Aerts, Hans (2021), »Nicholas Baragwanath, The Solfeggio Tradition. A Forgotten Art of Melody in the Long Eighteenth Century, New York: Oxford University Press 2020«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 18/1, 179–185. https://doi.org/10.31751/1112
eingereicht / submitted: 04/06/2021
angenommen / accepted: 04/06/2021
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 28/06/2021
zuletzt geändert / last updated: 25/06/2021

Nicholas Baragwanath, The Solfeggio Tradition. A Forgotten Art of Melody in the Long Eighteenth Century, New York: Oxford University Press 2020

Hans Aerts

Schlagworte/Keywords: Satzmodelle; schema theory; Solfège; Solfeggio; Solmisation; solmization

Seit der Wiederentdeckung der italienischen und insbesondere neapolitanischen Methoden der Musikausbildung des 18. Jahrhunderts um die Jahrtausendwende ist dem Solfeggio im Vergleich zum Partimento deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden. Aus diesem Schatten holt es Nicholas Baragwanath, associate professor an der Universität Nottingham, mit einer 410-seitigen Monographie, die im vergangenen Jahr erschienen ist, hervor. Dass deren Titel und Verlag unwillkürlich an Giorgio Sanguinettis The Art of Partimento (2012) erinnern, dürfte nicht ganz unbeabsichtigt sein. Bei der Lektüre wird schnell klar, dass Baragwanaths Studie mindestens das Gegenstück zu Sanguinettis Buch sein möchte.

Auf die Relevanz des Solfeggios wurde indessen bereits früher hingewiesen. In Music in the Galant Style nannte Robert Gjerdingen Partimenti und Solfeggi in einem Atem als »Rituale«, wodurch die für den »galanten Stil« charakteristischen Schemata tradiert worden seien.[1] Seiner 2005 lancierten Website Monuments of Partimenti stellte er bald das Schwesterprojekt Monuments of Solfeggi an die Seite.[2] Den Umfang des Solfeggio-Repertoires hat Peter van Tour mit der 2016 veröffentlichten Datenbank UUSolf ausgelotet.[3] Sie enthält aktuell über 12.000 Einträge.

Gjerdingen erkannte in diesen meist zweistimmigen, untextierten Stücken »exercises in style for voice and basso continuo, providing a storehouse of contrapuntally and harmonically contextualized melodic exemplars useful in partimento realizations and free composition«.[4] Baragwanath folgt ihm hierin, möchte die Bedeutung dieses Repertoires aber noch höher eingestuft wissen. Er sieht in Solfeggi nichts Geringeres als den Schlüssel zu einem neuen Verständnis des Know-how professioneller Musiker*innen des 18. Jahrhunderts in den Bereichen Komposition, Improvisation, Verzierungspraxis und Prima-Vista-Musizieren, »the promise of an answer as to how professional musicians in the past managed to compose so fluently, to improvise and embellish instantaneously, and to switch effortlessly between seven clefs« (3).

Eine zentrale Rolle spielt dabei Baragwanaths Antwort auf die Frage, wie diese Stücke musiziert wurden. Da sehr viele Solfeggi Oberstimmen aufweisen, die angesichts ihrer kleinen Notenwerte, großen Sprünge und häufigen Sprungfolgen bei schnellem Tempo aus heutiger Sicht wie Instrumentalmusik erscheinen, liegt es nahe, sich solche Stücke trotz ihrer Bezeichnung eher vokalisiert (etwa auf dem Vokal A) als solmisiert vorzustellen. Schließt man ein Singen auf Solmisationssilben trotzdem nicht von vornherein aus, fragt sich, nach welcher Solmisationsmethode dies praktiziert wurde.

Anhand zahlreicher Belege zeigt Baragwanath, dass in der professionellen Musikausbildung in Italien bis ins 19. Jahrhundert hinein die aus dem Mittelalter überkommene Hexachordsolmisation ihre Geltung behalten hat. Die Dur-Skala wurde dabei als eine Verschränkung des Hexachords auf der ersten und des Hexachords auf der fünften Stufe betrachtet; der Wechsel zwischen diesen Hexachorden geschah nach den seit Jahrhunderten tradierten Mutationsregeln (ansteigend also: do re mi fa sol / re mi fa; absteigend: fa mi \ la sol fa mi re do).[5] Die Solmisation einer Moll-Skala erfolgte somit von re aus (ansteigend: re mi fa / re mi fa sol la; absteigend: la sol fa \ la sol fa mi re). Ob die 6. und 7. Stufe dabei ›hoch‹ oder ›tief‹ sind, wurde von der Solmisation nicht abgebildet; in beiden Fällen bleiben die betreffenden Silben fa bzw. sol (98–103). Auch andere Alterationen hatten keinen Einfluss auf die Solmisationssilbe, es sei denn, sie initiieren eine längerfristige Ausweichung in eine Nebentonart (103–108).

Bei der Rekonstruktion der Prinzipien dieser Solmisationsmethodik und ihrer Anwendung auf liturgische Gesänge in der Tradition des gregorianischen Chorals (canto fermo) und auf einfache Übungen, die Chorknaben auf dieses Repertoire vorbereiten sollten, kann sich Baragwanath quellenmäßig gut absichern. Im Hinblick auf ihre Anwendung auf virtuosere Solfeggi wagt er sich hingegen auf dünneres Eis. Dort, so seine These, habe die Sängerin oder der Sänger melodische Gerüsttöne identifiziert und jene Töne, die diese diminuieren, zu Melismen zusammengefasst, gesungen auf den Solmisationssilben, die zu diesen Gerüsttönen gehören. Baragwanath unterscheidet hierbei die von ihm so genannte »Amen rule« (130) und »Appoggiatura rule« (137), je nachdem, ob die erste oder die letzte Note einer Gruppe als deren Hauptnote gelten kann. Das Beispiel in Abbildung 1 illustriert beide Prinzipien auf engstem Raum und zeigt laut Baragwanath die Quintessenz der »Kunst des Solfeggios«.[6] Das cis in Takt 1 solle noch als do gesungen werden, das cis in Takt 2 bereits als re:

Abbildung

Abbildung 1: »Ex. 7.2« (135); die Silben wurden vom Autor hinzugefügt, die Bögen und Striche entsprechen laut seinen Angaben den Quellen

Die Linien unter der Oberstimme in diesem Notenbeispiel unterscheidet Baragwanath als »traits« bzw. »traits of vocalization« von Legatobögen (147–153). Solche »traits« bedeuten ihm zufolge, dass die Solmisationssilbe beibehalten werden müsse und seien in den Manuskripten durch ihre flachere Kurve von Legatobögen unterscheidbar. Außerdem zeigten die Quellen gelegentlich »solmization dots«: Punkte, größer als Staccato-Zeichen, die einen Silbenwechsel an Stellen fordern, wo das Beibehalten der bisherigen Solmisationssilbe naheliegen würde (135, 208).

Auf der Grundlage seiner These, dass beim Solmisieren eines Solfeggios die Silben von Gerüsttönen auch für die ihnen untergeordneten Töne verwendet wurden, kann Baragwanath komplexe melodische Strukturen auf einfache »patterns of syllables« zurückführen. Manche solcher Silbenmuster findet er (in unterschiedlichsten »realizations«, also Diminutionen) im Solfeggio-Repertoire sehr häufig; diese bildeten somit dessen Grundvokabular. Durchs Singen einer großen Anzahl von Solfeggi konnten diese »stock patterns of syllables« (18, 155) sowie die vielfältigen Möglichkeiten ihrer »Realisierung« und Verknüpfung verinnerlicht und abrufbar gemacht werden.

Im ersten der drei Teile des Buches beleuchtet Baragwanath zunächst die sozialhistorischen Kontexte der Solmisationspraxis und des Solfeggio-Repertoires im 18. Jahrhundert. Am Beispiel Joseph Haydn schildert er, wie eine professionelle Musikausbildung in katholisch geprägten Regionen damals ihren Anfang nahm. Die Kirche stellt er als zentralen institutionellen Träger dieses Ausbildungswesens heraus. Da Chorknaben zunächst in das Choralrepertoire für die mehrmals täglich stattfindenden liturgischen Dienste eingeführt werden mussten, gehörte die im Mittelalter zu diesem Zweck entwickelte Hexachordsolmisation unvermindert zu den ersten Grundlagen der Ausbildung. Der Teil schließt mit der Darstellung einiger stilistischer Neuerungen, die im 18. Jahrhundert in den Choralgesang Einzug gehalten hatten (Rhythmisierung und Gebrauch von Akzidenzien), und mit einer ersten Einführung in die Hexachordsolmisation.

Im zweiten Teil wird zuerst diese Solmisationsmethode weiter vertieft und ihre Anwendung auf Solfeggi im galanten Stil (auch anhand praktischer Übungen) thematisiert. Dann rückt Baragwanath einige der »stock patterns of syllables« in den Fokus, die ihm zufolge diesen Solfeggi im Wesentlichen zugrunde lägen. Hierzu zählen neben bestimmten Kadenzformeln und modulierenden Wendungen u. a. die Folge do-re-mi, das Muster la-sol-fa-mi bzw. Gjerdingens Prinner (zumindest in Dur),[7] das von Joseph Riepel als Fonte bezeichnete zweigliedrige Pattern sol-fa, fa-mi sowie »the modulating Sol-fa-mi« (201), das mit Riepels Monte übereinstimmt. Dabei präsentiert Baragwanath häufig als Erstes eine Reduktion der Oberstimme eines Solfeggios oder Solfeggio-Abschnitts, fordert seine Leserschaft auf, diese zunächst solmisiert zu singen und dann singend (auf den Silben der Gerüsttöne) zu unterschiedlichen Variationen zu diminuieren, und kommentiert dann das jeweilige Original. Seine Befunde setzt er in Beziehung zu Theorien zum Spracherwerb des Linguisten Stephen Krashen und zu einem Artikel über die Berührungspunkte der sprachbezogenen Konstruktionsgrammatik und der musikbezogenen schema theory von Robert Gjerdingen und Janet Bourne.[8]

Der dritte Teil skizziert eine Geschichte und Typologie des Solfeggio-Repertoires und thematisiert das Verhältnis zwischen dem Solfeggio und dem Partimento. In einem Epilog beschreibt Baragwanath einige Solmisationsmethoden, die als Alternativen zur Hexachordsolmisation vorgeschlagen worden sind (Ramos de Pareja, Waelrant, Hitzler u. a.), und fragt schließlich nach den Gründen für das Ende der italienischen Solfeggio-Tradition: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hätte weder die Kirche noch die Aristokratie ihre Rolle als Träger eigener »Musikindustrien« länger aufrechterhalten können; der Musikmarkt sei zunehmend von einer Mittelklasse dominiert worden, für die eine langwierige musikalische Ausbildung mittels Solfeggi keine sinnvolle Option darstellte (306).

The Solfeggio Tradition enthält wichtige Denkanstöße. Die These, wonach beim Solmisieren die Silben bestimmter Gerüsttöne auf die sie diminuierenden Töne übertragen wurden, bietet dem heutigen Solfège-Unterricht sinnvolle Anregungen: Das analytische Bewusstsein wird durch die Anwendung der »Amen rule« und der »Appoggiatura rule« zweifellos geschärft. Und auch der umgekehrte Weg, das Diminuieren einfacher Strukturen, der in der Instrumentaldidaktik bereits wieder verbreiteter sein dürfte, wäre für die Solfège- und Gesangsdidaktik sicherlich ein Gewinn. Außerdem war es überfällig, die Langlebigkeit der Tradition der Hexachordsolmisation in der Musikausbildung in Südeuropa in ihren Konsequenzen zu durchdenken.

Bedauerlich ist andererseits, dass Baragwanath in seiner Begeisterung für seine Befunde kaum mehr eine Distanz zu ihnen zu wahren droht. Die von ihm rekonstruierte Praxis stilisiert er zu einer allumfassenden »Art of Melody« (siehe u. a. den Untertitel) hoch. Am Ende des Buches, so sein Versprechen in der Einleitung, soll seine Leserschaft gelernt haben, »how to develop themes in a variety of styles, including imitative fugues, and to fashion them into multi-movement ›cyclic‹ forms arranged into slow-fast pairs. We will, in short, know how to create music on the spot, like an eighteenth-century solfeggist« (18). Wie die verschiedenen »patterns of syllables«, die Baragwanath in seinen Analysen nachweist, zu funktionierenden Formen verknüpft werden können, bleibt aber unausgesprochen. Das zeigen also die Solfeggi und ihre Reduktionen genauso deutlich bzw. undeutlich wie jedes andere Stück, in dem sie gefunden werden können. Ebenso bleibt er den Nachweis schuldig, dass jeder »solfeggist« im Handumdrehen solche Sätze zu Papier brachte oder improvisierte. Mitunter schreibt er mit dem Pathos eines Erleuchteten, dessen Entschlüsselung von Kunstgeheimnissen bislang unerreichbare Zugangsweisen und Erkenntnisse ans Licht gebracht habe:

The analyses that follow […] offer an opportunity to marvel at the breathtaking ingenuity and artistry displayed by professional musicians at that time. […] Bringing their dead language back to life reveals, for those interested in music, beauties and surprises every bit as exciting as the secrets once surrendered by cuneiform tablets or Egyptian hieroglyphs. (162)[9]

Es fragt sich jedoch, inwiefern die ›Entdeckung‹ von Silbenpatterns über Gjerdingens oben zitierte Einschätzung von Solfeggi als Exempla, welche idiomatische melodische Wendungen im Kontext einer Zweistimmigkeit und einer bestimmten Form vorführen, hinausführt.

Zumindest scheint es so, dass Baragwanath eine Reihe von Schemata auf eine bestimmte Art und Weise im expliziten Wissen von Musiker*innen, in deren Ausbildung Solfeggi eine wichtige Rolle spielten, verortet wissen will: Ein Prinner in Dur sei ein ›la-sol-fa-mi‹, eine Quiescenza[10] ein ›fa-mi / mi-fa‹ (160), bestimmte Halbschlüsse seien ein ›la-sol‹ (174) gewesen usw.[11] Hierzu passt auch, dass er öfters »inganni«,[12] »surprises« und »jokes« an Stellen diagnostiziert, wo er Silbenpatterns entdeckt, bei denen die Töne unterschiedlichen Hexachorden angehören (siehe z. B. 195, 211, 271). Diese seien dazu da, Schüler auf eine falsche Fährte zu locken oder zu unterhalten (10, 231). Auch idiomatische Wendungen (und insofern separate Schemata) wie Gjerdingens high 2 drop[13] (z. B. f1-d2-f1-e1 statt f1-g1-f1-e1, beides fa-sol-fa-mi, über einer Sopranklausel im Bass) oder die Folge 5-4-4-3 (z. B. in C-Dur: g-fis-f-e) über einem diatonisch von der 5. zur 1. Stufe ansteigenden Bass führt Baragwanath auf solche Spielereien zurück (122, 236). Dies bekräftigt den Eindruck, dass die von ihm beschriebenen Silbenpatterns für ihn nicht bloß melodische Strukturen auf eine spezifische Weise abbilden, sondern begründen. Auch die Beantwortung von Fugenthemen, Modulationen in die Ober- und Unterquinttonart und gar den Quintenzirkel sieht er durch die Hexachordsolmisation begründet.[14]

Hier liegen aber offenkundig logische Fehlschlüsse vor: Beim Verhältnis von Dux und Comes etwa besteht die primäre Idee darin, dass fugae intervallgenaue Imitationen sein sollten, woraus eine Entsprechung der Silben dann resultiert. Nicht thematisiert bleibt außerdem, dass manche der vermeintlichen inganno-Wendungen bei einem Wechsel von Dur nach Moll oder umgekehrt keine inganni mehr sind (weil dabei ganz andere Silbenfolgen entstehen) und dass sie nur in gewissen kontrapunktischen Zusammenhängen möglich sind. Überhaupt blendet Baragwanath die Wechselbeziehung zwischen Melodie und Bass weitestgehend aus und betrachtet den Bass grundsätzlich als Kontrapunkt zur Melodie.[15] Dass melodische Wendungen umgekehrt als Kontrapunkt zu idiomatischen Fortschreitungen im Bass funktionieren und dadurch in ihren Möglichkeiten eingeschränkt sind, zieht er nicht in Betracht.

Unkommentiert bleibt auch, dass sich tonale Strukturen mit Hexachordsolmisation nicht hinreichend abbilden lassen. Aus guten Gründen ist in Generalbasstraktaten wie etwa Fedele Fenarolis Regole z. B. von der »prima del tono, che cala alla settima«, also von der 1. Stufe, die zur 7. absteigt, die Rede,[16] statt von fa-mi oder la-sol, was außerdem als 4.-3. Stufe in Dur und 3.-2. oder 6.-5. Stufe in Moll, bzw. auf 3.-2. oder 6.-5. Stufe in Dur oder 5.-4. Stufe in Moll verstanden werden könnte. Die Ausdrücke fa-mi oder la-sol können also (Mutationen nicht eingerechnet) auf jeweils vier unterschiedliche tonale Kontexte verweisen, die sowohl wenn sie im Bass als auch wenn sie in der Oberstimme vorkommen, teilweise unterschiedliche Möglichkeiten der Kontrapunktierung erlauben.[17]

Weiterhin sei angemerkt, dass Baragwanath von seiner Leserschaft mitunter viel guten Willen abverlangt, um mit den an sich faszinierenden Thesen der »Amen rule«, »Appoggiatura rule« und der Existenz von »traits of vocalization« sowie mit seinen Analysen mitzugehen. So basiert die »Amen rule« auf kaum mehr als auf einer Stelle in Li primi albori (1679) von Lorenzo Penna (130); da es die Quellenlage wohl kaum anders zulässt, stammen die allermeisten Silben in den Notenbeispielen von Baragwanath selbst. In Francisco Solanos Nova instrucção, worauf sich Baragwanath öfter bezieht, werden (ohne dass er dies problematisiert) jedoch entgegen beiden ›Regeln‹ Sechzehntel und Zweiunddreißigstel ausdrücklich aussolmisiert.[18] Einige der »traits of vocalization« in seinen Transkriptionen, von denen seine Analysen ausgehen, entsprechen nicht den Strichen in den abgedruckten Quellenabbildungen.[19] Und auch einige der von ihm hinzugefügten Bässe rufen Widerspruch hervor, wie im Beispiel in Abbildung 2, in welchem Baragwanath von einem Solfeggio in A-Dur ausgeht, das in der Oberquinttonart ende und in T. 5 eine »surprise modulation« nach h-Moll aufweise (208–210), während eine Deutung in E-Dur (etwa mit einem Bass e-dis-cis-dis-e bis zur Mitte von T. 2) mit einem Ganzschluss in H-Dur in T. 6 (ohne die stilistisch fragwürdige Quarte unter dem fis in T. 5) deutlich plausibler erscheint. In T. 12 könnte zudem an einen Passo Indietro im Sinne Gjerdingens[20] gedacht werden, also an einen Bass mit zweimal punktierter Viertel d und Achtel cis, gefolgt von einer Achtelkette d-e-fis-gis in T. 13.

Abbildung

Abbildung 2: »Ex. 8.26 (b)« (Ausschnitt) (209); der Akzent-Keil in T. 2 entspricht einem Zeichen in der Originalquelle, das Baragwanath als »solmization dot« interpretiert

Nach diesen kritischen Anmerkungen sei jedoch schließlich wiederholt, dass Nicholas Baragwanath mit The Solfeggio Tradition einen bislang allzu sehr vernachlässigten Aspekt der musikalischen Praxis des 18. Jahrhunderts eindringlich in den Fokus rückt. Wer sich mit dem Repertoire und der Musiktheorie dieser Epoche näher beschäftigt, tut gut daran, die damaligen Solmisationspraktiken zu berücksichtigen und sich zu Baragwanaths Thesen eine persönliche Meinung zu bilden. Dass dies ohne eigene praktische Übungen und Versuche mit mehreren Solfeggi nicht möglich ist, betont Baragwanath zu Recht, und sein Buch bietet dazu zahlreiche Anregungen.

Anmerkungen

1

Gjerdingen 2007, 412.

2

Diese Websites wurden mittlerweile in der Wayback Machine des Projekts Internet Archive archiviert und werden unter www.partimenti.org weitergeführt (13.6.2021).

3

https://www2.musik.uu.se/UUSolf/UUSolf.php (13.6.2021)

4

Gjerdingen 2011, 191.

5

Die Verwendung solcher Schrägstriche zur Kennzeichnung von Mutationen entstammt nicht historischen Quellen, sondern geht auf Baragwanath selbst zurück (90 f.).

6

»In its exploitation of both the Amen rule and the Appoggiatura rule to elaborate a simple pattern of intervals, example 7.2 encapsulates the whole art of solfeggio.« (139)

7

Siehe Gjerdingen 2007, Kap. 3. Dass für Gjerdingen ein Prinner auch in Moll vorkommen kann, zeigen u. a. seine Notenbeispiele auf den Seiten 441–444.

8

Gjerdingen/Bourne 2015.

9

Außerdem: »It felt as if a veil had been lifted from the manuscripts in front of me. Freed from the destorting lens of twentieth-century harmonic theory, the syllabic foundations of familiar patterns and devices, realized in all manner of florid styles, leapt of the page.« (8) »Performing a melody in multiple contrasting ways or constructing a melodic composition by vocalizing a solfeggio was a profound trade secret.« (15)

10

Siehe Gjerdingen 2007, Kap. 13.

11

Recht eindeutig in dieser Hinsicht ist die Aussage: »On the evidence of solfeggio practice, Prinners, together with the many other mental frameworks for composition and improvisation surveyed in Gjerdingen’s ground-breaking theory of Galant schemata, should no longer be regarded as theoretical constructs but as historical facts.« (164)

12

Zu inganni in Musik der Renaissance siehe Schubert 1995, 10 f.

13

Siehe Gjerdingen 2007, 74.

14

»Shifting from one hexachord to another in hard and soft melody is called mutation. […] It explains, among other things, the commonplace practice of answering a statement in the tonic with a response in the dominant.« (89) »Sharping F to F in C major, for example, changed the key to G major. Flatting the seventh degree reversed the process by turning it into the fourth degree of the key situated a perfect fifth below. […] Sabbatini characterized these techniques of modulation as the ›altered fourth‹ and ›altered seventh‹. They grew from an inherent property of the medieval system for singing plainchant. […] [T]he ancient technique of swapping fa for mi and mi for fa gave rise to twelve keys around the circle of fifths.« (106; Hervorhebung d. Verf.)

15

»The bass line never came first in solfeggio. It was always created in response to a melody.« (125; siehe dazu auch 243–245)

16

Fenaroli 1775, 6.

17

Z. B. wäre es unproblematisch, unter einer 2., 5. oder 7. Stufe in der Oberstimme eine Sexte als Basston zu setzen, während dies unter einer 3. Stufe nur in bestimmten Zusammenhängen funktioniert.

18

Solano 1764, 104 und 118.

19

Siehe z. B. 199, 201 f. und 204 f.

20

Siehe Gjerdingen 2007, 167.

Literatur

Fenaroli, Fedele (1775), Regole musicali per i principianti di cembalo, Neapel: Mazzola-Vocola. Online-Edition in Saggi musicali italiani: https://chmtl.indiana.edu/smi/settecento/FENREG_TEXT.html (13.6.2021)

Gjerdingen, Robert (2007), Music in the Galant Style, New York: Oxford University Press.

Gjerdingen, Robert (2011), »Gebrauchs-Formulas«, Music Theory Spectrum 33/2, 191–199.

Gjerdingen, Robert / Janet Bourne (2015), »Schema Theory as a Construction Grammar«, Music Theory Online 21/2. https://mtosmt.org/issues/mto.15.21.2/mto.15.21.2.gjerdingen_bourne.html (13.6.2021)

Sanguinetti, Giorgio (2012), The Art of Partimento. History, Theory, and Practice, New York: Oxford University Press.

Schubert, Peter (1995), »A Lesson from Lassus: Form in the Duos of 1577«, Music Theory Spectrum 17/1, 1–26.

Solano, Francisco Inácio (1764), Nova instrucção musical, ou theorica pratica da musica rythmica […], Lissabon: Manescal da Costa. https://purl.pt/174 (13.6.2021)

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