Stefan Gasch / Markus Grassl / August Valentin Rabe (Hg.), Henricus Isaac (c.1450/5–1517), Composition – Reception – Interpretation (= Wiener Forum für Ältere Musikgeschichte, Bd. 11), Wien: Hollitzer 2019
Markus Roth
Aus gegebenem Anlass organisierte die Universität zu Wien im Juli 2017 zu Ehren des Sänger-Komponisten Henricus Isaac ein mehrtägiges internationales Symposium, das sowohl zu einer Bestandsaufnahme aktueller Isaac-Forschung beitragen als auch Ausblicke auf künftige geben sollte. Erfreulich aktuell liegen die seinerzeit gehaltenen Vorträge nun in Schriftform in einem von Stefan Gasch, Markus Grassl und August Valentin Rabe herausgegebenen Sammelband vor, in den zudem einige Beiträge zum Panel »Commemorating Henricus Isaac« aufgenommen wurden, das nur wenige Tage nach der Wiener Tagung im Rahmen der Medieval & Renaissance Music Conference in Prag stattfand. Auf dem roten Hardcover-Einband des 380 Seiten umfassenden Buches verweist, von rechts unten nach oben fließend, der Schriftzug »Isaac 500« auf den Anlass der Publikation: 2017 jährte sich Isaacs Tod zum 500. Male.
Die im oben genannten Panel-Titel festgestellte Notwendigkeit, den Komponisten in diesem markanten Gedenkjahr in Erinnerung zu bringen, mag zunächst überraschen. ›Vergessen‹ war Isaac ja nie; und die besonderen Umstände seines vergleichsweise gut dokumentierten, zwischen Italien und Habsburg, Florenz und Innsbruck oszillierenden Lebenswegs bieten bis heute ungebrochenen Anlass u. a. zu biografischer, historiografischer, kulturgeschichtlicher, liturgischer, rezeptionsgeschichtlicher, rezeptionsästhetischer, quellenkritischer und notationskundlicher Auseinandersetzung. Dieser Beachtung durch die Musikwissenschaft steht gleichwohl eine signifikante Unterrepräsentation Isaacs in aktuellen Konzertprogrammen und auf veröffentlichten Tonträgern entgegen; und zweifellos ist seinem kompositorischen Werk, gemessen an anderen Vertretern seiner Generation, bislang nur recht periphere analytische Aufmerksamkeit zugekommen. Die Gründe für diese latente Vernachlässigung eines zu Lebzeiten hochangesehenen Musikers sind sicherlich vielfältig. Doch bis heute scheint Isaacs ›funktionaler‹ Universalstil, als dessen zentrales Merkmal eine ausgeprägte Bereitschaft zur Assimilation fremder Einflüsse begriffen werden kann, eine geringere Attraktivität gegenüber fraglos exzentrischeren kompositorischen Konzepten bei Weggefährten wie Josquin Desprez, Alexander Agricola oder Jacob Obrecht auszuüben.
Neue Impulse für die künftige Beschäftigung mit Isaac versprachen sich die Veranstalter der Wiener Tagung vor allem mit Blick auf die Rezeptions- und Interpretationsforschung. Mehrere der insgesamt 15 (darunter 11 englischsprachigen) Sammelband-Beiträge beschäftigen sich mit die Kapelle von Maximilian I. betreffenden Forschungsfragen: So erhellen Nicole Schwindt und Giovanni Zanovello (»Isaac, Schubinger, and Maximilian in Pisa – A Window of Opportunity«) durch die Diskussion aufschlussreicher florentinischer Archivdokumente die möglichen Umstände der Anwerbung Isaacs im Herbst 1492, während Grantley McDonald (»The Chapel of Maximilian I: Patronage and Mobility in a European Context«) sich kulturgeschichtlichen Fragestellungen rund um den in hohem Maße ›internationalen‹ Zusammenschluss hochrangiger Sänger und Instrumentalisten und seiner Stellung am Hofe widmet. Beinahe detektivischen Spürsinn entwickelt David Merlin in seinem akribischen Beitrag »Auf der Suche nach Isaacs Choralvorlagen: Die Missa de Beata Maria virgine à 4 und die zeitgenössischen Gradualeausgaben«), ohne die Frage nach der Grundlage der Liturgie in Maximilians Hofkapelle abschließend klären zu können. Einen weiteren Beitrag zur Quellenforschung bieten David J. Burn und Ruth I. DeFord mit »A Recently Discovered Source for Henricus Issac’s Maas Propers: Transmission and Scribal Initiative in Brno, City Archive, MS 14/5«.
David Fallows, zweifelsohne ein ›Großmeister‹ der Renaissancemusikforschung, ist im besprochenen Sammelband gleich doppelt vertreten. Indem er sich insbesondere mit Aspekten der Rekonstruktion und mit der Plausibilität zeitgenössischer Zuschreibungen beschäftigt, ist Fallows’ erster Beitrag »The two Egenolff Tenor Partbooks in Bern« aus musiktheoretischer Perspektive besonders relevant: Für Fallows bedeutet die kürzliche Wiederauffindung zweier von Christian Egenolff vermutlich 1536 gedruckter Tenor-Stimmbücher durch Royston Gustavson »the find of the decade«. (123) Die Diskussion einer Isaac zugeschriebenen, von Joshua Rifkin ergänzten Mille regretz-Version gibt dem Autor Gelegenheit, einen vorläufig letzten Punkt zu einer legendären Kontroverse um die Echtheit der vorgeblichen Josquin-Version beizutragen – und frühere Bewertungen in überraschender Freimütigkeit zu korrigieren.[1]
Einen »frischen Blick« auf ein wahrhaft wegweisendes Stück des ausgehenden 15. Jahrhunderts: Isaacs dem Tod von Lorenzo de’ Medici gewidmete Trauermotette Quis dabit capiti meo acquam aus dem Jahre 1492, verspricht Blake Wilson im Abstract seines Beitrags »Remembering Isaac Remembering Lorenzo: The Musical Legacy of Quis dabit«. In Anknüpfung an gewichtige Vorgänger-Studien u. a. von Richard Taruskin und Wolfgang Fuhrmann belegt der Autor die intertextuellen Korrespondenzen zu Isaacs eigener Missa Salva nos und widmet sich einigen Aspekten der frühen Rezeption einer höchst suggestiven, den fallenden phrygischen Tetrachord ostentativ als Klage-Insignie herausstellenden Trauermusik, die sicherlich nicht nur auf Komponisten im näheren Umfeld Isaacs von nachhaltiger Wirkungsmacht war. Gleichwohl werfen die von Wilson angeführten Beispiele mutmaßlicher Quis dabit-Bezüge insbesondere in der Canzone Qual sarà mai von Francesco Layolle (Cinquanta canzoni a quatro voci, 1540), die wie Quis dabit auf Poliziano-Versen beruht, in satztechnischer Hinsicht durchaus einige Fragen auf; sie betreffen fragwürdige Details in einzelnen mitgeteilten Notenbeispielen[2] ebenso wie die grundsätzliche, sich im Kontext jeglicher ›Metamusik‹ immer wieder aufs Neue stellende Frage nach den Kriterien der Unterscheidung zwischen bloßen Entsprechungen satztechnischer Merkmale (Eigenarten modaler Gestaltung, Klangfortschreitungsmodelle, melodische Topoi) und der Annahme bewusster ›zitierender‹ Bezugnahme. Im vorliegenden Fall wäre eine stärkere inhaltliche Anbindung an den jüngeren Fachdiskurs über Satzmodelle wünschenswert gewesen, wie er in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur in der vorliegenden Zeitschrift mit fragloser Relevanz auch für die Renaissancemusikforschung geführt worden ist. Zwei weitere Textbeiträge rücken Einzelwerke Isaacs in den Fokus, ohne im engeren Sinne analytisch orientiert zu sein: So deutet Eleanor Hedger (»Heinrich Isaac’s Missa Comme femme desconfortée: A Musical Offering to the Virgin Mary«) die im Titel genannte Isaac-Messe im Kontext der Marienverehrung seiner Zeit, während Klaus Pietschmann (»Emperor Maximilian I, Audible Ideology and Heinrich Isaac’s Optime pastor«) die These untermauert, dass Isaac die betreffende Motette anlässlich des Empfangs des päpstlichen Nuntius im Jahre 1514 komponiert hat. Pietschmanns Ausführungen zum mutmaßlichen Entstehungskontext von Optime pastor sind auch deshalb aufschlussreich, weil sie an einem instruktiven Beispiel die expliziten politischen Manifestationen einzelner repräsentativer Werke Isaacs erhellen.
Mit ihrem Beitrag »Revisiting Isaac’s Autographs« knüpft Jessie Ann Owens an ihre bereits 1997 an anderer Stelle publizierte Isaac-Fallstudie an,[3] und erneut steht das in der Berliner Staatsbibliothek überlieferte Autograph der Sequenz Sanctissime virginis votiva festa im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Einmal mehr vermag Owens’ Idee einer ›forensischen Analyse‹ der überlieferten handschriftlichen Quellen höchst erhellende Einblicke in die alltägliche Schreibstube eines Renaissance-Komponisten zu eröffnen. Bereits Heinrich Glarean hatte Isaacs Flexibilität bei der Transformation von Choralvorlagen und ihre geschickte Implementierung in neue kontrapunktische Zusammenhänge gerühmt und dabei die Metapher eines »Felsens« gebraucht – gemeint ist ein cantus prius factus –, den vom Wind bewegte Wellen, d. h. neu hinzutretende kontrapunktische Stimmen, umspielen.[4] Owens’ Erkenntnisse zum mutmaßlichen Kompositionsprozess sind, nebenbei bemerkt, auch unter dem Gesichtspunkt gegenwärtiger Kontrapunkt-Didaktik von unmittelbarer Relevanz, indem sie inspirierende Impulse zur Erfindung choralgebundener vierstimmiger Sätze miniaturartigen Zuschnitts liefern, innerhalb derer grundlegende kontrapunktische Verfahrensweisen thematisiert werden können: die ›Verflüssigung‹ einer gegebenen Choralvorlage, die Erstellung eines geeigneten Tenor-Cantus-Gerüstsatzes, die sukzessive Auftragung weiterer ›umspielender‹ Stimmen, Techniken (moderater) Diminution. Nebenbei bemerkt ist »Revisiting Isaac’s Autographs« der einzige Beitrag zum Isaac-Gedenkband, der sich der eingehenden Erörterung der Eigenarten seiner von den Zeitgenossen gerühmten kontrapunktischen Souveränität und Klangtechnik widmet – gegenüber dem neun Jahre älteren, in der Reihe Musik-Konzepte publizierten Isaac-Sammelband[5] bleibt die kompositionstechnische Seite in »Isaac 500« merkwürdig unterbelichtet.
Zum erklärten Schwerpunktthema des zweiten Wiener Kongresstages, der vor allem aufführungspraktischen Fragen der alternatim-Praxis in Isaacs Choralmessen gewidmet war, tragen mehrere Autor*innen, unter ihnen die Herausgeber des Sammelbandes bei: Markus Grassl mit profunden, materialreich unterfütterten Ausführungen zur Beteiligung von Bläserensembles (»›Et comenchèrent les sacqueboutes du roy‹: The Liturgical Use of Instrumental Ensembles Around 1500«), Franz Körndle mit einem facettenreichen Exkurs zur Geschichte des Orgelbaus im Umfeld Maximilians I. (»Anmerkungen zu Orgel, Alternatim und Ablass um 1500«), nicht zu vergessen August Valentin Rabe mit seinem fast vierzig Druckseiten umfassenden Beitrag »›Singing into the Organ‹: On the Use of the Organ in Alternatim Performance in Henricus Isaac’s Time«. Einem häufig höchst aufschlussreichen Seitenzweig der Forschung widmet sich Kateryna Schöning mit ihren Untersuchungen zur zeitgenössischen Praxis der Intavolierung für Laute, demonstriert am Benedictus aus Isaacs Messe Quant j’ay au cueur.
Eine lobenswerte Brücke zur künstlerischen Forschung schlägt Ivo Ignaz Berg mit seinem abschließenden, vielfachen Zündstoff bergenden Beitrag »Performative Dimensionen der Mensuralnotation: Isaacs Missa de Beata virgine aus dem Chorbuch gesungen«. Mit dem Ensemble Nusmido gestaltete der Autor zudem das Tagungskonzert mit einer Aufführung der vierstimmigen Missa de Beata Maria Virgine – einer Aufführung, die, wie von August Valentin Rabe in seinen beigefügten »Anmerkungen zum Tagungskonzert« (351 f.) vermerkt, von den am Wiener Symposium partizipierenden Wissenschaftler*innen durchaus kontrovers diskutiert wurde. (Eine beigefügte Konzert-Dokumentation hätte deshalb sicherlich eine wertvolle Ergänzung und Bereicherung zum ›bloßen Buch‹ bedeutet.) Bergs Ausführungen, in deren Kontext sich der Autor und Sänger u. a. auf den von Edwin Gordon geprägten Begriff der »Audiation« beruft (335), gehen von der grundlegendenden Einsicht aus, »dass allein das Singen aus der originalen Notation das Wesen der Musik um 1500 offenbar werden lassen kann« (326).[6] Die Vorzüge eines solchen ›Neu-Erlernens‹ historischer Notationsformen und ihrer performativen Implikationen, das interessante Aufschlüsse gerade über das »Nicht-Notieren des [seinerzeit] Selbstverständlichen« ermöglicht, exemplifiziert Berg in seinem inspirierenden Text vor allem mit Blick auf Aspekte des Zeitempfindens im Kontext mensuraler Notation: »Die Freiheit von der raumzeitlichen Dimension im Schriftbild [der weißen Mensuralnotation] könnte bedeuten, dass die musikalische Zeit weniger im Sinne eines gleichmäßig dahinstreichenden Mediums, sondern eher in Form einer erlebten Dauer, also prinzipiell in einer agogischen Kontrahier- und Dehnbarkeit aufzufassen ist«. (338) Vor diesem Hintergrund bietet Bergs Werkstatttext eine Vielzahl anschaulicher Ansätze u. a. zur Funktion von Ligaturen als Angelpunkten der Phrasierung.
Wer nach der Lektüre von Bergs Ausführungen im Buch zurückblättert, mag auf manches modernen Konventionen folgende, dabei offenkundig unbemerkt fehlerhafte und in beklagenswerter grafischer Qualität abgedruckte Notenbeispiel in einem ansonsten ansprechend gestalteten und sorgfältig redigierten Band stoßen. Darüber hinaus lassen diese Notenbeispiele die Leser*innen in Zeiten einer weltumfassenden pandemischen Krise mit der verstörenden Vorstellung eng zusammenstehender, gemeinsam über Faksimile-Drucke gebeugter und intensive Wirbel von Aerosolen produzierender Sänger*innen zurück – und damit mit der bangen Frage, wann denn eine solche forschende Interpretationspraxis an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst, für die Berg beredt wirbt, unter den gegenwärtigen Auflagen im Kulturleben und Wissenschaftsbetrieb überhaupt wieder realisierbar sein wird.
Anmerkungen
»I am now convinced that Attaignant-Susato Mille regretz is not by Josquin.« (136) | |
Der von Wilson in Ex. 7a angeführte Quis dabit-Ausschnitt beruht offenkundig auf einer fehlerhaften Überlieferung; die in dieser Form bei Isaac undenkbaren Oktaven zwischen Cantus und Tenor in Mensur 13 wären leicht zu korrigieren. | |
Owens 1997, 258–290. | |
»Id etiam voluptati duxit copiam ostendere maxime Phthongis in una quapiam voce immobilibus, caeteris autem vocibus cursitandibus ac undique circumstrepentibus, velut undae vento agitatae in mari circa scopulum ludere solent […].« (Glarean, Dodecachordon, zit. nach Owens 1997, 259) | |
Tadday 2010. | |
Vgl. Smith 2011. Diese Einsicht ist vielfach ebenso im Kontext analytischer Erwägungen relevant. |
Literatur
Owens, Jessie Ann (1997), Composers at Work. The Craft of Musical Composition 1450–1600, New York: Oxford University Press.
Smith, Anne (2011), The Performance of 16th-Century Music. Learning from the Theorists, New York: Oxford University Press.
Tadday, Ulrich (Hg.) (2010), Heinrich Isaac (= Musik-Konzepte 148/149), München: edition text + kritik.
Folkwang Universität der Künste [Folkwang University of the Arts]
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