Editorial
In letzter Zeit reichen Autorinnen und Autoren vermehrt auf eigene Initiative Texte bei der ZGMTH-Redaktion ein. Diese erfreuliche Tendenz prägt die vorliegende Varia-Ausgabe. Ihre thematische und methodische Vielfalt reicht von der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit Heinrich Schenkers Geniebegriff bis hin zu klang- und performanceorientierten Untersuchungen zu Maurice Ravel, Iannis Xenakis und Improvisation in iranischer klassischer Musik, sowie von der Auswertung von Quellen zu Solmisationsmethoden im 17. und 18. Jahrhundert und zum Kontrapunktunterricht am Pariser Conservatoire bis hin zur Theoretisierung der Konzertform in Klavierkonzerten des frühen 19. Jahrhunderts unter Bezugnahme auf die Sonata Theory von James Hepokoski und Warren Darcy. Auch von den medialen Möglichkeiten, die die ZGMTH bietet, wird verstärkt Gebrauch gemacht, wie die Beiträge von Lukas Haselböck, Diederik Mark de Ceuster und Davoud Tavousi zeigen.
Der Artikel von Marko Deisinger (Wien) knüpft thematisch eng an die vorletzte ZGMTH-Themenausgabe »Musiktheorie und Gender Studies« an:[1] Deisinger untersucht anhand umfangreicher Quellen[2] den männlich konnotierten Geniebegriff Heinrich Schenkers und zeigt nicht nur Schenkers Verhaftetsein in einem antimodernistischen Gesellschaftsbild und essentialistischen Geschlechterverständnis auf, sondern arbeitet auch Verbindungslinien zwischen Schenkers zentralen musiktheoretischen Konzepten wie der Urlinie und seinen deutschnational gefärbten, hierarchisch geprägten politischen Ansichten sowie traditionalistischen Genderrollenzuschreibungen heraus. Deisinger schließt damit an ideengeschichtliche Untersuchungen zu Schenkers Musiktheorie etwa von Martin Eybl oder Robert P. Morgan an,[3] setzt den Fokus hier aber insbesondere auf die tragende Rolle des Geniekonzepts für Schenkers Musiktheorie. Mit Deisingers Untersuchung wird abermals deutlich, dass die von Schenkers Lehre ausgehende Analysemethode keineswegs eine bloß ›werkimmanente‹, strukturanalytische Methode ist, sondern auf weitreichenden ästhetischen Prämissen fußt, die erheblichen Einfluss auf das jeweilige Verständnis der analysierten Werke sowie auf das musiktheoretische Geschichtsbild und die Kanonbildung haben.
Lukas Haselböck (Wien) und Diederik Mark de Ceuster (Leuven) thematisieren in ihren Beiträgen zum Prélude à la nuit aus Ravels Rapsodie Espagnole (1907–08) sowie Xenakis’ Satz Métaux aus dem Zyklus Pléïades (1978) musikalische Aspekte, die sich vorrangig textbasierten Analysemethoden weitgehend entziehen und daher auch häufig weniger intensive Beachtung in der musiktheoretischen Auseinandersetzung und Methodenreflexion finden: So untersucht Haselböck das Verhältnis von Klangfarbe und Form im Prélude à la nuit anhand fünf verschiedener Aufnahmen, ausgehend von der grundlegenden Auffassung, dass hier die Klangfarbe die musikalische Form als ein multidimensionales Ganzes wesentlich mitkonstituiert. Haselböck bezieht sowohl spektralanalytische Beobachtungen als auch rezeptionsästhetische und expektanzpsychologische Überlegungen, insbesondere in Bezug auf die Multiperspektivität der Klangfarben- und Formwahrnehmung, mit ein. Eine wichtige Rolle spielt hierbei u. a. das Konzept der ›Klanghelligkeit‹. Sein Beitrag gibt nicht nur neue Impulse zu Methoden einer wahrnehmungssensitiven Klang- und Formanalyse, sondern diskutiert auch rezeptionsgeschichtliche Aspekte des Ravel-Bilds etwa in Hinblick auf Vladimir Jankélévitchs einflussreiche Ravel-Rezeption.[4]
In de Ceusters Beitrag bildet Klangfarbe ebenfalls einen zentralen Ausgangspunkt. Gefragt wird hier nach der ästhetischen Wirkung und der spezifischen agency der Sixxen in zwölf Aufnahmen von Métaux mit verschiedenen Sixxen-Sets. Da die Bauweise dieses von Xenakis selbst konzipierten Instruments nicht ganz festgelegt ist, arbeiten Ensembles mit Sixxen, deren mikrotonale Stimmung, Tonhöhenverteilung und Klangfarben mitunter sehr unterschiedlich sind. De Ceuster untersucht die Auswirkungen hiervon anhand vergleichender Spektralanalysen und konstatiert einen erheblichen Einfluss der jeweiligen Instrumentarien auf die Hörwahrnehmung, vor allem auf der mikroformalen Ebene, so etwa in Bezug auf das Verhältnis von rhythmischer Periodizität und ›arhythmischen Klangwolken‹.
Mit dem Beitrag von Davoud Tavousi (Saarbrücken) wird der Horizont dieser Ausgabe auch auf außereuropäische Musiktraditionen hin erweitert, was selten genug der Fall ist. Tavousi, selbst konzertierender Santurspieler, untersucht in seinem Artikel Lehr- und Lernprozesse sowie explizite und implizite Regeln der modalen Solo-Improvisation in iranischer klassischer Musik mithilfe einer vergleichenden Strukturanalyse unterschiedlicher Vokal- und Instrumental-Performances einer bestimmten Gūše. Der oder die Leser*in erfährt so nicht nur einige Grundlagen des modalen Tonsystems der iranischen klassischen Musik, sondern erhält insbesondere einen Einblick in die vorwiegend mündlich vermittelten Improvisationstechniken und -künste. Tavousi thematisiert hierbei auch das Verhältnis von kreativer Freiheit und systematisch erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten in der Improvisation. Sein vergleichender analytischer Ansatz macht deutlich, dass improvisatorische Kreativität wesentlich auf der Imitation und Aneignung erlernter Modelle basiert, bevor mit diesen freier umgegangen werden kann; hierin zeigt sich eine interessante Anschlussfähigkeit an den jüngeren Improvisationsdiskurs in der historisch informierten Musiktheorie und Satzlehre.[5]
Historische Unterrichtsmethoden und -materialien sind Gegenstand der Beiträge von Luis Ramos (Bern/Lübeck) und Birger Petersen (Mainz). Ramos fokussiert sich auf die verschiedenen Solmisationsmethoden, die der spanische Hofmusiker Manuel Cavaza in seinem Traktat El cantor instruido (1754) thematisiert. Dieser zeigt sich dort gut informiert über Alternativen zur traditionellen guidonischen Solmisation, die u. a. im 17. Jahrhundert in Spanien und Frankreich entwickelt wurden, und redet einem pragmatischen Methodenpluralismus das Wort – was nicht zuletzt angesichts der heute mitunter immer noch hitzig geführten Debatten pro und contra absoluter bzw. relativer Solmisation zu denken geben könnte. Petersen beleuchtet Quellen, welche die Lehrtätigkeit von Fromental Halévy am Pariser Conservatoire dokumentieren, und analysiert einige fugues d’école von Halévy selbst und von seinem Schüler François Bazin sowie eine basse donnée, die Halévy als Prüfungsaufgabe vorgelegt hat. Vor allem anhand dieser basse donnée weist er auf Beziehungen der Kontrapunktausbildung am Conservatoire im 19. Jahrhundert zur italienischen Partimento-Tradition hin. Dass die Rezeption italienischer bzw. neapolitanischer Lehrmethoden in Paris nach wie vor ein aktuelles Thema ist, zeigen auch das laufende Berner Forschungsprojekt Creating the Neapolitan Canon sowie Robert Gjerdingens kürzlich erschienenes Buch Child Composers in the Old Conservatories.[6]
Pascal Schiemann (Halle) schließlich arbeitet anhand von Analysen der Kopfsätze aus Klavierkonzerten von u. a. Johann Baptist Cramer, Carl Czerny, Johann Ladislav Dussek und Henri Herz Vorzüge und Probleme der nicht mehr ganz so jungen, aber als Vertreterin der ›New Formenlehre‹ nach wie vor prominenten ›Sonata Theory‹ von James Hepokoski und Warren Darcy heraus. Seine Analysen widerlegen die von diesen Autoren postulierte Gültigkeit ihres Type 5 Sonata-Modells für dieses selten beachtete, aber im frühen 19. Jahrhundert wichtige Repertoire. Stattdessen hebt Schiemann Formstrategien hervor, die innerhalb dieser Gattung entwickelt und tradiert wurden und nicht unter dem Rotationsprinzip der Sonata Theory subsumiert werden können.
Danken möchten wir allen Rezensent*innen, die diese Ausgabe mit detaillierten Einblicken in ein breites Spektrum an jüngeren Publikationen bereichert haben. Ausdrücklich danken möchten wir an dieser Stelle aber auch allen Kolleg*innen, die ›im Verborgenen‹ Peer-Reviews für diese und frühere Ausgaben der ZGMTH verfasst haben und damit uns als Herausgeber*innen sowie auch allen Autor*innen eine große Hilfe geleistet haben.
Hans Aerts, Cosima Linke
Anmerkungen
Siehe die Website Schenker Documents Online (= SDO, https://schenkerdocumentsonline.org/index.html). | |
Eybl 1995 und Morgan 2014. | |
Siehe u. a. Jankélévitch 1958 (frz. 1939). | |
Siehe etwa Schwenkreis 2018. | |
Siehe https://www.hkb-interpretation.ch/projekte/creating-the-neapolitan-canon (12.6.2021) und Gjerdingen 2020. |
Literatur
Eybl, Martin (1995), Ideologie und Methode. Zum ideengeschichtlichen Kontext von Schenkers Musiktheorie, Tutzing: Schneider.
Gjerdingen, Robert (2020), Child Composers in the Old Conservatories. How Orphans Became Elite Musicians, New York: Oxford University Press.
Jankélévitch, Vladimir (1958), Maurice Ravel mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, übers. von Willi Reich, Hamburg: Rowohlt. [Orig.: Jankélévitch, Vladimir (1939), Maurice Ravel, Paris: Rieder.]
Morgan, Robert P. (2014), Becoming Heinrich Schenker. Music Theory and Ideology, Cambridge: Cambridge University Press.
Schwenkreis, Markus (Hg.) (2018), Compendium Improvisation. Fantasieren nach historischen Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts, Basel: Schwabe.
SDO – Schenker Documents Online. https://schenkerdocumentsonline.org/index.html (2.6.2021)
Hochschule für Musik Freiburg [Freiburg University of Music]; Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig [University of Music and Theatre ›Felix Mendelssohn Bartholdy‹ Leipzig]
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