Polymodal oder multiperspektivisch?
Analytische Überlegungen zu Strawinskys Le sacre du printemps
Andreas Winkler
Ob eine Komposition wie Le sacre du printemps tonal oder atonal, polymodal oder polytonal oder auch post- oder antitonal verfasst sei, scheint mir eine der zentralen Fragen an die Musik der Jahre vor 1914 zu sein – und natürlich kann sich dieser Frage nur eine vorwiegend auf die Harmonik fokussierte Betrachtung annehmen. Dieser Aufsatz nähert sich daher zunächst der Harmonik des Sacre im Stil einer präanalytischen ›Inventur‹ und versucht diese vor allem vom Gehör ausgehend zu entschlüsseln sowie zur ganz anders gearbeiteten Melodik in Beziehung zu setzen. Es soll partiell mit Blick auf die Tonfeld-Theorie nach Albert Simon und Bernhard Haas gearbeitet werden, zudem in Anschluss an analytische Beobachtungen u. a. Pieter van den Toorns, Peter Hills, Richard Taruskins, Felix Baumanns oder Hans-Peter Reutters. Daraufhin wird der Versuch unternommen, das spannungsvolle Auseinanderdriften linearer und vertikaler Elemente im Sinne eines ›musikalischen Kubismus‹ Strawinskys zu deuten; dies verweist auf den analytischen Kubismus in der zeitgleichen Malerei Picassos oder Braques. Die vom Gehör gestützte Herleitung eines solchen ›Kubismus‹ aus den tonalen (und zeitlichen) Strukturen des Werkes ist trotz lohnender Einsichten etwa von Wolfgang Burde und Dmitri Tymoczko nicht nur neuartig, sondern naheliegend im Sinne des überkommenen, aber immer noch zutreffenden Topos, dass Kunst (also auch Musik) Ausdruck ihrer Zeit sei.
Whether a composition such as Le sacre du printemps is tonal or atonal, polymodal or polytonal, or even post- or antitonal, seems to me to be one of the crucial questions about the music of the years before 1914 – and of course this question can only be answered with an approach that focuses primarily on harmony. This article therefore approaches the harmonies of Le sacre in the style of a pre-analytical ›inventory‹ and attempts to understand them primarily by ear and to relate them to the completely different melodic structure. The analysis is based in part on the so-called ›Tonfeld-Theorie‹ of Albert Simon and Bernhard Haas as well as on analytical observations by Pieter van den Toorn, Peter Hill, Richard Taruskin, Felix Baumann and Hans-Peter Reutter and others. Thereupon an attempt is made to interpret the conflict between linear and vertical elements in terms of Stravinsky’s ›musical cubism‹. This refers to the analytical cubism in the contemporaneous painting of Picasso or Braque. Despite worthwhile insights from Wolfgang Burde and Dmitri Tymoczko and others, the aurally supported argument for such ›cubism‹ from the tonal (and temporal) structures of the work is not only innovative, but also obvious in the sense of the inherited but still valid topos that art (and thus also music) is an expression of its time.
Einleitende Gedanken
Als chef d’œuvre des zwanzigsten Jahrhunderts bietet Le sacre du printemps Neues auf nahezu allen musikalischen Terrains, und der ›Impakt‹,[1] den diese Komposition seinerzeit verursachte,[2] dürfte nicht nur den interessanten rhythmisch-metrischen Neuerungen, sondern auch seiner Eigenständigkeit hinsichtlich anderer musikalischer Gestaltungsaspekte geschuldet sein.
Es scheint verlockend, andere musikalische Parameter dem Rhythmus auch sprachlich unterzuordnen, so etwa in Christoph Flamms Analyse des ›Auguren‹-Satzes, wo sich »dissonante Wildheit unaufhaltsam Bahn trampelt«.[3] Jedoch dürfte namentlich der kratzbürstigen Harmonik und der provokativen Dissonanzbehandlung ein Anteil sowohl am berühmten Uraufführungsskandal[4] als auch an der nachhaltigen Wirkung des Stückes zuzuschreiben sein.[5]
Die Streitigkeiten und bisweilen Animositäten zwischen den Forschern sowie die offenbar erheblichen Schwierigkeiten, welche die Theorie zu meistern hat, um der speziellen Klanglichkeit des Sacre (»a kind of Mount Everest to analysts«[6]) beizukommen, hängen wohl mit jenem persistent hohen Dissonanzgrad der Komposition zusammen;[7] und so besteht in der Forschung keine Einigkeit darüber, ob der Sacre tonal, atonal, freitonal, non-tonal oder polytonal verfasst sei.
Eine Deutung mit Hilfe der pitch-class set theory – einem Tool für die Analyse sogenannter ›atonaler‹ Musik – hat Allen Forte vorgelegt und versucht, sämtliche herrschenden Tonbeziehungen innerhalb des Sacre zu erklären, seiner Leserschaft so suggerierend, das derart analysierte Werk sei als ein atonales aufzufassen.[8] Andere Forscher diagnostizieren hingegen einen »strong sense of tonal gravity«[9] oder eine Tonalität »deliberately turned on its head«.[10] Pierre Boulez wiederum scheint sich für Fragen der Harmonik kaum zu interessieren.[11]
Zielt Peter Hills Analyse auf Ergründung von Form und Struktur dieses Werks,[12] führt Pieter van den Toorn in seiner harmonischen Analyse den Großteil des Tonmaterials im Sacre auf die ›Oktatonik‹ zurück.[13] Offenbar wird die Oktatonik allgemein nicht direkt mit Tonalität konnotiert, was mit der immer noch populären, aber inkorrekten Gleichung ›tonal = diatonisch‹ zusammenhängen könnte, und Van den Toorn selbst betont, der Sacre sei »unquestionably non-tonal«.[14] In jüngerer Zeit postulieren Dmitri Tymoczko und Hans Peter Reutter in Abkehr von vorwiegend oktatonischen Diagnosen, bedeutender für die Komposition des Sacre seien »modale und mollare Skalen, letztere häufig im Sinne eines Tonvorrates, der die 9 Töne des melodischen und natürlichen Molls verwendet«,[15] was eine mehr tonale oder auch modale Deutung impliziert. Beide Ansätze, sowohl der ›oktatonische‹ als auch der ›mollare‹, gehen von den verwendeten Tonvorräten aus.
Nicht erst seit Albert Simons Entwicklung der Theorie der Tonfelder (in der Darstellung von Bernhard Haas[16]) ist bekannt, dass ›distanziell‹ strukturierte, also auf symmetrischer Teilung der Oktave basierende Tonvorräte ebenso Tonalität generieren können wie diatonisch strukturierte. Ein oktatonischer Tonvorrat entspricht zunächst rein quantitativ Messiaens zweitem Modus – oder dem Tonfeld einer Simon’schen ›Funktion‹. Auch eine oktatonische Deutung des Sacre wie diejenige Van den Toorns dürfte in diesem Lichte gegen den Willen ihres Schöpfers durchaus als tonales Erklärungsmodell genommen werden.
Viele Analysen sind intensiv auf den Satz Les augures printaniers und ihren zentralen Akkord fokussiert[17] – in der stillschweigenden Voraussetzung, man habe es hier mit einem pars pro toto des gesamten Sacre zu tun. Den anderen Sätzen wird, so hat es den Anschein, seltener gebührende Beachtung geschenkt.[18] Jener ›Auguren‹-Akkord [19] als erster eigentlicher Mehrklang des Stückes ist fraglos von höchster Relevanz[20] – Hill bezeichnet ihn als »Stravinsky’s point of departure«[21] –, aber es ereignen sich im Sacre so ungeheuer viele Dinge (etwa in beiden so völlig andersartigen Introduktionen oder den reizvollen langsamen ›Mittelsätzen‹), dass sich ein längerer und genauerer Blick in die Sätze jenseits von Les augures printaniers unbedingt lohnt. – Die Bezeichnung der Akte und Sätze soll im Folgenden der Systematik ›römische Ziffer = Akt‹ und ›arabische Ziffer = Satz‹ folgen.[22]
Eine harmonische Inventur
Im harmonischen Bestand des Sacre zeigt sich zunächst eine Reihe von Kernakkorden (Abb. 1), deren jeder üblicherweise einem Abschnitt der Komposition, meist genau einem Satz oder einem bestimmten Formteil eines Satzes, seinen Stempel aufprägt. Einige dieser Akkorde tauchen in anderen Passagen mehr oder weniger wörtlich wieder auf. Alle Kernakkorde enthalten den ›klingenden Halbton‹[23] in Form von großer Septime bzw. verminderter Oktave, seltener als kleiner Sekunde oder None; es handelt sich um eine den Sacre konstituierende Tonbeziehung, die bereits in der Introduktion vorgestellt wird.[24] Es fällt ins Auge, dass alle zwölf möglichen ›klingenden Halbtöne‹ im Rahmen der Kernakkorde tatsächlich ausgeschöpft werden, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung und variablem tonalen Zusammenhang.[25]
Abbildung 1: Kernakkorde des Sacre, zumeist zu Beginn des jeweiligen Satzes erklingend und in dasselbe Register versetzt
Die meisten Kernakkorde des Sacre sind als ›mehrstöckig‹ zu bezeichnen, d. h. sie lassen sich nicht sinnvoll durch Terzschichtungen darstellen, sondern können prima vista als polytonale Strukturen wahrgenommen werden, wie auch in der Literatur mit Blick auf den frühen Strawinsky öfter von Polytonalität (oder auch von Polymodalität) die Rede ist.[26] Diese mehrstöckigen, überwiegend sechs- oder siebentönigen zentralen Akkorde scheinen mehrheitlich aus einer Art ›erweiterten Oktatonik‹[27] hergestellt (und somit nicht polytonal) zu sein. Deuten wir jedoch die Oktatonik in die genuin harmonische Funktion der Tonfeld-Theorie um, so lassen sich die Mehrklänge als ›erweiterte Funktionsklänge‹[28] interpretieren (siehe in Abb. 2 die Kennzeichnung als ›Fkt.‹).[29]
Nach Darstellung von Bernhard Haas kennt Albert Simons Theorie[30] drei Arten von Tonfeldern: Quintenfeld, ›Funktion‹ und ›Konstrukt‹. Ein Quintenfeld umfasst drei bis neun Töne im Quintabstand (etwa die fünf Töne umfassende Pentatonik, z. B. c-g-d-a-e), eine ›Funktion‹ vier Grund- und vier Quinttöne im Abstand einer kleinen Terz (z. B. c-es-fis-a als Grundtöne und g-b-cis-e als Quinttöne) und ein ›Konstrukt‹ drei Grund- und drei Quinttöne im Abstand einer großen Terz (z. B. c-e-gis als Grundtöne und g-h-dis als Quinttöne). Funktion und Konstrukt setzen Enharmonik voraus. Nach Simon und Haas kann ein einzelner Akkord wie auch eine ganze (Tonfeld-)Komposition mehr als nur einen Grundton haben.
Abbildung 2: Kernakkorde des Sacre (Auswahl) mit Deutungsversuchen im Sinne der Tonfeld-Theorie
Den Funktionsakkorden werden in der Regel ein oder zwei ›Störtöne‹ (in Abb. 2 bedeutet ›+1‹ einen Störton, ›+2‹ zwei Störtöne) beigemischt, was den Analysierenden aber in Erklärungsnot bringt, inwiefern denn der eine Ton als funktionseigen und ein anderer als ›störend‹, also funktionsfremd, bezeichnet werden kann. Oder anders ausgedrückt: Inwiefern können diese Akkorde überhaupt adäquat mit Simon’scher Funktionstheorie (und damit, vice versa, mit US-amerikanischer Oktatonik[31]) beschrieben werden – ein Problem, dem zweifelsohne mit einem einzigen Satz kaum beizukommen ist. Allerdings enthüllen einige dieser Klänge bisweilen ihre Herkunft aus den Funktionsklängen, indem sie die ›Störtöne‹ abstreifen (so etwa in I,2), als reinige sich der jeweilige Funktionsakkord vom unfunktionalen Beiwerk und zeige sich so in vertrauterer Gestalt. Mir scheint, das rechtfertigt eine theoretische Annäherung mit Hilfe der Tonfeld-Theorie als Analyse-Provisorium.
Es werden im Sacre die meisten zentralen Zusammenklänge oft genug wiederholt,[32] sodass man sich relativ schnell mit ihnen höranalytisch ›anfreunden‹ kann. Dies gilt am allermeisten für den berühmten ›Auguren‹-Akkord aus Les augures printaniers (I,2),[33] über den ich in Anlehnung an die meisten mir bekannten Analysen als erstes reflektieren möchte. Konstituierend für diesen Klang (siehe Abb. 2) ist zunächst die Dissonanz fes/es zwischen Bass und Sopran – ein ›klingender Halbton‹ ‒, zudem der dominantisch wirkende Es-Dur-Quintsextakkord, was im Verbund mit fes einen um 1913 längst bekannten fünftönigen Funktionsklang (einen ›Beta-Akkord‹[34]) ergibt.
Die Freude über diesen Fund trübt sich schnell, wenn man die ebenfalls vorhandenen Töne as und ces in Betracht zieht, die natürlich beide im reinen Funktionsklang nichts verloren haben, da sie weder Grund- noch Quintton sind. Man könnte von einem bitonalen Komplex sprechen: Es-Dur + Fes-Dur, wobei erstere Tonart ›von oben herab‹ gehört würde und letztere vom Bass aus. Das ›gewichtende‹ Ohr[35] hingegen fasst es als Grundton, as und ces jedoch als ›Kolorit‹ auf, bezeichnenderweise in die tiefe Mittellage gesetzt, deutlich in Nebenstimmen untergebracht und obendrein in wenig präzis hörbarem Register.[36]
Abbildung 3: ›Auguren‹-Akkord und Skalenformen (›Kalindra‹ und ›harmonisch as-Moll‹)
›Horizontalisiert‹ wiederum ergeben die Akkordtöne eine siebentönige Skala (Abb. 3), die Daniel Chua als ›Kalindra‹[37] über es bezeichnet. Das Problem an dieser Sichtweise ist, dass zwar der Tonvorrat vorderhand in eine sinnvolle und bekannte Ordnung gebracht wird, aber damit keineswegs eine qualitative Gewichtung verbunden sein muss: Denn ist es der Grundton der Skala? Oder müsste man nicht eigentlich, klassischeren Modellen folgend, as als Grundton postulieren, indem man die Skala nach ›harmonisch as-Moll‹ umgewichtet?[38] An diesem Punkt gerät jedoch die skalenbezogene Auffassung mit der Deutung per aurem in Konflikt,[39] derzufolge es als Grundton und as als Nebennote im Unterbau des ›Auguren‹-Akkords begriffen werden.
Dieser (harmonisch-mollare) Tonvorrat, aus welchem der ›Auguren‹-Akkord gebaut ist, stimmt offensichtlich mit keinem der bisher bekannten Tonfelder überein, umschließt vielmehr drei mögliche Tonfelder: das ›Konstrukt IIa‹ (vgl. Abb. 4, dort durch Gabeln angedeutet), eine ›Funktion‹ auf es mit fünf von acht Tönen (in Abb. 4 durch Sternchen gekennzeichnet) sowie zwei einander überlappende ›Enneatone‹ (fes/c und ces/g). Klanglich wäre eine Deutung als wie auch immer gearteter Auszug aus der Quintenreihe wenig überzeugend, eine Überlagerung von Funktion und Konstrukt hingegen ist denkbar: Funktion als klangliches Skelett, Konstrukt als beigemischte ›Störung‹; eine Arbeitshypothese, die vielleicht auch für weitere Kernklänge des Sacre, die ja von einem gewissen Ähnlichkeitsprinzip durchdrungen sind, akzeptabel erscheinen könnte.[40]
Abbildung 4: ›Auguren‹-Akkord, dargestellt als Ausschnitt aus dem Quintenband (nicht enthaltene Töne markiert mit x-förmigem Notenkopf)
Ich möchte mich aber noch von einer anderen Seite dem Bauprinzip der Sacre-Harmonien nähern. Fügt man drei Töne innerhalb einer Oktave unter Vermeidung von Clusterbildung zu einem möglichst dissonanten Klang zusammen, so ergeben sich zwei hinsichtlich ihrer Bauart einander ähnelnde Möglichkeiten: Quarte + Tritonus oder umgekehrt, die sich zu einer großen Septime addieren (Abb. 5).[41]
Abbildung 5: Dissonante Strukturen
Diese beiden Klänge bezeichne ich vorläufig und hilfsweise als ›dissonante Strukturen‹,[42] wobei der wohl schärfer dissonierende der beiden derjenige mit dem Tritonus in Relation zum tiefsten Akkordton[43] (und sekundärer Quarte) ist.[44] Die meisten Klänge des Sacre beinhalten wenigstens eine solche ›dissonante Struktur‹.[45]
Abbildung 6: Zwei tritonusversetzte Quarten
Legt man beide Versionen der dissonanten Struktur ›ineinander‹, so ergibt sich ein Simon’scher Funktionsklang in Form zweier um einen Tritonus versetzter Quarten bzw. je zweier Grund- und Quinttöne (Abb. 6). Ein derart harscher, eher magerer Vierklang kommt im Sacre zwar nicht vor – die Kernakkorde sind reich gesetzt und tragen das Erbe terzenbasierter Akkorde noch in sich –, aber in der rhythmisch ziemlich komplizierten Glorification de l’élue (II,3) sind beide Versionen der dissonanten Struktur als ›verpartnerte‹ Wechselakkorde gesetzt (Abb. 7).
Abbildung 7: Figurierter Kernakkord in Glorification de l’élue (Beginn von II,3)
In II,3 entwickelt Strawinsky aus dieser ›Verpartnerung‹[46] eine quasi-motivische Zelle (Abb. 8): Es entsteht eine kleine diatonische Melodie, harmonisiert durch nach einem gewissen Ähnlichkeitsprinzip gebaute Klänge (›dissonante Strukturen‹). Ganz gleich jedoch, wie sehr diese teilweise noch angereicherten ›dissonanten Strukturen‹ in sich unauflösbar hart dissonieren, so bleibt doch die Stimmführung für alle Beteiligten per se ziemlich diatonisch (in verschiedenen meist mollaren Skalen), was diese Akkordfolgen in die Nähe ungenauer Mixturen oder eines ›verrückt gewordenen‹ Fauxbourdon platziert. Von Wechselakkorden wiederum darf deshalb gesprochen werden, weil es in diesem Abschnitt von II,3 keine Fortschreitung zu geben scheint; die rauen Harmonien wirbeln um ein einziges Gravitationszentrum (Ton a). Der B-Teil (ab dem Wechsel[47] der Vorzeichung zu 5) hingegen bezieht sich klar auf den Zentralton b – man könnte meinen, der B-Teil sei ein breitest auskomponierter Wechselakkord zum auf a bezogenen A-Teil.
Abbildung 8: Skizze der Skalen und Akkorde in Glorification de l’élue (II,3)
Auch an anderen Stellen lässt Strawinsky den jeweiligen Kernakkord mit einem Wechselakkord, etwa als harmonisierter Wechselnote, alternieren (vgl. Abb. 1); und das charakteristische Auf-der-Stelle-Treten im Sacre innerhalb der meisten Abschnitte der Komposition ist oft auf ein solches Alternieren zurückzuführen.
Für die Klanglichkeit des Sacre typisch ist offenbar die Erweiterung oder ›Entstellung‹ bestimmter, in der Musik um 1912 verbreiteter, oft funktioneller Harmonien, die u. a. von Rimski-Korsakow und Debussy – Strawinskys wichtigsten Einflüssen – bereits bekannt waren, sodass der Sacre auch als Emanzipationsschritt von diesen beiden Vorbildern gedeutet werden kann.
Ein Seitenblick auf Modi, Motive und Melodien im Sacre
Wäre der Sacre – immerhin Strawinskys bedeutendster Beitrag zur frühen Moderne – rein horizontal, also gewissermaßen einstimmig dimensioniert, so würde sich uns das überraschende Bild fast vollständig diatonischer Musik bieten, als haftete diesem Werk der Ruf der Modernität zu Unrecht an.
Mit Blick auf die enorme Fülle an Literatur besonders zu diesem Thema möchte ich mich hier kurzfassen und verweise exemplarisch auf die übersichtliche, analytisch hervorragende Motivtafel zu Les augures printaniers (I,2) bei Felix Baumann.[48] Was die dort gezeigten und besprochenen melodischen Elemente angeht, liegt es zwar nahe, von ›russischen Motiven‹ zu sprechen, so wie es das Sacre-Sujet der »Bilder aus dem heidnischen Russland« suggeriert. Die diesen Motiven[49] zugrundeliegenden Modi sind jedoch keineswegs exklusiv russisch oder gar heidnisch, sondern lassen sich für Westeuropäer im Gegenteil als unsere altehrwürdigen Kirchentonarten verstehen.
Die meisten Motive scheinen allerdings archaisierend über die Kirchenmodi zurückzuweisen; in ihnen erscheint das Material der diatonischen Skalen weiter eingeengt auf vier oder fünf Töne, meist auf ein unspezifisches, tonal oder modal mehrdeutiges Tetrachord, das aus den Tonsilben re-mi-fa-sol besteht (Abb. 9).[50] Für dieses Tetrachord schlage ich wegen seiner jeweils prominenten Verwendung der Tonsilbe re den Namen ›Re-Tetrachord‹ vor.[51] Es ist natürlich beliebig transponierbar. Als Ausschnitt aus dem Quintenband dargestellt, ergibt sich ein ›Hexaton‹ mit einer Breite von sechs Tönen = fünf Quinten (es fehlen do und la). Die diatonischen Motive des Sacre scheinen überwiegend aus diesem hexatonischen Stoff gemacht; sie meiden den Tritonus in der Regel, vielleicht als eine Art noli me tangere, als hier unerwünschtes Relikt der gerade zu Ende gegangenen ›diatonisch-funktionalen‹ Epoche. Die seinerzeit populäre Pentatonik spielt ebenfalls keine große Rolle.
Abb. 9 ›Re-Tetrachorde‹ mit Kennzeichnung des Halbtonschritts
Die Motive, wenn sie denn als solche bezeichnet werden sollen, scheinen keinen rechten Anfang und kein Ende zu haben,[52] so als ob sie kurz aus dem Vorbewusstsein heraufdämmerten, um dann wieder darin zu versinken. Damit einher geht eine gewisse Anonymität[53] des melodischen Materials, die mit dem fast völligen Mangel an melodischem espressivo und prägnanten ›Themen‹ im Sinne des 19. Jahrhunderts korreliert. In dieser speziellen Art von Motivarbeit gibt es nach allgemeiner Ansicht kaum Entwicklung des Materials – mit anderen Worten: Das Stück ist bloß, es wird nicht.[54] Solche Eigenschaften des Sacre lassen sich unschwer mit dem paganen Sujet des Werkes in Verbindung bringen, welches quasi aus dem Dunkel des prähistorischen Unterbewusstseins ans Tageslicht der Moderne hervorimaginiert werden soll. Dass dies mit einem Wechsel nicht nur der musikalischen, sondern auch der allgemein künstlerischen Perspektive einhergeht, soll weiter unten dargelegt werden.
Vertikal versus horizontal – Deutungsversuche
Adorno konstatierte in seiner Philosophie der neuen Musik: »Es herrscht […] in dem der Klangoberfläche nach radikalsten Werk Strawinskys ein Widerspruch zwischen der gemäßigten Horizontale und der verwegenen Vertikale«.[55] Das ist nicht nur Adorno-typisch gut formuliert, sondern zweifellos richtig, kommt es doch im Sacre zu erheblichen und dauernden Konflikten zwischen Melodik und Harmonik,[56] die beständig in »productive tension«[57] zueinanderstehen.
Die Erläuterungen im Abschnitt »Ein Seitenblick auf Modi, Motive und Melodien im Sacre« haben über die Beschaffenheit des melodischen Materials reflektiert, und am Beispiel des ›Auguren‹-Akkordes wurde bereits in die harmonische Analyse eingestiegen (siehe dazu den Abschnitt »Eine harmonische Inventur«). Dort hatte ich die Behauptung aufgestellt, das Ohr habe es als Grundton des Akkordes verstanden, war eine Beweisführung jenseits der subjektiven Hörerfahrung jedoch schuldig geblieben. Diese gelingt auch erst, wenn man vertikale und horizontale Aspekte der Komposition zusammenbringt (siehe dazu Abb. 10).[58]
Abbildung 10: Elemente der Tonalität in Les augures printaniers (I,2)
Der Ton es ist offenbar Grundton, wie nicht nur die Vorzeichnung suggeriert, sondern auch seine Beziehung zum Großteil des melodischen Arsenals, das sich um b als Quintton zu es schart und so den lokalen Grundton erst hörbar macht. Hinzu kommen die freilich auf ›derselben Achse‹ liegenden C-Dur-Einschübe,[59] beide mit deutlich funktionalem ›Aroma‹: bei Ziffer 16 allerdings über Quinten-Ostinato, bei Ziffer 25 als Untermalung der mixolydisch wirkenden Melodie, basierend auf einem Re-Tetrachord. Eigentliche Poly- oder Bitonalität scheidet – man ahnte es längst – für den ersten Teil von I,2 aus, denn es ist über weite Strecken der Grundton des melodischen wie harmonischen Materials.[60] Während die Harmonik mit erweiterten Funktionsklängen arbeitet, verbleibt die Melodik ganz überwiegend in der ›alten‹ Welt einer reduzierten Diatonik: in einem anderen Modus. Beide Ebenen (Harmonik und Melodik) beziehen sich aber auf einen gemeinsamen Grundton, eine lokale Tonika, die sich in zwei grundverschiedene Aspekte entfaltet und so musikalische Balance erzeugt:[61] Das Ergebnis dieser Kompositionstechnik könnte man vielleicht mit aller gebotenen Vorsicht als Polymodalität bezeichnen.[62]
Etwas anders konstruiert sind die Rondes printanières (I,4), deren Reigen in einem sehr stabilen, dorisch klingenden und notierten es-Moll-Feld beginnt (Abb. 11): Die Modalität ereignet sich im harmonischen Satz. Das erste melodische Motiv hingegen steht in mixolydisch gefärbtem Es-Dur; Harmonie und Melodie zusammen beziehen sich – ähnlich wie in I,2 – auf den gemeinsamen Grundton es und zelebrieren g/ges, den ›klingenden‹ bzw. diesmal querständigen Halbton. Die Mixturklänge aus I,2 (Ziffer 28 + 4 Takte: dort als Trompeten-Choral) tauchen um einen Ton verschlankt wieder auf (Ziffer 50 + 2 Takte) – nun vor allem in den Bratschen.
Abbildung 11: Melodisch-harmonische Skizze des ersten Abschnitts von Rondes printanières (I,4)
Bei Ziffer 53, der nach Adorno »schreckhafteste[n] Stelle«[63] des gesamten Sacre, erweitert sich der eigentlich simple Akkord mit Hilfe wuchtigster Instrumentation zu einem auffällig scharfen Sechsklang.[64] Ein bitonaler Hauch,[65] bestehend aus es-Moll und G-Dur (bzw. G7) ohne Grundton, könnte man meinen, somit ›Konstrukt Ib‹. Im Grunde handelt es sich aber um die Skala ›harmonisch es-Moll‹ (abzüglich der IV = as), in die Vertikale ›umgefaltet‹,[66] während nach wie vor die Hauptstimme (die Bläsermelodie aus I,2) unverändert das Re-Tetrachord auf der V beibehält. Dies involviert indirekt mehrere sukzessive und simultane Querstände.[67]
Die – korrekte – quantitative Tonvorrat-Analyse kann bereits für den darauffolgenden Klang keine Gültigkeit mehr beanspruchen, da wir analog zur Stimmführung drei selbstständige Schichten wahrnehmen können: zuunterst nach wie vor die Ostinato-Schicht in es-Dorisch; in mittlerer Lage die vor allem in den Hörnern konzentrierte ›eigentliche‹ neue Akkordschicht[68] – dieser ›Hauptanteil‹ ist ein (funktionaler) Beta-Akkord und bewegt sich halbtönig abwärts;[69] oben die bis zu einem gewissen Grade beides zusammenhaltende, bekannte Melodieschicht, sowohl Dorisch als auch Funktion (Abb. 12). Das wirft die Frage auf, ob die Deutung des Hauptakkords als aufwärts gefaltete harmonische Moll-Skala die einzig richtige sei. Da nämlich das Ostinato als tonikaler Orgelpunkt aufgefasst werden kann, liegt es nahe, die darüber liegende Akkordschicht als dominantisch zu interpretieren. Hinzu kommt der ›Störton‹ ges, den man jedoch als Teil einer Unterterzung der Melodie begreifen kann. Ohne diesen einer anderen Schicht zugehörig scheinenden ›Störton‹ bleibt der ›Kernklang‹ des Satzes funktional, und er bewegt sich so auch weiter. Der zugehörige Wechselakkord ist, so gesehen, nach Simon tonikal – überraschenderweise also in Übereinstimmung mit (tonikalem) Ostinato und (ebenfalls tonikaler) Melodie. Abermals mischt ein ›Störton‹ mit: as, der sich aus der Unterterzung der Melodie ergibt. Für eine solche Deutung spricht auch die relativ solide tonale Verankerung dieser Stelle in Bass und Melodie.[70] Danach bewegt sich der Pulk langsam weiter: die Einzelstimmen der mittleren Schicht mal halb-, mal ganztönig, die Beta-Struktur aber konsequent beibehaltend. Ostinato und Melodie bleiben, gewissermaßen in sich kreisend, gleich. In dieser Deutung bleibt ›harmonisch Moll‹ nach wie vor gültig und fungiert als Hill’scher »point of departure«;[71] aber die Schichten bewegen sich von diesem Ausgangspunkt fort und generieren deutlich hörbar miteinander interagierende Tonfelder. Es findet keine Fortschreitung im eigentlichen Sinne statt, weil das Ostinato das harmonische Geschehen erfolgreich an sich bindet. Allerdings stellen die letzten fünf Klänge des Abschnitts eine echte Fortschreitung dar. Es handelt sich um eine Kadenz (t-D-S-D-T) im Simon’schen Sinne: Die alternativ als Grundtöne aufzufassenden Noten werden in Abbildung 12 mit x-förmigen Notenköpfen angezeigt, wobei es und a als Tonika-Grundtöne angenommen werden.
Abbildung 12: Skizze der harmonischen Situationen im Verlauf von Rondes printanières (I,4)
Im Lichte dieser Betrachtungen ist die Horizontale nicht, wie Adorno postuliert, ›gemäßigt‹, sondern ›ganz alt‹, ähnlich wie die Vertikale vielleicht ›verwegen‹, aber sicherlich ›ganz neu‹ ist.[72] Genauer gesagt, ist das eigentlich ›ganz Neue‹ am Sacre die dissoziative Organisation von verschiedenartigem horizontalem und vertikalem Material, namentlich das beständige Neben- und Übereinander-Setzen kirchenmodaler bzw. diatonischer sowie komplexer, erweitert ›neu-funktionaler‹, bisweilen brachial-dissonanter Tonwelten.[73]
Es muss betont werden, dass die Sacre-Harmonik mit ihrem In-Beziehung-Setzen von vertikalen und horizontalen Elementen der Komposition an dieser Stelle und mit diesen Mitteln nicht komplett erklärt werden kann. Zwar funktionieren die Harmonien mancherorts wie angedeutet als ›Fläche‹, doch die Tonsprache dieses Werks wird auch anteilig von harmonischen Strecken geprägt,[74] die wir als Fortschreitungen[75] im klassischen Sinne verstehen sollten. Ob auch die harmonische Fortbewegung von Satz zu Satz (vgl. Abb. 2) im eigentlichen Sinne als Fortschreitung bezeichnet werden darf, sei hier nicht weiter erörtert. Fragen wie diese könnten aber durch eine »Harmonielehre« zum Sacre[76] beantwortet werden, die bis heute ein Desiderat ist.[77]
Le Sacre du printemps im Kontext der frühen Pariser Moderne – Gedanken und Bemerkungen über Strawinskys ›Kubismus‹
Die Vorgehensweise des Komponisten in Rondes printanières (I,4) könnte man als Änderung der kompositorischen Perspektive bezeichnen, wenigstens insoweit, als Elemente, die üblicherweise der Horizontale zugehören, also aufs Stärkste mit dem Faktor Zeit konnotiert sind, nun in die Vertikale gebracht sind: Nachzeitiges erklingt gleichzeitig, Sukzessives erklingt simultan – ein Vorgehen, das ich als ›Falten‹ bezeichnen möchte. Hier scheint eine Analogie zur polymodalen Anlage von I,2 auf, denn auch dort handelte es sich um eine in einen komplexen Akkord ›gefaltete‹ Moll-Skala. Die Idee der Umwälzung genuin horizontalen Materials in die Vertikale wird in Action rituelle des ancêtres (II,5) weiterentwickelt (Abb. 13). Auffallend an diesem Satz ist zunächst sein ›orientalischer‹ Gestus: Das Englischhorn, scheinbar ein Ritual beschwörend, taucht aus der ›Tonmasse‹ auf, bald von der Altflöte mit ihrer Umspielung des c zu einem pas de deux aufgefordert. Die ›Tonmasse‹ es-Moll wird auch hier zum Akkord ›gefaltet‹. Der oft wiederholte Fünfton-Klang erinnert deutlich an den diatonischen ersten Kernklang der Rondes printanières (I,4). Ergänzt wird er durch die Haupttöne der beiden Soloinstrumente as und c. Zusammen ergeben sie die Skala ›melodisch es-Moll‹.
Abbildung 13: ›Harmonisch es-Moll‹ in Action rituelle des ancêtres (II,5), Ziffer 130
Dahinter steckt aber mehr. Der ›gefaltete‹ es-Moll-Mehrklang wird zunächst quasi tonikal gehört, wobei d im undeutlichen Bass bestenfalls als ›Störton‹ aufgefasst wird.[78] Das Englischhorn wirft as ins Geschehen, hörbar zunächst als IV. Zusammen mit d im Bass, interpretierbar als Leitton, und f in der Oberstimme entsteht der Eindruck eines verzerrten Dominantseptakkords, obgleich der es-Moll-Mehrklang ostinat weiterläuft. Die Perspektive verschiebt sich abermals, sobald die Altflöte c ergänzt und damit überraschend as stabilisiert. Der entstehende Klang könnte als Dominantseptnonakkord in Es-Dur bzw. es-Moll verstanden werden, bestätigt sich aber als solcher nicht. Der weiter ausgehaltene Akkord scheint in den Hintergrund zu rücken und gibt eine Art ›Grauton‹ zum nun zentral gehörten Ton as ab. Diese Änderung in der Wahrnehmung hat offenbar mit der ostinaten Wiederholung des jetzt zur Begleitung deklassierten Akkordes zu tun, an den wir uns mittlerweile als ›Hintergrundstrahlung‹ gewöhnt haben.
Es liegt nahe, eine solche Tonarchitektur mit Techniken der ungefähr zeitgleich entwickelten kubistischen Malerei zu vergleichen.[79] Die erste, von Georges Braque[80] und Pablo Picasso[81] geprägte Hochphase kubistischer Malerei (ca. 1909–1912) wird auch ›analytischer Kubismus‹ genannt.[82] Im analytischen Kubismus werden, vereinfacht gesagt, Gegenstände oder Personen aus verschiedenen Augenwinkeln gemalt, so dass sie als erweiterter Ausschnitt einer zu denkenden Totalen verstanden werden können: also aus einer multiplen Perspektive. Anders ausgedrückt: Dem analytischen Kubismus geht es um die Gestaltung des Raumes durch Zerstückelung und Neuzusammensetzung der im Raum geordneten Objekte. Dafür geben die kubistischen Maler die seit der Renaissance übliche Bindung der zweidimensionalen Leinwand an die dreidimensionale Realität durch Zentralperspektive mittels Chiaroscuro-Technik auf; es handelt sich um eine gegenständliche[83] – also nicht abstrakte – Malerei.[84] Die Kubisten malten neben Porträts bevorzugt Stillleben, auch solche, deren Gegenstände u. a. Musikinstrumente waren.[85]
Die künstlerische Verwandtschaft Strawinskys mit dem Kubismus ist mehrfach bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten erwähnt und besprochen worden:[86]
1. aus freier Assoziation einiger Zeitgenossen;[87]
2. mit Hinweis auf Gemeinsamkeiten zwischen Picassos (allerdings proto-kubistischem) Gemälde Les Demoiselles d’Avignon von 1907 und dem Sacre (gemeint ist beider Werke ›Primitivismus‹[88]);
3. unter dem Vorzeichen der Montage bzw. Collage[89] verschiedener Zellen und Blöcke.[90]
4. Der synästhetisch anmutenden Entdeckung des Kubisten Delaunay,[91] Beziehungen zwischen Farben seien vergleichbar mit musikalischen Noten,[92] ist offenbar keine eingehendere Untersuchung gefolgt.
5. Wolfgang Burde widmet in seiner Strawinsky-Monographie ein Kapitel der Gegenüberstellung von Le Sacre du printemps und dem zeitgenössischen Kubismus, in welchem er die Analogie zwischen Kompositionsweise des Sacre und kubistischer Ästhetik herausstreicht: »Strawinsky versuchte, Bewegungen der Tonhöhe, der Tondauer, Tonstärke und Tonfarbe desintegrativ zu behandeln, […] den einen großen Klangraum kompositorisch zu segmentieren.«[93] Burde weiter: »Es sind also vielfältige Perspektiven der kompositorischen Verfahrensweise Strawinskys, die es erlauben, von kompositorischen Analogiebildungen zum bildnerischen Kubismus zu sprechen«.[94]
6. Der italienische Komponist Alfredo Casella verglich, so Tymoczko, »Stravinsky’s musical style to the ›cubist‹ technique of Picasso and Braque, in which single objects are portrayed from more than one vantage point.« [95] Den verschiedenen Perspektiven der Kubisten entsprächen bei Strawinsky die verschiedenen Skalen oder »radically different harmonic areas, and their simultaneous presentation represents a fundamental challenge to the traditional assumption that a single scale or key area (or ›referential collection‹) should govern music at any one time«[96] – ein Gedanke, der im Folgenden erläutert und vertieft werden soll.
Zunächst aber möchte ich den Fokus auf einen anderen zentralen Aspekt des Kubismus richten: auf die Neugliederung des dargestellten Raumes sowohl als multiple Perspektive als auch als formelle Gliederung des zweidimensionalen malerischen Mediums (Papier, Leinwand), die sich mit den papiers collés ab 1912 sozusagen dreidimensional anreichert.
Dem bildnerischen Komplex von Fluchtpunkt, Zentralperspektive, Tiefenwirkung und Raum-›Illusionismus‹ könnte in der Musik der Komplex von Grundton, Tonart, Harmonik und Tonalität entsprechen.[97] Wie die Malerei vor 1900 den dreidimensionalen Raum mittels Zentralperspektive auf die zweidimensionale Leinwand übersetzt, so dominiert in der Musik bis etwa 1900 die Auffassung von Tonalität als Einheit von Harmonik und Kontrapunkt mit einer gewissen Kongruenz von typischen linearen und vertikalen Elementen. Diese Einheit ›zielt‹ auf einen Ton oder eine Tonart hin: die Tonika, die in der Regel mindestens am Ende eines Stückes erklingt. Der ›Fluchtpunkt‹ in der Musik wäre meist also am Ende der Zeitlinie – am Schluss des Stückes – zu finden. Der kubistischen Abkehr von der Zentralperspektive zugunsten multipler Perspektiven scheint nun bei Strawinsky nicht unbedingt der Ersatz einer einzigen Tonalität durch Polytonalität analog, sondern das neuartige Verschränken linearer und vertikaler Elemente sowie das Ausleuchten einer ›Tonmasse‹ auf ihre verschiedenen möglichen Zentraltöne hin.[98]
Jean Metzinger, Apologet des Kubismus und Verfasser des ersten publizierten Buches über diese Kunstströmung (Du Cubisme, 1912 in Paris veröffentlicht), bemerkte im Jahre 1911, die Kubisten hätten »sich erlaubt, um das Objekt herumzugehen, um von ihm – unter Kontrolle des Verstandes – eine konkrete Darstellung, bestehend aus mehreren aufeinanderfolgenden Ansichten, zu geben. Das Bild nahm den Raum in Besitz, und so herrscht es auch in der Zeit.«[99] Denn die kubistische multiple Perspektive involviert den Faktor Zeit als essenziellen Bestandteil des Bildes.[100] Während man etwa die monumentalen Stadtansichten Canalettos[101] in einem Augenblick erfassen kann (natürlich nicht en detail, aber en gros, was die Gesamtkonzeption und die Verteilung der Gegenstände im Raum angeht), erschließt sich ein kubistisches Kunstwerk keinesfalls von selbst. Die Zeit, die der Betrachtende braucht, um die verschiedenen Sichtpunkte und Gegenstände in Beziehung zueinander zu setzen oder sie im virtuellen Raum ›umzuverteilen‹, ist im kubistischen Bild sozusagen ›mit-komponiert‹.[102]
An Strawinskys Methode, nämlich dem ›Herumführen‹ des Zuhörers um die zentrale ›Tonmasse‹, ist als besonders und innovativ natürlich gerade nicht die Zeit als ohnehin genuin musikalisches Element anzusprechen, denn jener Innovation der ›malerischen Zeit‹ kann in der Musik keine Analogie entsprechen.[103] Allerdings ist es gerade jene vierte Dimension, die Zeit, welche qua Repetition und Gewöhnung zur Umschattierung und Mehrfachdeutung des musikalischen Materials führt.
Diese formelle Neugliederung des musikalischen ›Raumes‹ entspricht womöglich der kubistischen Übersetzung des dargestellten Raumes in eine formelle Gliederung des zweidimensionalen malerischen Mediums. Noch gewagter formuliert, ist Strawinskys Neuerung die Schaffung eines ›virtuellen Raumes‹ in der Komposition.
Bekanntlich verband Picasso und Strawinsky eine Künstler-Freundschaft, besonders in den 1920er Jahren, als beide mehr oder weniger schon in ihre ›klassizistische Phase‹ eingetreten waren. Es ist behauptet worden, dass Picasso und Strawinsky »similar aesthetic[s]«[104] teilten. Das scheint plausibel; andererseits wäre es fahrlässig, eine Verwandtschaft der Sacre-Musik mit dem Kubismus an einen sozusagen ›wörtlichen‹ Einfluss Picassos auf Strawinsky zu ketten, so als habe der Komponist nicht ohnehin Augen und Ohren für die Strömungen der Zeit offen gehabt. Zudem ist es nach meinem Kenntnisstand nicht erwiesen, dass sich Picasso und Strawinsky zur Zeit der Entstehung des Sacre überhaupt kannten;[105] es scheint vielmehr so, als hätten sich die beiden erst 1917 in Rom kennengelernt.[106] (Um die besondere Beziehung des Sacre-Strawinsky zum Kubismus[107] zu untermalen, sei auf Jean Cocteaus Karikatur »Strawinsky spielt den Sacre« verwiesen, in welchem das Multitalent Cocteau deutlich kubistische Elemente in die Zeichnung integrierte.[108])
Doch zurück zur Action rituelle des ancêtres (II,5). Nachdem der Komponist die ›Tonmasse‹ ›melodisch es-Moll‹ von mehreren Seiten beleuchtet hat, verwandeln sich die unteren beiden Töne (Dominantgrundton und -leitton, also: V und VII) in ein Achtel-Ostinato, über das sich nach und nach mehrere diatonische Melodien legen. Diese stellen nun das b-Schwerefeld in Frage, da die erste Linie (Altflöte, Ziffer 131) eigentlich einen Ausschnitt von h-Moll vorträgt. Es handelt sich um ein Re-Tetrachord und könnte auch D-Dur sein, wenn nicht das Ohr den tiefsten Ton der Linie als Grundton gefunden hätte. Das wirft ein neues Licht auf b – oder sollten wir ais sagen? Denn wenn wir der Melodie als der ›Hauptsache‹ folgen, verwandelt sich der bisherige ›Grundton‹ b in eine Art ›Leitton‹. Die Altflöten-Linie trägt auch dezentes d-Moll-›Aroma‹ in sich (h und cis dann als VI und VII; b bliebe b). Dieser neue, sanft zwischen h- und d-Moll pendelnde Frieden währt aber auch nicht lange, denn die doppelt oktavierten Trompeten tragen die nächste, auf cis und gis zentrierte Re-Tetrachord-Linie vor, die unser Ohr als cis- oder gis-Moll-Fragment interpretieren kann. Doch wie fügt sich dieses Fragment in die tonale Landschaft ein?
Abbildung 14: es-Moll und Oktatonik (Funktion) in Action rituelle des ancêtres (II,5)
Wir haben es hier mit einer (um einen Ton) reduzierten Oktatonik zu tun; die beiden einander ergänzenden Re-Tetrachorde sind sowohl diatonischem als auch oktatonischem Material entnommen (Abb. 14). Wenn aber die Trompeten-Melodie sich zu Ostinato und Altflöten-Melodie gesellt, ist es um die Dominanz der letzteren geschehen; sie landet plötzlich im Hintergrund, was h als Schwerpunkt aufhebt und nun wieder stärker Bassstimmen und Trompeten miteinander verbindet. Je nach ›Richtung‹ unseres Ohres ist auch wieder die Auffassung eines um b gescharten Feldes möglich, so dass die neue Hauptmelodie mit des-ces-b-as gelesen werden darf.
Ähnlich wie im ersten Abschnitt des Satzes wird also eine ›Tonmasse‹ (hier allerdings ein oktatonisches Feld) in einer multiplen Perspektive betrachtet. Im Vergleich zur vorherigen ›Landschaft‹ klingt es klar dominantisch; Funktionsgrundtöne sind b, cis und e (g fehlt), die nur teilweise mit den scheinbaren, wenig eindeutigen melodischen Grundtönen übereinstimmen: Wir schwankten ja zwischen b, h, cis, d oder gis.
Strawinsky leuchtet hier, anders als im ersten Abschnitt, keine Standard-Tonart aus, sondern ein Tonfeld mit funktionaler Qualität. Welcher Ton der Funktionsgrundtöne aber den Vorrang hat, ergibt sich nun fast von selbst: b steht in direktem Verhältnis zum ersten Taktdutzend des Satzes – als Grundton einer Funktion, nämlich der Dominante zu es-Moll.
In der umgekehrt gereihten ›Reprise‹ schließlich (ab Ziffer 138) wird die Funktion über b oder g mit einem Orgelpunkt c versehen, den ich als ›Kommentar‹ interpretiere, ähnlich wie Braque oder Picasso im Jahre 1912, als die analytische Phase des Kubismus allmählich ihrem Ausgang sich zuneigte, ihre Bilder sozusagen selbstreferenziell mit Zeitungsausschnitten abrundeten.
Jene Erkenntnisse über die Musik der Action rituelle des ancêtres werfen ein neues Licht auf die Relation harmonischer und melodischer Strukturen auch in anderen Teilen des Sacre. Verschiedene simultan-sukzessive Blickwinkel auf ein und dieselbe Sache (Zentraltöne, Tonfelder oder Tonarten) sind, wie bereits erörtert, Kennzeichen der tonalen Struktur des Werkes. Wenn also in Les augures printaniers (I,2) modal-mixolydische Melodik und angereicherte Funktionsakkorde den gemeinsamen Grundton es ausleuchten, so generieren sie zusammen ein mehrdimensionales Feld, das bei aller Gegensätzlichkeit von Vertikale und Horizontale als stimmig wahrgenommen wird, ähnlich wie unter den Händen eines Meisters wie Picasso die ungewohnten perspektivischen Verzerrungen und Zerstückelungen als stimmig wahrgenommen werden.
Der letzte Abschnitt von I,2 wiederum präsentiert sich scheinbar in ›melodisch c-Moll‹, während der ›Referenzrahmen‹ des um f kreiselnden Basses im Verein mit der um a gruppierten Melodie allerdings mehr auf die ›akustische Tonalität‹ auf f[109] zu verweisen scheint.[110] Vielleicht sind diese beiden Tonarten in diesem Abschnitt ›in eins‹ gesetzt. Dass dies nicht als bitonal wahrgenommen wird, hängt nicht nur mit dem identischen Tonvorrat der beiden ineinander gefalteten Tonarten zusammen. Ich meine, dass – je nachdem, wie oder ›von welchem Punkt aus‹ wir diese Stelle hören – sich uns das Tonmaterial anders erschließt, so als könne man das multiperspektivische Tongemälde ohne Einbußen auf den Kopf stellen: vielleicht der raffinierteste Kubismus im ganzen Sacre.
Es ist merkwürdig, dass – im Unterschied zur allseits bekannten Beziehung Schönbergs und seiner Schüler zum Expressionismus – die künstlerische Verwandtschaft des Sacre-Strawinsky mit den Werken des analytischen Kubismus so wenig zum Objekt eingehender Untersuchungen geworden ist.[111] Dem Sacre ist zwar vermutlich in den Bildenden Künsten kein Einzelwerk zur Seite zu stellen,[112] allerdings ist der Sacre selbst im Katalog seines Schöpfers einzigartig – worüber sich wohl alle Forscherinnen und Kommentatoren einig sind, wenn auch teilweise stillschweigend.
Anmerkungen
Laut Robert Craft »the prize bull that inseminated the whole modern movement«, zit. nach Taruskin 2012. | |
Nach Hill war zumindest jener erste ›Impakt‹ »due to its assault on their [= the viewers’] nervous system« (2000, 62). | |
Vgl. Flamm 2013, 154. | |
Die UA des Sacre fand am 29.5.1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées statt. Vgl. Flamm 2013, 167–169. | |
Vgl. ebd., 154. | |
Bernard 2013, 298. | |
Vgl. Whittall: »the norm of the work as a whole is dissonant, not consonant« (1982, 45). Und weiter (in skeptischem Ton): Musikanalyse »has still to reveal if – or how – the dissonances themselves function in Le Sacre, beyond being the basis for local extension« (ebd., 50). | |
Forte spekuliert, Strawinsky »employed extensively for the first time the new harmonies that first emerged in the works of Schoenberg and Webern around 1907–08« (1978, 19). | |
Meyer 2013, 119. | |
Chua 2007, 81. | |
Boulez 1979. | |
Hill 2000. | |
Van den Toorn, 1987. | |
Ebd., 210. Die Feinstimmung zwischen atonal und non-tonal könnte allerdings eigene musiktheoretische Bände füllen. | |
Reutter 2015, 2; vgl. auch Tymoczko 2002, 68. | |
Haas 2004. Zu grundlegenden Aspekten der Theorie siehe Polth 2006 und Bodamer 2011. | |
Vgl. Scherliess 1982, 54; Smalley 1969/70, 5 (»ur-chord«); Flamm 2013, 154 (»Chiffre des ganzen Werks«). | |
Eine Ausnahme ist die Analyse Fortes (1978), die aber andererseits in unerbittlicher Konsequenz die pc sets in allen Sätzen des Sacre der Reihe nach ›abzählt‹. | |
»This chord is indeed the most famous harmony in The Rite. But since it never recurs, it cannot properly be called a motto.« (Taruskin 1996, 947) | |
Es sei »mit aller Deutlichkeit vermerkt, dass aus ihm [dem ›Auguren‹-Akkord] der ganze ›Sacre‹ zu entschlüsseln« wäre (Baumann 2017, 93). | |
Hill 2000, 44. | |
Also etwa der zweite Satz des ersten Aktes (Les augures printaniers): I,2. | |
Auf die typische »semitone idea« weist bereits Smalley hin (1969/70, 5). | |
Zu Beginn noch eher flüchtig Horn und Fagott: cis1/c2, später – mit einer gewissen Verweildauer – Fagott und Klarinette: cis/c2. | |
In Cercles mystérieux des adolescentes (II,2) spielen die beiden Klarinetten ihre Weise gar im fixen Abstand einer großen Septime, so dass d-Moll und es-Moll sich bitonal gleichzeitig ereignen – vielleicht ein Nachhall der Introduktion des II. Aktes. | |
Vgl. Scherliess 1982, 59; Burde 1982, 385 (polytonal); Souvtschinsky 1982, 41 (polymodal). | |
Vgl. Van den Toorn 1986, 150, dort als »intercollectional shifts« bezeichnet. | |
›Funktionsklang‹ ist ein hilfsweiser Terminus, um funktionell gut interpretierbare Klänge vom Dominantseptnon- bis etwa zum Beta-Akkord zusammenzufassen. | |
Es sei hinzugefügt, dass ein Teil der Kernakkorde ganz unfunktional im Sinne der Tonfeld-Theorie und eher ›quintig‹ daherkommt. | |
Vgl. Haas 2004; Polth 2006; Bodamer 2011. Einen hervorragenden Überblick über die Theorie bietet zudem das Themenheft 8/2 (2011) der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie. https://doi.org/10.31751/i.27 | |
US-amerikanische Analytiker:innen mit Fokus auf dem Tonvorrat von Klängen scheinen es allerdings leichter zu haben, kann man doch solche Hybridklänge als Produkt von »skillful crosscutting […] between octatonic collections« benennen (Taruskin 1996, 937). | |
Einige Teile der Komposition lassen sich mit Burde überspitzt als »ereignislos« bezeichnen (1982, 381). | |
Zwar ist die Repetition aller Hauptklänge im Sacre Programm, doch wird kein Klang so häufig wiederholt wie der ›Auguren‹-Akkord: In I,2 wird er 211-mal wiederholt! | |
Vgl. Lendvai 1993, 27. | |
Eine weiterführende Analyse der Stelle findet sich zu Beginn des Abschnitts »Vertikal versus horizontal – Deutungsversuche«. | |
Chua schreibt treffend: »Stravinsky had to fine-tune the sonority between tone and noise.« (2007, 77) | |
Ebd., 88. | |
Tymoczko deutet den Großteil dieses Satzes zumindest materialiter als mollar (vgl. 2002, 82–84). | |
Chua ist merkwürdigerweise der konträren Meinung, das tonale Zentrum verschiebe sich nach B (vgl. 2007, 90 f.). | |
Flamm formuliert: »Mitunter scheint jedoch die Beschäftigung mit den rätselhaften Akkordstrukturen den Blick darauf zu verstellen, was ihre eigentliche Intention war: permanent grobe und gröbste Dissonanzen zu erzeugen« (2013, 154). | |
In der US-amerikanischen Theorie würde man diese beiden Klänge als pitch-class sets [0,5,11] bzw. [0,6,11] bezeichnen (vgl. Taruskin 1996, 940). | |
Dissonante Struktur deswegen, weil die – wohl noch dissonanteren – Cluster wenig Struktur aufweisen; dissonante Struktur, weil es im temperiert-gleich(zwölf)stufigen System unter den strukturierten Klängen mit Ambitus von weniger als einer Oktave keine Möglichkeit mit drei Tönen gibt, dissonantere Klänge herzustellen. | |
In dieser Variation in romantischer Musik als ›Oberteil‹ eines Tredezimakkords (›Chopin-Dominante‹) bereits ein Standard. | |
Dies entspricht nicht nur meinem Höreindruck, sondern auch dem fast aller Studierender, mit denen ich höranalytisch an solchen Klängen gearbeitet habe. | |
Vgl. Hill 2000, 49, der von »<fourth’s> chords« spricht (Tritonus = übermäßige Quarte) und Taruskin 1996, 940–942, der diese Strukturen erst als »source chord« und dann ihrer immensen Bedeutung wegen als »Rite chord« bezeichnet. | |
Ähnlich verfährt der Komponist im Ritornell des Schlusstanzes. | |
Dieser Wechsel ist nicht in allen Partituren verzeichnet, wohl aber in beiden mir vorliegenden Klavierauszügen von Strawinsky bzw. Sam Raphling. | |
Baumann 2017, 112 f. | |
Die Frage, ob es sich dabei um Motive im eigentlichen Sinne handelt, soll hier nicht erörtert werden. | |
Das Tetrachord re-mi-fa-sol ist u. a. Ausschnitt des Dorischen (Skalentöne I–IV) oder Mixolydischen (Skalentöne V–VIII). Es kann auch Teil einer oktatonischen Skala sein (und damit eine Simon’sche Funktion bilden). Van den Toorn spricht in Anlehnung an Fortes pitch classes vom »(0235) tetrachord« (vgl. 1987, 211). | |
Die u. a. von Hill gebrauchte Bezeichnung Moll-Tetrachord (vgl. 2000,39) ist insofern missverständlich, als für Moll eigentlich eine andere Intervallstruktur (die verminderte Quarte von Leitton zu Mollterz) charakteristischer ist. | |
»Without periodicity there can be no arrival. And without a sense of arrival, there can be no sense of an ending.« (Taruskin 1996, 963) | |
Jene Anonymität der Sacre-Melodien hängt nur scheinbar mit ihrem (scheinbaren) ›Volkston‹ zusammen – denn Volksmusik entbehrt zwar des modernen Copyrights, aber keineswegs des persönlichen Ausdrucks. Anonymität ist nicht mit der echten Volksmusik, womöglich aber mit ihrer artifiziellen Reproduktion oder Rekonstruktion in Verbindung zu bringen, denn eine Zitierweise, die paradoxerweise niemanden zitiert, muss eine gewisse Anonymität erzeugen. Strawinsky hat dieses Problem in der Komposition, anstatt zu verschleiern, dadurch offengelegt, dass den melodischen Elementen laufend Veränderungen aller Art, etwa subtile Variationen von Tonhöhe und -dauer, Verkürzungen, Abspaltungen, Umkehrungen in der Reihenfolge und anderweitige Veränderungen zugemutet werden: wodurch das motivische Material noch anonymer wird. | |
Vgl. Cross 1998, 232 f.; vgl. auch Taruskin 1996, 957. | |
Adorno 1975, 140. Adornos bekannteste musikphilosophische Schrift erschien erstmals 1949; Strawinskys überraschende Hinwendung zu einer freien ›radikalen‹ Form von Atonalität in den 1950er Jahren stand noch aus. | |
Eine »intersection of harmonic systems« (Meyer 2013, 121). | |
Cross 1998, 102. | |
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Taruskin aus entgegengesetzter Richtung: Strawinsky »turns the bass of the source chord [›0,6,11‹ oder ›Beta-Akkord‹] into a triadic root« (1996, 947). Fes-Dur bildet dabei ein Neben- oder Füllprodukt, nicht einen eigenständigen Teil eines bitonalen Klangs. | |
Sowie eine Art Modulation mit zahllosen verminderten Septakkorden bei Ziffer 30; dies leitet in den letzten Abschnitt des Satzes über, der in ›erweitertem C-Dur‹ zu stehen scheint. | |
Also ist nur ein Grundton vorhanden. Man würde die Gleichzeitigkeit von Es-Dur und es-Moll auch nicht als bitonal bezeichnen wollen. | |
»The opposition of materials in Stravinskyʼs music are held in some sort of balance, discontinuous musical ideas are heard to belong together.« (Cross 1998, 240) | |
Tymoczko führt den Begriff »polyscalarity« ein (2002, 82). Der Rekurs auf modale oder mollare Skalen reicht aber zur harmonischen Erklärung nicht aus. | |
Adorno 1975, 141. | |
»The most significant dissonances in Le Sacre are those which have absorbed a degree of tonal content […] into their dissonant essence.« (Whittall 1982, 44) | |
Das Übereinander zweier Akkorde, deren Tonmaterial aus verschiedenen Tonarten stammt, als bitonal zu bezeichnen, ist fragwürdig, weil ein Akkord keine Tonart definiert und somit zwei Akkorde auch nicht zwei Tonarten definieren können. Auch der sechstönige ›Petruschka‹-Akkord (C+Fis) sollte nicht bitonal, sondern eher als Simon’scher Funktionsklang aufgefasst werden. – Ein eleganterer Terminus für derartige Gebilde freilich taucht bei Taruskin auf: »bipolar tonality« (1996, 932). | |
Reutter erörtert, dass die Tonalität des Sacre überwiegend aus mollaren Skalen gestaltet ist (2015, 2). Vgl. auch Tymoczko 2012. | |
Nämlich: ces/c und des/d (VI und VII von es-Moll betreffend), ggf. h/b; und der Dur-Moll-Querstand (g/ges) von wenigen Takten zuvor ist ja auch noch im Gedächtnis. Vgl. hierzu auch Reutter 2015, 8. | |
Tatsächlich erweisen sich die Hörner als instrumentale Hauptgruppe, da sich alle drei Schichten in den acht Hörnern finden: die Terzen der Melodieschicht, Quinten des Ostinato und die Beta-Akkorde in der Mitte. | |
Der Beta-Akkord (oder »rite chord«) »lent an aspect of sublime terror to the climactic statement of Spring Khorovods melody.« (Taruskin 1996, 944) Man beachte die Parallele zu Adornos Rede von einer ›schreckhaften‹ Stelle. | |
Vgl. auch Reutter 2015, 8. | |
Hill 2000, 44. | |
Adorno 1975, 140. An anderer Stelle freilich formuliert Adorno, dass »bei Strawinsky Modernismus und Archaik zwei Ansichten von der gleichen Sache sind.« (ebd., 146) | |
Taruskin interpretiert dies als Fusion: »to express the harmonic content of the fantastic/chromatic genus of Russian music in terms of melodic configuration endemic to the folkloristic/diatonic genus« (1996, 948). | |
Z. B. recht deutlich in I,3 oder II,6. Eine Analyse des gesamten Sacre auf seine harmonische Struktur steht noch aus. | |
Taruskin sieht es offenbar anders: »no harmonic progression, no thematic or motivic development, no smoothly executed transitions« (1996, 957). | |
Vgl. Christian Ofenbauers »Harmonielehre zu einem bestimmen Stück« (2016, 423) als Ausgangspunkt seiner Erörterung des Finalsatzes des Sacre. | |
Vgl. Reutter 2015, 10. | |
Wie weiter oben besprochen, sind die großen Septimen und kleinen Nonen im Sacre Programm – insofern ist der ›Störton‹ d im Bass als kleine None zum Grundton es gewissermaßen obligat. | |
Adorno sieht es ähnlich: »Mit der Eliminierung des harmlos Grotesken stellt sich das Werk auf die Seite der Avantgarde, des Kubismus zumal.« (1975, 146) | |
Siehe etwa Violine und Krug (1910). http://www.unterricht.kunstbrowser.de/images/braquegeigeundkrug1910originalgro.jpg (18.11.2024) | |
Z. B. Porträt des Ambroise Vollard (1910). https://en.wikipedia.org/wiki/Portrait_of_Ambroise_Vollard_%28Picasso%29 (18.11.2024) | |
Weitere bedeutende Werke dieser Stilepoche stammen von Juan Gris, Jean Metzinger, Robert Delaunay, Albert Gleizes und Fernand Léger; alle betreffenden Gemälde sind in Frankreich, die meisten in Paris entstanden. Vgl. zur Einführung Ganteführer-Trier/Grosenick 2009, 14. | |
»Alle Kritiker des Kubismus stimmen darin überein, dass seine Absichten im Grunde realistische waren.« (Fry 1966, 43) | |
Auch der Sacre ist sozusagen ›gegenständliche‹, nämlich für die Szene (das Ballett) geschriebene Musik. | |
U. a. Braque, Violine und Krug, Picasso, Mann mit Klarinette (1911). | |
Allerdings nicht nur mit dem Kubismus; u. a. von Cross wird eine Nähe zum Futurismus (vgl. 1998, 12), Fauvismus (vgl. ebd., 23), oder gar Expressionismus (vgl. ebd., 23) postuliert. | |
Vgl. etwa Maurice Touchards Äußerung von 1913: »harmonic excesses … a kind of musical cubism«, zit. nach Cross 1998, 22. | |
Vgl. Assmann 2013, 333; Flamm 2013, 146. Was jenen ›Primitivismus‹ angeht, so zieht dieser Vergleich nur bedingt, weil Darstellung und Dargestelltes (Modus und Objekt) der Demoiselles hinsichtlich ihrer ›Primitivität‹ krass auseinanderfallen: nach dem ›Vorbild‹ afrikanischer Kunst werden provenzalische Prostituierte gemalt. | |
Vgl. z. B. Burde 1982, 386. Hinsichtlich der ›Komposition in Blöcken‹ vergleicht Cross Picassos Standing Female Nude von 1910, https://www.metmuseum.org/art/collection/search/488477 (18.11.2024) mit Strawinskys Bläsersinfonie (Symphonie d’instruments à vents) von 1920 (vgl. Cross 1998, 17–20). Die Begriffe ›Collage‹ oder ›Montage‹ erscheinen mir in Bezug auf den Sacre allerdings fraglich. | |
Die gezogene Parallele bezieht sich wohl auch auf Seiten der kubistischen Malerei auf eine andere Stilphase, nämlich auf den ›synthetischen Kubismus‹ ab 1912, etwa Picassos Les trois musiciens (1921). Vielleicht dient als Referenz auch die Technik der von Braque und Picasso in die kubistische Kunst eingeführten papiers collés. Vgl. Fry 1966, 32–35. | |
Robert Delaunay (1885–1941), französischer Maler mit kubistischer Phase in den 1910er Jahren. | |
Vgl. Cross 1998, 17. | |
Burde 1982, 381. | |
Ebd., 385. | |
Tymoczko 2002, 84. Tymoczko selbst führt diesen Gedanken nicht weiter. | |
Ebd. | |
Dem Raum-›Illusionismus‹ der Malerei seit der Renaissance (vgl. u. a. Fry 1966, 14 f.) entspricht der durch Chromatik und Enharmonik erweiterte ›illusionistische‹ Tonraum der Musik seit dem Barock. | |
Zumindest mit Blick auf diese Innovation kann im Sacre von einer ›blockhaften‹ Kompositionstechnik eigentlich keine Rede sein. | |
Metzinger 1966, 73. | |
Vgl. Fry 1966, 37 f.: vielleicht der modernste Aspekt des kubistischen Verfahrens. | |
Der Venezianer Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto (1697–1768), sei hier als paradigmatischer Maler eines extrem zentralperspektivischen Stils genannt, der dem späteren Fotorealismus schon erstaunlich nahekommt. Ähnliches gilt für seinen ebenfalls Canaletto genannten Neffen Bernardo Bellotto (1722–1780). | |
Vgl. Fry 1966, 37 f. | |
Eine weitere Untersuchung müsste zeigen, inwieweit Strawinsky ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten musikalischer Zeit geschaffen hat. | |
Cross 1998, 19; vgl. Dömling 1982, 56. Picasso durchlief allerdings nicht nur verschiedene Phasen als Zeitabschnitte seiner langen Karriere (›Blaue Periode‹, ›Rosa Periode‹, analytischer und synthetischer Kubismus, ›Klassizismus‹ etc.), sondern nahm sich auch die Freiheit, in verschiedenen Stilen zur selben Zeit zu malen. Auf diese weitere Parallele zwischen den beiden Künstlerpersönlichkeiten weist Dömling hin (ebd., 87). | |
Allerdings kannte Strawinsky den weniger bekannten kubistischen Maler Albert Gleizes, der ihn im Jahre 1914 porträtierte. Picasso porträtierte Strawinsky erstmals im Jahre 1917; es handelt sich um eine Zeichnung ohne jedes kubistische Element. | |
Dömling 1982, 56. | |
Im scheinbaren Widerspruch hierzu war die Bühnenmalerei des Co-Autors Nicholas Roerich denkbar weit von jeglichem bildnerischen Kubismus entfernt. | |
Diese stammt allerdings von 1948. http://www.artnet.com/artists/jean-cocteau/strawinsky-jouant-le-sacre-du-printemps-jzfJRDyqCSSKKeZy3tJ5mg2 (18.11.2024) | |
Bekanntlich startet die ›akustische Tonreihe‹ (nach Lendvai) auf der IV von ›melodisch Moll‹. | |
Ich danke Johannes Schild für diesen Hinweis. | |
Burde konstatiert allerdings: »Mag man Strawinskys Montagetechnik […] kubistisch nennen – die Ästhetik Strawinskys ist es gewiss.« (1982, 386) Und sogar: »Strawinskys Sacre und Saties Parade galten als kubistische Werke.« (ebd., 376) Allerdings lässt sich nicht erhellen, wer was (und wann) zu dieser kubistischen ›Geltung‹ beigetragen haben könnte. | |
Tatsächlich gibt es nicht das kubistische Gemälde; es gibt ja nicht einmal den kubistischen Maler. |
Literatur
Adorno, Theodor W. (1975), Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Assmann, Jan (2013), »The Cultural Memory of Le Sacre du Printemps«, in: Avatar of Modernity – The Rite of Spring Reconsidered, hg. von Hermann Danuser und Heidy Zimmermann, London: Boosey & Hawkes, 319–335.
Baumann, Felix (2017), »Zwei- oder vieltonal. Ein Diskussionsbeitrag über die innere Mechanik der Klanggestaltung in Strawinskys ›Sacre du Printemps‹«, in: Lost in Contemporary Music? Neue Musik analysieren, hg. von Benjamin Lang, Regensburg: ConBrio, 81–124.
Bernard, Jonathan W. (2013), »Le Sacre Analyzed«, in: Avatar of Modernity – The Rite of Spring Reconsidered, hg. von Hermann Danuser und Heidy Zimmermann, London: Boosey & Hawkes, 284–305.
Bodamer, Konstantin (2011), »Albert Simon – ein ungarischer Autor«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8/2, 335–349. https://doi.org/10.31751/639
Boulez, Pierre (1979), »Strawinsky bleibt« [1953], in: ders., Anhaltspunkte. Essays, übers. von Josef Häusler, Kassel: Bärenreiter, 163–239.
Burde, Wolfgang (1982), Strawinsky, Mainz: Schott.
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