»Mer Hymni«
Jacobus Vaets und anonyme Hymnen aus Grazer Chorbüchern
Adrian Nagel
Durch eine Regensburger Handschrift wurden kürzlich dreizehn Hymnen Jacobus Vaets bekannt. Einige davon sind auch anonym in zwei Grazer Chorbüchern zu finden. Der Artikel geht der Frage nach, ob weitere anonyme Hymnen aus diesen Handschriften dem Komponisten Vaet zugeschrieben werden könnten. Für dieses Vorhaben wird der kompositorische Stil der Hymnen Vaets untersucht und mit demjenigen des anonymen Korpus verglichen. Bis auf eine Komposition unterscheiden sich die anonymen von Vaets Hymnen in bemerkenswerter Weise, sodass seine Autorschaft nicht auf der Hand liegt.
Thirteen hymns by Jacobus Vaet recently came to light through a Regensburg manuscript. Some of these can also be found anonymously in two Graz choir books. This article explores whether additional anonymous hymns from these manuscripts could be attributed to Vaet. To achieve this, Vaet’s compositional style in his hymns is examined and compared with the anonymous corpus. With the exception of one composition, the anonymous hymns notably diverge from Vaet’s style, making his authorship unlikely to be inferred.
Vor wenigen Jahren wurden dreizehn Hymnen dem Gesamtwerk Jacobus Vaets hinzugefügt. Sie befinden sich im handschriftlichen Anhang von D-Rtt F. K. Mus. 4,[1] auf den Barbara Eichner im Rahmen einer Untersuchung einiger Quellen aus dem Kloster Neresheim aufmerksam machte.[2] Diese Hymnen waren bislang unbekannt oder wurden nicht mit Jacobus Vaet in einen Zusammenhang gebracht. Allerdings haben sich nur das Diskant- und Bassus-Stimmbuch der Handschrift erhalten. Trotz der Unvollständigkeit ist die Quelle überaus hilfreich für die Forschung, denn auf ihrer Grundlage können einige Hymnen, die in zwei Chorbüchern der Universitätsbibliothek Graz (A-Gu Ms 67 und 2064[3]) anonym überliefert sind, Vaet zugeschrieben werden.[4] Jedoch verbleiben andere Hymnen dieser Chorbücher weiterhin anonym. Die folgende Studie geht der Frage nach, ob bei diesen Hymnen aufgrund von Stilkriterien ebenfalls eine Autorschaft Vaets im Rahmen des Möglichen liegt.
Der Komponist Jacobus Vaet (1529–67) stammt aus Kortrijk und wurde später Hofkapellmeister von Kaiser Maximilian II. in Wien. Er ist vor allem bekannt für seinen außergewöhnlichen Umgang mit der Entlehnungstechnik.[5] Von besonderer Bedeutung sind seine Doppelentlehnungen und Entlehnungsketten, die Milton Steinhardt als »striking example of multiple parody« bezeichnet.[6] Beispielsweise verarbeitet er in seiner Missa J’ai mis mon coeur eine Chansonmelodie sowie ein eigenes Salve Regina, und insgesamt drei Kompositionen bauen auf Lassos Motette Tityre, tu patulae auf. Vaets Werke gehören insbesondere kirchenmusikalischen Gattungen an: Neben Messen und Motetten existieren Salve Regina, Magnificat und ebenjene Hymnen, um die es im Folgenden geht.
Bisherige Forschung zu Vaets Hymnen
Bereits im Jahr 1956 berichtete Milton Steinhardt über acht Hymnen Jacobus Vaets aus den Grazer Chorbüchern.[7] Auf deren Grundlage publizierte er zunächst das Heft Zwei Hymnen und einige Jahre später in den Denkmälern der Tonkunst in Österreich den Band Sämtliche Werke VII. Hymnen und Chansons.[8] Während die Handschrift Ms 67 kein Anzeichen auf den Komponisten enthält, sind in Ms 2064 acht Hymnen mit Vaet überschrieben. Sechs dieser Hymnen erscheinen ebenfalls in Ms 67.
Als weitere Quelle zitiert Steinhardt aus der Prattica di musica Lodovico Zacconis, der Vaets A solis ortus cardine als Beispiel für einen außerordentlichen Mensurwechsel heranzieht. Im dritten Teil dieses Hymnus wird nahezu die gleiche Musik des zweizeitigen ersten Teils in dreizeitiger Mensur wiederholt, wobei die »Priorität [...] hierbei auf dem Tempowechsel« liegt.[9] Außerdem weist Zacconi auf einen anderen Hymnus Vaets hin. In einem Hymnus Collaudamus venerantes für den Erzengel Michael sei die gleiche besondere Notation eingearbeitet.[10] Zacconi druckt sogar einen kurzen Ausschnitt des Bassus aus diesem Hymnus ab (Abb. 1).[11] Durch die neue Quellenlage ist ein Hymnus Tibi Christe splendor patris für den Erzengel Michael bekannt, dessen zweite Strophe mit »Collaudamus venerantes« beginnt. Allerdings stimmt er mit Zacconis Beispiel nicht überein, sodass wenigstens ein Hymnus Vaets immer noch als verloren gilt.
Abbildung 1: Ausschnitt aus Jacobus Vaets Collaudamus venerantes in Lodovico Zacconis Prattica di musica
Auch der Vergleich der bekannten Handschriften zeigt, dass es Quellen mit Hymnen Vaets gab, die heute unbekannt oder verloren sind. Denn die Handschriften aus Graz und Regensburg stehen nicht in einem direkten Zusammenhang: Bei dem Hymnus Ad cenam agni fehlt im Bassus-Stimmbuch von F. K. Mus. 4 die vierte Strophe mit dem Hinweis »Iam pascha nostrum non apparet«. Doch ist die betreffende Stimme in Ms 2064 vorhanden. In Bezug auf die österreichischen Handschriften geht Eichner davon aus, dass die Hymnen »über die Verbindung der kaiserlichen und erzherzoglichen Habsburgerhöfe von Wien nach Graz« kamen.[12] Ein Eintrag eines Grazer Inventars lässt auf weitere Hymnen Vaets schließen. Eine wahrscheinlich verlorene Quelle wird dort als »Mer Hymni Jacobi Vaet no 35« bezeichnet.[13]
Die Regensburger Handschrift enthält mit zwanzig Hymnen den größten Teil der heute bekannten Hymnen Vaets. Es fehlt einzig der Hymnus Conditor alme siderum, der ausschließlich in Ms 2064 auftaucht und dort mit »Jacob[us] Vaët« überschrieben ist. In Tabelle 1 sind Vaets Hymnen samt ihren wichtigsten Quellen zusammengestellt.[14]
Tabelle 1: Die Hymnen Jacobus Vaets und ihre Quellen
Nachdem einige Hymnen der Grazer Chorbücher dem Komponisten Vaet zugeordnet wurden, verbleiben in den Handschriften weitere siebzehn anonyme Hymnen. Eichner schlägt daher einen nächsten Schritt für die Forschung vor: »Möglicherweise ließen sich durch stilistische Vergleiche noch weitere der in A-Gu 67 und A-Gu 2064 anonym überlieferten Hymnen dem kaiserlichen Kapellmeister zuweisen.«[15] Dieser Vorschlag liegt auch deswegen nahe, weil in den Handschriften nur wenige andere Autoren genannt werden: In Ms 67 sind einige Hymnen mit »Arnoldi Flandri Eremitae« überschrieben und beide Handschriften enthalten Kompositionen von Orlando di Lasso, nämlich in Ms 2064 die Missa Domine Dominus noster (»Orlandi«) und ein Magnificat primi toni (»Orlandus«) sowie in Ms 67 ein anonym überliefertes Magnificat.[16]
Musikwissenschaftliche Untersuchungen mit dem Ziel, ein Werk auf der Basis stilistischer Merkmale einer Komponistin oder einem Komponisten zuzuschreiben, sind nicht immer erfolgsversprechend. Doch bei derart großen Unterschieden, wie sie zwischen Vaets Hymnen und den anonymen Hymnen erkannt werden, liegt zumindest teilweise eine Abgrenzung der beiden Werkgruppen nahe. Um für ein solches Vorhaben gerüstet zu sein, folgen im nächsten Abschnitt exemplarische Untersuchungen an Vaets Hymnen und deren Kompositionsweise.
Charakteristische Kompositionsmerkmale von Vaets Hymnen
Der von Zacconi erläuterte notationstechnische Spezialfall bewegte bereits Eckehard Kiem zu einer Analyse von A solis ortus cardine.[17] Darin konzentriert er sich zuerst auf den Ursprung der soggetti in der liturgischen Melodie, deren Beziehung sowie imitatorische Verarbeitung und kommt anschließend auf die Anlage der Kadenzen zu sprechen.
Gattungsbedingt ist die Bindung der mehrstimmigen Teile zur Choralvorlage bei Hymnen »naturgemäß besonders eng«.[18] Bei Jacobus Vaet ergeben die vier Zeilenanfänge einer Strophe somit vier soggetti, »die dann mit Hilfe imitatorischer Verfahren auf die Stimmen verteilt werden«.[19] In den ersten Teilen seiner Hymnen weicht Vaet nur selten von diesem Prinzip ab; in anschließenden Teilen greift er die exponierten soggetti wieder auf, behandelt sie aber freier. Eine Ausnahme ist Aurea luce: Im ersten Teil des Hymnus prägen fünf soggetti sieben unterschiedliche Imitationsfelder. Gelegentlich geht Vaet auch sparsamer mit den soggetti um. In den ersten Teilen von Iste confessor, Lauda magna ecclesia und Deus tuorum militum genügen drei soggetti und in O lux beata trinitas sind sogar nur zwei soggetti zu erkennen.
Bereits am Beginn von A solis ortus cardine (Abb. 2) beobachtet Kiem bei der Imitation des ersten soggetto eine »hohe Substanzdichte«, und im Abschnitt des dritten soggetto stellt er eine weitere Intensivierung durch »dreizehn Einsätze« fest.[20] Darüber hinaus besitzen alle vier soggetti miteinander vergleichbare Gestalten.[21] Mittels einer hohen Konzentration auf die Grundform einer steigenden Linie erreicht Vaet auf der motivischen Ebene eine übergeordnete Einheit. Die Behandlung der Kadenzen ist dieser Einheit entgegengesetzt: »Vaets Verfahren weist ein Höchstmaß an Variabilität auf: Kein Clausel-Geschehen wiederholt sich, wodurch dem Ganzen unerwartete Farbigkeit gesichert wird.«[22]
Abbildung 2: Jacobus Vaet, A solis ortus cardine, T. 1–8
Tabelle 2: Die Hymnen Jacobus Vaets, vertonte Strophen, Besetzung und Taktangabe
Neben den satztechnischen Kategorien ist auch der grundlegende Aufbau der Hymnen für den anstehenden Vergleich von Bedeutung (Tab. 2). In der Alternatim-Anlage, die für Hymnen gewöhnlich ist, hat A solis ortus cardine drei mehrstimmige Teile. Sie vertonen die geraden Strophen, die sich mit den einstimmigen ungeraden Strophen abwechseln. Laut Kiem kennt Vaet »nur den Typ mit Choral in den ungeradzahligen Strophen und Mehrstimmigkeit in den geradzahligen«.[23] Unter den neu entdeckten Hymnen ist eine Ausnahme zu bemerken: Hostis Herodes impie reiht mit der vierten und fünften Strophe zwei mehrstimmige Teile aneinander. Dreiteilige Anlagen sind insgesamt jedoch in der Minderheit, die meisten Hymnen bestehen aus zwei Teilen. Im Ausnahmefall wird der erste mehrstimmige Teil zur vierten Strophe wiederholt (Aurea luce und Magnum salutis gaudium), und zwei Hymnen kommen sogar mit nur einem mehrstimmigen Teil aus. In Jesu corona virginum erklingen zwei Strophen zur gleichen Musik, und O lux beata trinitas ist mit insgesamt drei Strophen ohnehin ein kurzer Hymnus, der nur einen mehrstimmigen Teil erfordert.
Häufig variiert in einem Hymnus auch die Besetzung der einzelnen Teile. A solis ortus cardine wechselt etwa zwischen der Fünf- und Dreistimmigkeit ab. Die vollständig überlieferten Hymnen sind insgesamt entweder fünf- oder sechsstimmig. Daher müssen mindestens vier Stimmbücher der Regensburger Handschrift verloren gegangen sein. Außerdem ist die Länge eines mehrstimmigen Teils zu berücksichtigen, die im Durchschnitt bei 44 Takten liegt; dabei befinden sich der kürzeste Teil mit 29 Takten in Lucis creator optime und die längsten Teile mit jeweils 59 Takten in A solis ortus cardine sowie in Aurea luce. Die wichtigsten allgemeinen Merkmale der Hymnen Vaets sind für einen stilistischen Vergleich demnach eine mindestens fünfstimmige Besetzung, die Vertonung der geraden Hymnus-Strophen und durchschnittlich kaum mehr als vier imitierte soggetti, deren Ursprung die liturgische Choralmelodie ist.
Die anonymen Hymnen der Grazer Chorbücher
Im Folgenden werden die anonymen Hymnen der zwei Handschriften Ms 67 und 2064 untersucht (Tab. 3) und Vaets Hymnen gegenübergestellt. Zunächst richtet sich die Aufmerksamkeit auf grundlegende Eigenschaften wie Besetzung, Umfang und Textverteilung, und anschließend auf die satztechnische Verarbeitung der liturgischen Vorlage.
Tabelle 3: Die anonymen Hymnen aus A-Gu Ms 67 und 2064
Die anonymen Hymnen, die ausschließlich in Ms 67 auftauchen, sind stets vierstimmig und mit einem Durchschnitt von 39 Takten etwas kürzer als Vaets Hymnen. Sie bestehen jeweils aus nur einem mehrstimmigen Teil, dem bis zu sechs Strophen unterlegt sind. Diese Strophen gehören mitunter verschiedenen Hymnen an. Beispielsweise folgen dem marianischen Hymnus Quem terra pontus passende Strophen aus O gloriosa virginum und Maria mater gratiae. Musik und Text wurden möglichst flexibel eingesetzt. Das gilt jedoch ebenso für Vaets Hymnen: In jene Handschrift wurde immer nur deren erster Teil kopiert. Im Umkehrschluss könnten die anonymen Hymnen in anderen Quellen auch mehrere Teile umfassen. Überdies sind etwa in Vaets einteiligem O lux beata trinitas alle drei Strophen notiert, was gegen den Alternatim-Vortrag spricht. Mit der Einteiligkeit und der veränderlichen Strophenzahl waren die Hymnen aus Ms 67 vermutlich für einen unkomplizierten Gebrauch in der Vesper vorgesehen, die mehrstimmige Musik mit geringem Probenaufwand erforderte.
Die nun genannten Aspekte wie die vierstimmige Besetzung und die Beschränkung auf einen mehrstimmigen Teil sind nur erste Anhaltspunkte und noch keine stichhaltigen Argumente gegen eine Autorschaft Vaets. Doch unterscheiden sich die Hymnen auch satztechnisch teilweise stark von dessen Schreibweise.
Die satztechnische Gestaltung der anonymen Hymnen
Während Vaet die liturgische Melodie durchweg in einzelne soggetti aufteilt, erscheint sie in Ms 67 mehrmals mit langen Notenwerten in einer Stimme. Die anderen Stimmen imitieren sie dabei wenig oder überhaupt nicht. Zwar ist Vaet diese Cantus-firmus-Arbeit nicht fremd, wenige Beispiele sind in seinen Motetten zu finden wie Continuo lacrimas/Requiem, doch seinen Hymnen liegt ein solches Konzept nie zugrunde.
Am auffälligsten ist dieser Cantus-firmus-Satz in Festum nunc celebre: Der Cantus gibt die Vorlagenmelodie in Semibreven wieder (Abb. 3). Erst nach ihrer vollständigen Präsentation weicht er vom starren Rhythmus ab und wiederholt die letzten Worte »pius arbiter« in einer rhythmisch gewandteren Schlussphrase (T. 35). Damit erinnert Festum nunc celebre etwa an die kompositorische Methode der Hymnen aus dem Chorbuch 34 der Universitäts- und Landesbibliothek Jena vom Anfang des 16. Jahrhunderts, deren cantus firmus vollständig mit regelmäßigen Notenwerten im Tenor notiert ist.[24] Somit ist ein früheres Datum als Vaets Schaffensperiode anzunehmen.
Abbildung 3: Anonym, Festum nunc celebre, T. 1–7
In anderen Hymnen sind solche cantus firmi in mehrere Phrasen aufgeteilt, die durch Kadenzen voneinander abgegrenzt werden. So imitieren drei Stimmen in O lux beata trinitas zunächst ein absteigendes soggetto, bevor ab T. 9 drei Phrasen des cantus firmus folgen. Ähnliches geschieht in A solis ortus cardine: Nach längeren Anfangsimitationen befindet sich der cantus firmus ab T. 19 im Cantus, der die Melodie aber mit einem dynamischeren Rhythmus vorträgt. Ebenfalls in Phrasen aufgeteilt ist der cantus firmus in Quod chorus vatum. Hier imitieren sich Cantus und Tenor, während Altus und Bassus nicht in den Prozess integriert sind. Auch zu Beginn von Hostis Herodes impie spielen Imitationen zwischen Cantus und Tenor eine Rolle; im weiteren Verlauf stoßen kürzere Imitationen der anderen Stimmen hinzu.
Manche Hymnen enthalten keinen gleichmäßigen cantus firmus, sondern sind stattdessen mit einzelnen soggetti geformt. Trotzdem zeigen sich wiederum Unterschiede zu Vaet: In Christe qui lux und Quem terra pontus präsentieren höchstens zwei Stimmen die Melodie (immer der Cantus), und in Veni redemptor gentium wird der polyphone Satzverlauf von zwei wiederholten homophonen Phrasen unterbrochen. Diese nehmen mit sechs Takten ein bedeutsames Ausmaß ein, da Homophonie in Vaets Hymnen so gut wie nicht existiert.
Die zwei letzten anonymen Hymnen aus Ms 67, Christe sanctorum decus und Urbs Jerusalem beata, könnten stilistisch am ehesten Vaet zugeordnet werden. Sie sind entlang einer Reihe imitierter soggetti gestaltet, die alle Stimmen aufgreifen. Der Beginn von Urbs Jerusalem beata kombiniert etwa unterschiedlich lange soggetti miteinander (Abb. 4). Allerdings wäre die soggetto-Anlage für Vaet ungewöhnlich: In beiden Hymnen können sechs soggetti gezählt werden, die jede Stimme mindestens einmal imitiert. Vaet führt aber üblicherweise nur vier soggetti durch, die sich an den vier Zeilenanfängen einer Strophe orientieren. Er stellt den soggetti demnach mehr Raum zur Verfügung und schöpft ihr Potenzial für eine längere Zeit aus.
Abbildung 4: Anonym, Urbs Jerusalem beata, T. 1–7
Völlig aus der Reihe fällt Conscendat usque sidera: In diesem Hymnus sind weder lange Notenwerte eines cantus firmus noch imitierte soggetti zu beobachten (Abb. 5). Außerdem steht er als einziger der hier betrachteten Hymnen im ionischen Modus und enthält einige Satzfehler. In den 22 Takten finden sich fünf Quint- oder Oktavparallelen sowie ein ungewöhnlich eingebundener Quartsextakkord (T. 3) und eine schrittweise eingeführte None, aus der der Bassus herausspringt (T. 4).[25]
Abbildung 5: Anonym, Conscendat usque sidera, T. 1–8
Von den insgesamt neunzehn Hymnen der Handschrift Ms 2064 bleiben nur fünf anonym, deren drei auch in Ms 67 erscheinen. Die zwei Hymnen, die ausschließlich in Ms 2064 zu finden sind, weisen Besonderheiten auf, die sich kaum mit Vaets Schreibweise vereinbaren lassen. Der letzte Hymnus A solis ortus cardine wurde von einer anderen Hand eingetragen und hebt sich auch im satztechnischen Bild von den übrigen Hymnen ab. Die vier Strophenzeilen sind fast vollständig homophon in dreizeitiger Mensur gesetzt und mit Pausen voneinander getrennt. Zwar ist Vaet für Abschnitte mit dreizeitiger Mensur durchaus bekannt,[26] doch deutet diese einheitliche Gestaltung nicht auf seine Hymnen hin, die niemals vollständig dreizeitig mensuriert und schon gar nicht homophon angelegt sind. Im zweiten Hymnus Audi benigne conditor können die soggetti der liturgischen Vorlage in regelmäßigem Abstand in allen Stimmen gesehen werden. Doch fallen die zwei Teile mit 24 und 26 Takten kürzer aus als bei Vaet üblich und mit der ersten, dritten und fünften Strophe sind die ungeraden Strophen mehrstimmig gesetzt, was außer einer fünften Strophe in Vaets Hostis Herodes impie nicht geschieht; im Gegensatz etwa zu Costanzo Porta oder Giovanni Pierluigi da Palestrina, die fast immer die ungeraden Strophen vertonen.[27]
Drei der anonymen Hymnen sind in beiden Handschriften enthalten. Während ihre fünfstimmige Besetzung zu der Kompositionsweise Vaets passen würde, behandeln zwei der Hymnen den Text auf eine unübliche Weise: Jesu nostra redemptio fände mit einem wiederholten Teil in Vaets Jesu corona virginum zwar noch eine Parallele, doch Veni creator spiritus ginge mit drei Strophen zu der gleichen Musik über seinen Ansatz hinaus. Außerdem sind beide Hymnen mit 21 und 23 Takten wiederum äußerst kurz. Der einzige anonyme Hymnus, der sich ohne starke Gegenargumente in Bezug auf Textgestalt, Besetzung, Länge oder Satztechnik in Vaets Hymnen einfügen ließe, wäre Jesu corona virginum.
Der anonyme Hymnus Jesu corona virginum
Unter den Hymnen Vaets gibt es bereits ein Jesu corona virginum mit dem gleichen Text. Doch ein direkter Vergleich der beiden Versionen ist nicht hilfreich, da sie unterschiedliche Melodien verwenden. Das anonyme Jesu corona virginum besteht aus zwei Teilen, einem vierstimmigen ersten und einem fünfstimmigen zweiten Teil; eine Anlage, die Vaet immerhin in fünf Hymnen gebraucht. Auch der Umfang würde Vaets Gewohnheit entsprechen. Mit 46 und 51 Takten der beiden Teile ist es einer der längsten Hymnen des anonymen Korpus, lässt man die Teilwiederholungen anderer Hymnen unberücksichtigt.
Hinsichtlich der soggetti sind ebenso Parallelen zu Vaets Hymnen zu entdecken: Eng an der liturgischen Vorlage orientiert sind im ersten Teil vier und im zweiten Teil drei soggetti unterscheidbar, die sich motivisch wiederum ähnlich sind. Sie bestehen aus Sekundschritten oder Terzsprüngen und spielen sich vor allem in einem Terzraum ab (in der Abb. 6 insbesondere d1–f1), wobei die wichtigsten soggetti außerdem die darüber liegende Quarte erreichen. Während sie zunächst tendenziell aufwärts gerichtet sind, schließt das letzte soggetto den Kreis und kehrt absteigend zur Finalis d zurück.
Abbildung 6: Soggetti des Cantus im anonymen Jesu corona virginum
Bei der vierstimmigen Imitation des ersten soggetto unterscheiden sich vor allem die Einsatzabstände (Abb. 7). Einzig der Tenor dehnt und figuriert das soggetto. Im Anschluss sind die Imitationsfelder nicht mehr in dieser Strenge konstruiert. Das zweite und dritte soggetto erscheint jeweils nur dreimal. Das vierte soggetto ist schließlich intensiver verarbeitet: Acht Einsätze bringen den ersten Teil aufgeteilt in zwei Passagen zu seinem Ende. Typisch für Vaet wären hier die an den Kontrapunkt angepassten Intervalle. Sekundschritt oder Terzsprung werden nun synonym verwendet.
Abbildung 7: Anonym, Jesu corona virginum, Beginn des ersten Teils
Zu Beginn des zweiten Teils erklingt eine fünfstimmige Imitation, deren soggetti wie zuvor in immer anderen Gestalten auftreten (Abb. 8). Anschließend folgen noch zwei weitere soggetti, die oftmals nicht direkt imitiert werden. So endet der Hymnus mit vier Phrasen, denen jeweils nur ein soggetto in abwechselnden Stimmen zugrunde liegt.
Abbildung 8: Anonym, Jesu corona virginum, Beginn des zweiten Teils
Durch die Verwendung aller möglichen Stufen des dorischen Modus entsteht in Jesu corona virginum eine vielfältige Kadenzlandschaft, die zumeist auf gewöhnlichen Klauselkombinationen basiert. Genau in der Mitte des Hymnus, gegen Ende des ersten und am Anfang des zweiten Teils, erklingen zwei Kadenzen, die besondere Dissonanzen enthalten und deswegen genauer betrachtet werden sollen.
Zunächst zur zweiten Kadenz (Abb. 9 rechts): Den Abschluss der Cantus-Phrase markiert eine Sopranklausel mit Quartvorhalt. Zur Quarte setzt der Altus die Terz hinzu und verleiht der Antepenultima eine markante Reibung, die in Vaets Werken regelmäßig erklingt.
Die erste Kadenz schließt hingegen überaus ungewöhnlich (Abb. 9 links): Nach einer dreistimmigen Kombination mit Sopranklausel im Tenor setzt zur Penultima der Bassus ein, der die Stimme des Altus weiterführt. Auf der Ultima löst sich dieser Ton nicht wie gewöhnlich als Bassklausel auf, sondern bleibt noch für eine Minima liegen. Damit erklingt eine dissonante Quarte, deren tiefer Ton schließlich abwärts aufgelöst wird. Inwieweit dieser instabile Zusammenklang gegen Vaets Autorschaft spräche, müsste eine umfassende Untersuchung seiner Kadenz- und Dissonanzbehandlung zeigen.
Abbildung 9: Anonym, Jesu corona virginum, Dissonanzbildungen in Kadenzen
Jesu corona virginum könnte also von Vaet stammen. Nach den erfolgten Ausführungen sprechen mehrere Aspekte dafür: die zweiteilige Form mit einer vierstimmigen Besetzung, die um eine zusätzliche Stimme erweitert wird, die Gesamtlänge des Hymnus, die Anlage der einander ähnlichen soggetti und die Vielfalt der Kadenzen, die teilweise auf typische Art dissonieren. Einzig die zuletzt beschriebene Kadenz, die sich ungewöhnlich auflöst, müsste als Argument gegen Vaets Autorschaft geprüft werden.
Kaum »mer Hymni«
Es dürfte allgemeiner Konsens darüber herrschen, dass stilistische Vergleiche wie der nun unternommene nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führen können. Damit ansatzweise eine stichhaltige Zuschreibung an Jacobus Vaet erfolgen dürfte, müsste das Wissen um seinen individuellen Stil so umfassend wie möglich sein. Doch gerade hinsichtlich Vaets Gesamtwerk steht eine »eingehende stilkritische Untersuchung« weiterhin aus, wie es bereits Eckehard Kiem festhielt.[28] Die hier vorliegenden, von Barbara Eichner angeregten Analysen konnten dennoch zeigen, dass Vaet in seinen 21 Hymnen eine erkennbare stilistische Handschrift hat. Viele wesentliche Merkmale stimmen innerhalb dieser Gruppe überein. Zwar kann ein davon abweichender Stil in weiteren, noch unbekannten Hymnen nicht ausgeschlossen werden. Es wäre aber dennoch sehr unwahrscheinlich, in formaler und satztechnischer Hinsicht völlig andersartige Hymnen zu entdecken, die mit dem Namen Vaet überschrieben sind.
Die Ausgangsfrage, ob anonyme Hymnen aus den Grazer Chorbüchern dem Komponisten Vaet zugeordnet werden könnten, lässt sich nicht abschließend beantworten. Doch haben die Untersuchungen mehr Unterschiede und weniger Gemeinsamkeiten gezeigt. Gerade die anonymen Hymnen aus Ms 67 weichen derart von seiner Kompositionsweise ab, dass eine Autorschaft Vaets nicht annähernd auf der Hand liegt. Falls weitere Hymnen aus dem anonymen Korpus von Vaet stammen sollten, stünde Jesu corona virginum an vorderer Stelle.
Anmerkungen
Herzlichen Dank an die Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek für deren freundliche Kooperation, insbesondere an ihren Direktor Dr. Peter Styra. Es werden die folgenden RISM-Sigla verwendet: D-Rtt (Regensburg, Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek) und A-Gu (Graz, Universitätsbibliothek). | |
Eichner 2019. Die Handschrift wurde im Jahr 1587 von Sixtus Meysel angefertigt, der Chordirektor des Klosters war. | |
Beide Chorbücher sind digitalisiert und können online eingesehen werden: https://resolver.obvsg.at/urn:nbn:at:at-ubg:2-27113 (A-Gu Ms 67) und https://resolver.obvsg.at/urn:nbn:at:at-ubg:2-31177 (A-Gu Ms 2064) (31.8.2024). | |
Editionen der acht bisher bekannten Hymnen befinden sich in Vaet 1968, 3–43. Die übrigen, von mir edierten Hymnen sind online verfügbar unter https://www.cpdl.org/wiki/index.php/Jacobus_Vaet (31.8.2024). | |
Zu diesem Thema schreibe ich gerade meine Dissertation Reaktion und Kreation. Musikalische Entlehnung in den Kompositionen von Jacobus Vaet. | |
Steinhardt 2001. | |
Steinhardt 1956. | |
Vaet 1958 und Vaet 1968. | |
Kiem 2006, 78. | |
Steinhardt 1956, 246. | |
Zacconi 1592, 168. | |
Eichner 2019, 114. | |
Ebd. | |
Zwei weitere gedruckte Quellen enthalten nur den dreistimmigen zweiten Teil von A solis ortus cardine: Gerlach 1567 und Phalèse 1569. | |
Eichner 2019, 114. | |
Ebd. Ohne Autornennung findet sich in Ms 67 außerdem ein Magnificat von Gallus Dressler (fol. 335v–341r). | |
Kiem 2006, 71–79. Die Überschrift seines Artikels ›Musico antico et celebrato‹ ist ein Zitat aus Zacconis Prattica di musica. | |
Ebd., 72. | |
Ebd. | |
Ebd., 72 und 75. | |
Ebd., 75. | |
Ebd., 77. | |
Ebd., 72. | |
Ward 2021. | |
Gegen einen Schreibfehler bei dieser None sprechen zwei Korrekturen, die in T. 5 auf drittem und viertem Schlag im Bassus von e zu c vorgenommen wurden. Das dissonante d hätte also auch etwa zu e korrigiert werden können. | |
Eckehard Kiem weist auf »die häufige Verwendung des ›großen‹ Dreiermetrums« hin (2006, 88). | |
Vaet 1958, V. | |
Kiem 2006, 88. |
Literatur
Eichner, Barbara (2019), »Messen, Madrigale, Unika: Mehrstimmige Musik aus Kloster Neresheim in der Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek«, in: Musikalische Schätze in Regensburger Bibliotheken, hg. von Katelijne Schiltz, Regensburg: ConBrio, 99–144.
Gerlach, Theodor (Hg.) (1567), Tricinia sacra, Nürnberg: Theodor Gerlach.
Kiem, Eckehard (2006), »›Musico antico et celebrato‹. Versuch über Jacobus Vaet«, Musik & Ästhetik 38, 67–89.
Phalèse, Pierre (Hg.) (1569), Selectissimarum sacrarum cantionum, Löwen: Pierre Phalèse.
Steinhardt, Milton (1956), »The Hymns of Jacobus Vaet«, Journal of the American Musicological Society 9, 245–246.
Steinhardt, Milton (2001), »Vaet, Jacobus«, in: Grove Music Online. https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.28889
Vaet, Jacobus (1958), Zwei Hymnen, hg. von Milton Steinhardt, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt.
Vaet, Jacobus (1968), Sämtliche Werke VII. Hymnen und Chansons, hg. von Milton Steinhardt, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt.
Ward, Tom R. (2021), »Hymnus. Mehrstimmige Hymnen. 15. Jahrhundert«, in: MGG Online, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel: Bärenreiter. https://www.mgg-online.com/mgg/stable/404511 (31.8.2024)
Zacconi, Lodovico (1592), Prattica di musica, Venedig: Bartolomeo Carampello.
HfMDK Frankfurt
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