerke[9] lässt sich folgende Definition angeben: Modal mixture beschreibt in dur-moll-tonaler Musik die Entlehnung einer Harmonie aus der entsprechenden Varianttonart. Der Einbezug ›ausgeliehener‹ Harmonien dient dabei lediglich dem Zweck harmonischer Färbung und übt in aller Regel keinen Einfluss auf die Funktion des Akkordes aus. Der Gebrauch etwa der Moll-Subdominante in einer Dur-Tonart gibt ein prominentes Beispiel für modal mixture.[10] Wenngleich in der englischsprachigen Literatur gesondert behandelt, könnte ebenso auch die ›picardische Terz‹ unter den Begriff fallen, da die finale Dur-Aufhellung am Ende eines in Moll komponierten Stückes ebenso wenig an der Funktion der Schlusstonika ändert.

Auffallend an den in englischen Lehrwerken gegebenen Definitionen erscheint, dass diese oft unscharf und nicht deckungsgleich sind – was modal mixture zu einem durchaus problematischen Begriff macht. Zudem gibt es allein schon im Englischen zahlreiche Synonyme, wie etwa modal interchange, mode mixture oder borrowed chords. Darüber hinaus wird derselbe Begriff in anderen Genre-Kontexten, etwa im Jazz, different verwendet und beschreibt dort zum Beispiel den Wechsel zwischen modalen Skalen bei der Improvisation.[11] Eine konsistente Definition ist daher kaum möglich und bislang auch nicht in der englischsprachigen Musiktheorie etabliert.[12]

Trotz terminologischer Unschärfe nimmt der Begriff in der englischsprachigen Fachliteratur jedoch eine wichtige Stellung ein und wird in allen der in den USA am häufigsten verwendeten Lehrwerke in eigenen, mehrseitigen Kapiteln behandelt, im Umfang vergleichbar etwa den Ausführungen zum übermäßigen Quintsextakkord oder zu den Septakkorden. In den im deutschsprachigen Raum am häufigsten verwendeten Lehrwerken findet der Begriff dagegen zumeist nur beiläufige Erwähnung.[13] Dabei verwenden deutschsprachige Autoren den Begriff ebenfalls nicht einheitlich, sondern arbeiten mit Synonymen wie auch Umschreibungen:

  • ›Modaler Austausch‹ / modal interchange[14]

  • modal interchange / ›Dur-Moll-Vermischung‹ / ›ausgeliehene Akkorde‹ / borrowed chords[15]

  • ›Erweiterter Variantwechsel‹ / modal interchange[16]

  • modal interchange / ›Austausch gleichnamiger Modi‹ / mixed mode technique / ›Austausch von Akkorden mit gleichem Grundton‹[17]

  • modal interchange[18]

Der Begriff modal interchange kommt dabei am häufigsten vor, wenngleich auch er in unterschiedlicher Weise definiert wird: als Vertauschung von Dur- und Moll-Harmonien gleichen Grundtons, aber auch als Wechsel des Skalenmaterials im modalen Sinne (Kirchentonarten), etwa in der Melodiegestaltung im Jazz.

Dass modal mixture bzw. synonyme Begriffe in der englischsprachigen Lehrliteratur eine prominente Stellung einnehmen, in der deutschsprachigen Literatur hingegen eher am Rande behandelt werden, bedeutet allerdings nicht, dass unter den Begriff subsumierbare Phänomene nicht in anderen Zusammenhängen zum Gegenstand in den deutschsprachigen Harmonielehren werden. Die vorliegende Untersuchung beschreibt und vergleicht lediglich Häufigkeit und Gebrauch des Terminus bzw. seiner Synonyme in den deutsch- und englischsprachigen Lehrwerken.

Resümee

Als Grundlage für einen Vergleich von Inhalten und Fachterminologie in englisch- und deutschsprachigen Harmonielehren wurde mittels einer Umfrage unter Musiktheorielehrenden in Deutschland, Österreich und der Schweiz ein Korpus von 27 häufig verwendeten Lehrwerken ermittelt und die Vertrautheit mit fachspezifischen Begriffen erfragt. Am Beispiel des Begriffs modal mixture wurden Übersetzungsprobleme wie auch differierende Begriffsverständnisse in der englisch- und deutschsprachigen Harmonielehre offenkundig – Differenzen, die auch mit unterschiedlichen Lehrtraditionen und curricularen Anordnungen des Lehrstoffes zu tun haben dürften. Weitergehende Untersuchungen und Vergleichsstudien könnten auf den erhobenen Daten aufsetzen und insbesondere auch den ermittelten Korpus von Lehrwerken weiter nutzen.

Anmerkungen

1

Siehe dazu später den Abschnitt »Vergleich von englisch- und deutschsprachiger Terminologie am Beispiel von modal mixture«.

2

Im häufig verwendeten (vgl. dazu Murphy/McConville 2017) englischen Lehrwerk Music in Theory and Practice von Bruce Benward und Marilyn Saker findet sich folgende Definition: »The term texture refers to the way the melodic, rhythmic, and harmonic materials are woven together in a composition. It is a general term that is often used rather loosely to describe the vertical aspects of music.« (2008, 145) Die Autoren betonen den Nutzen der Verwendung des Oberbegriffs texture: »Although density and range are usually described in relative terms, the description of texture type is much more precise. A number of texture types occur from time to time, but the most common are monophonic, polyphonic, homophonic, and homorhythmic.« (ebd., 147)

3

Eine Ausnahme bildet Reinhard Amons Lexikon der Harmonielehre. Amon verwendet den ins Deutsche übertragenen Begriff ›Textur‹, verweist aber auf die Herkunft aus der englischen Fachsprache. Wie auch im Englischen differenziert er die verschiedenen Texturtypen: monophon, homophon, akkordisch-homorhythmisch, Dreiklangsbrechungstextur, kontrapunktisch, polyphon. Er betont die besondere Bedeutung des »Harmonischen Rhythmus« im Zusammenhang der Textur (vgl. 2005, 108).

4

Murphy/McConville 2017.

5

Rummenhöller 2016.

6

Kaiser plant sogar, die Inhalte von http://www.musikanalyse.net auf der Seite https://openmusic.academy zu implementieren und dort zu einem Wiki weiterzuentwickeln.

7

Murphy/McConville 2017, 202.

8

Ebd., 203.

9

Murphy/McConville 2017.

10

Es sei darauf hingewiesen, dass das englische Wort modal im Terminus modal mixture weder gleichzusetzen ist mit dem deutschen Begriff ›modal‹ im Sinne der modalen Skalen bzw. Kirchentonarten noch mit beispielsweise den Messiaenʼschen Modi.

11

Vgl. beispielsweise Persichetti 1961, 38.

12

Bezüglich der Definitionsproblematik vgl. Gotham 2023. Gotham hat ein Werkkorpus u. a. bezogen auf den Begriff modal mixture mithilfe computergestützter Methoden untersucht.

13

Amon 2005; Haunschild 1988; Hempel 2014; Wünsch 2009; Sikora 2009.

14

Amon 2005, 395.

15

Haunschild 1988,130.

16

Hempel 2014, 322.

17

Wünsch 2009, 205.

18

Sikora 2009, 174–200.

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