Boenke, Patrick / Andrea Horz (2024), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 21/2. https://doi.org/10.31751/1212
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 30/12/2024
zuletzt geändert / last updated: 06/01/2025

Editorial

Die Fachbeiträge dieser Varia-Ausgabe spannen nicht nur kompositionsgeschichtlich einen weiten Bogen von der Musik des 16. Jahrhunderts bis zur musikalischen Moderne der 1910er Jahre, sondern demonstrieren auch sehr verschiedene analytische Zugangsweisen: von historisch informierter Stilkritik, Stimmführungsanalyse nach Heinrich Schenker, unterschiedlichen Zugriffsweisen auf die polymodal bzw. chromatisch erweiterte Harmonik im beginnenden 20. Jahrhundert bis hin zu einem neuartigen strukturanalytischen Ansatz für posttonale Musik, der u. a. von Allen Fortes pitch-class set theory beeinflusst ist.

Adrian Nagel wägt in einer Stilanalyse eine mögliche Autorschaft von bislang anonymen Hymnen ab, die zusammen mit Jacobus Vaet sicher zugeschriebenen Hymnen in zwei Grazer Chorbüchern überliefert sind. Aufgrund stilistischer Differenzen zu anderen Werken von Vaet tendiert Nagel im Ergebnis dazu, sie Vaets Oeuvre nicht zuzuschlagen.

Auch Andreas Weil beschäftigt sich mit der Frage nach Authentizität: Die Zuschreibung der Motette »Lobet den Herren, alle Heiden« an Johann Sebastian Bach (BWV 230) ist umstritten und wurde bereits in der Bach-Forschung kontrovers debattiert. In einer historisch-stilkritischen Untersuchung, die auch das Motettenschaffen im Umfeld von Bach in den Blick nimmt, führt Weil Argumente an, die eine Autorschaft Bachs plausibel erscheinen lassen.

Der Beitrag von Laurence Sinclair Willis wendet sich Gabriel Faurés Nocturnes für Klavier und damit einem bislang wenig analysierten Repertoire zu. Mit Blick im Speziellen auf den Kontrapunkt und gestützt auf das stimmführungsanalytische Verfahren Heinrich Schenkers zeigt Willis am Beispiel der eröffnenden Themen aus den Nocturnes die spannungsvolle Beziehung zwischen konsonanten Gerüststrukturen und dissonanten, Tonalität in verschiedener Weise verschleiernden Vordergründen auf.

Andreas Winkler nimmt mit Strawinskys Le sacre du printemps ein ikonisches Werk der musikalischen Moderne unter dem Gesichtspunkt der Harmonik in den Blick und deutet die unterschiedlichen modalen bzw. tonalen Organisationsweisen von melodischer Horizontale und klanglich geschichteter Vertikale als ›musikalischen Kubismus‹. Hierüber schlägt der Autor eine Brücke von der Musik zur Malerei, konkret zu zeitgleich zum Sacre entstandenen Werken von Pablo Picasso und Georges Braque.

Jonathan Lindhorst schließlich stellt die von Peter Schat und Jenny McLeod entwickelte tone-clock theory vor, eine bislang im deutschsprachigen Raum kaum rezipierte Theorie der Konfiguration aller zwölf chromatischen Töne für die Analyse posttonaler Musik. Der Artikel versteht sich gleichermaßen als Einführung wie auch Anleitung und Ermutigung zu eigenen analytischen Versuchen.

Abgerundet wird das Varia-Heft durch einen Beitrag der Autor:innen-Gruppe Andreas Feilen, Christina Schnauß und Mark Gotham, der eine Umfrage auswertet, die 2023 auch unter den Mitgliedern der GMTH durchgeführt wurde. Gefragt wurde nach dem Gebrauch fachspezifischer Termini sowie bevorzugter musiktheoretischer Lehrwerke im deutschsprachigen Hochschulbetrieb. Ausgehend von den Ergebnissen werden Vergleiche zur angelsächsischen Lehre gezogen.

Ein großer Dank gilt den Autoren dieser Ausgabe, deren Engagement das vorliegende Heft erst ermöglichte. Herzlich gedankt sei auch allen Beteiligten am vorausgegangenen Peer-Review-Verfahren für ihre produktiven Kommentare und Anregungen. Im Besonderen danken wir Jakob Schermann und Anne Ewing-Greinecker für das Korrektorat, Werner Eickhoff-Maschitzki für die Vorbereitung der Grafiken sowie Dieter Kleinrath für das Erstellen der PDF-Fassung.

Patrick Boenke, Andrea Horz

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