Meischein, Burkhard (2020), »Juliane Pöche, Thomas Selles Musik für Hamburg. Komponieren in einer frühneuzeitlichen Metropole (= Musica poetica. Musik der Frühen Neuzeit, Bd. 2), Bern: Lang, 2019«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 17/2, 227–228. https://doi.org/10.31751/1075
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 23/12/2020
zuletzt geändert / last updated: 17/12/2020

Juliane Pöche, Thomas Selles Musik für Hamburg. Komponieren in einer frühneuzeitlichen Metropole (= Musica poetica. Musik der Frühen Neuzeit, Bd. 2), Bern: Lang, 2019

Burkhard Meischein

Schlagworte/Keywords: Barockmusik; baroque music; Hamburg; music theory and theology; Musiktheorie und Theologie; Thomas Selle

Der unscheinbare Titel Thomas Selles Musik für Hamburg lässt kaum die Fülle von Aspekten erahnen, die Juliane Pöche in ihrer Dissertation ausbreitet. Ihr Darstellungsideal ist eher die Gesamtdarstellung als die Spezialstudie, und so bereitet sie in mehr oder weniger geordneter Weise umfassend den Wissensbestand rund um Thomas Selle und seine Musik auf. Diese Aufgabe erfüllt sie gut, wenn auch mit einer charakteristischen Unwucht.

Selle ist heute kaum noch bekannt: ein Schicksal, das er mit anderen deutschen Komponisten des 17. Jahrhunderts – den einen Schütz ausgenommen – teilt. 1599 geboren und in Leipzig wohl Schüler von Sethus Calvisius und Johann Hermann Schein, starb Selle 1663 nach mehr als 20 Amtsjahren in Hamburg als Kantor am Johanneum und Musikdirektor der dortigen vier Hauptkirchen. Insofern ist diese Hamburger Dissertation auch ein regionales Forschungsprojekt, und Pöche profitiert vielfach von den ihr in Hamburg zugänglichen Materialien: Die Arbeit steht in Verbindung mit dem DFG-geförderten Projekt »Thomas Selle – Opera omnia« an der Universität Hamburg,[1] im Rahmen dieses Projekts werden die »Opera omnia« Selles ediert und sind – soweit bereits eingearbeitet – über die Webseite in verschiedenen digitalen Formaten abrufbar.

Es geht in der fast 500 Seiten starken Arbeit um die theologisch fundierte und in Hamburg verbreitete Musikanschauung (Kap. II), um die nicht zuletzt italienischen Anregungen verdankte Modernität mit konzertierenden Elementen und Madrigalismen (Kap. III), um das Verhältnis der Musik Selles zu szenischen und theatralischen Gestaltungsformen (Kap. IV), um Einflüsse von Vorstellungen der »Himmels-Music« und die daraus gewonnene klangliche Inspiration (Kap. V). Man erfährt in dieser Arbeit viel über die Gestaltungsweisen Selles, aber auch über barockes Musikdenken, über die theologisch eingebettete Bildhaftigkeit der Musik sowie das Echo theatralischer Gestaltungsweisen in der Kirchenmusik, über den Einfluss italienischer Stilmittel, aber auch über das Verhältnis zwischen vokaler und instrumentaler Musik, über Aspekte der Kirchen-Architektur der Zeit und die damit verbundenen Möglichkeiten der Mehrchörigkeit und deren musikdramatische Umsetzung und schließlich auch über die von Selle verwendeten Figurationen und deren Herkunft aus der Violinmusik.

Die Darstellungen werden unterstützt durch gut gewählte Abbildungen, die nicht nur der Illustration dienen, sondern in der Regel auch inhaltlich aussagekräftig sind. Als geschickt erweist sich die Autorin nicht zuletzt beim Auffinden interessanter und passender zeitgenössischer Zitate. Dazu kommen noch zahlreiche Notenbeispiele. Literatur wird ausgiebig herangezogen; der umfangreiche Anmerkungsapparat ist gattungsbedingt.

Die am Anfang erwähnte Unwucht bezieht sich darauf, dass die Autorin gewisse Standards einer historisch informierten musiktheoretischen Forschung nur unzureichend berücksichtigt, wenn musiktheoretische und satztechnische Sachverhalte angesprochen werden. So heißt es zur komplexen Frage des Blattsingens und des Lernens der Intervalle im Zusammenhang mit Selles Anleitung zur Singekunst, Selle habe sich von den Guidonischen Solmisationssilben abgewandt, weil diese »eine Bezeichnung von chromatischen Tönen nicht zuließen«. (32) Irreführend ist auch, wenn die instrumentale Klangverstärkung realer Stimmen in Einklängen oder Oktaven – bei der Orgel bekanntlich auch in Quinten – als Verstoß gegen das Verbot paralleler perfekter Konsonanzen gewertet wird (396) und wenn bloße Wiederholungen eines Quintintervalls als Verstoß gegen das Parallelenverbot identifiziert werden (405). Ein kurzer und formelhafter – zudem satztechnisch problematischer – Kanon im Einklang wird als Mittel genannt, mit dem »kompositorische Meisterschaft wirkungsvoll zur Schau gestellt« werden konnte (39, auch 416 f.).

Überhaupt wird der Kontrapunkt nur unter dem Aspekt der »Gelehrsamkeit« behandelt; dieser Zusammenhang ist Gegenstand des das Buch abschließenden Abschnittes VII, »Selle und die Gelehrsamkeit«. Dabei entsteht der Eindruck, als habe es sich beim Kontrapunkt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts um eine seltene, esoterische Geheimwissenschaft gehandelt, der man nur mit Hilfe von Zarlinos Traktat auf die Spur kommen konnte, dabei war kontrapunktisches Komponieren in der Zeit nicht weniger Alltag als später dann das Spielen des Generalbasses. Nicht das kontrapunktische Komponieren selbst verbürgt in dieser Zeit die Gelehrsamkeit, sondern die Art, in der der Kontrapunkt verwendet wird.

In den Schwächen bei den musiktheoretischen Grundlagen offenbart sich ein bereits häufig diskutiertes Problem, nämlich die Kluft zwischen der Behandlung historischer und philologischer Fragen einerseits und der Bearbeitung musiktheoretischer Aspekte andererseits. Während historische und philologische Befunde in dieser Arbeit sorgfältig abgewogen und perspektivenreich behandelt werden, herrscht bei der Behandlung musiktheoretischer Aspekte eine bedenkliche Sorglosigkeit. Die vorhandene umfangreiche Literatur zum Verhältnis zwischen Tonalität und Modalität, zu kontrapunktischen Details, zu Technik und Bedeutung des Kanons – wird nicht zur Kenntnis genommen.

Pöches Buch widmet sich in differenzierter Weise zahlreichen wichtigen Aspekten des Komponierens in Deutschland im 17. Jahrhundert. Zugleich aber wäre zu wünschen, dass satztechnische Fragen dort, wo sie für einen Fragenkomplex von Bedeutung sind, ernst genommen und mit einer ebensolchen Differenzierung und Sorgfalt behandelt würden wie historische und ästhetische.

Anmerkungen

1

Selle 2015 ff.

Literatur

Selle, Thomas (2015 ff.), Opera omnia, hg. von Ivana Rentsch, digitale kritische Edition. https://www.selle.uni-hamburg.de (11.12.2020)

Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

This is an open access article licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License.