Ott, Immanuel (2020), »Kombination und Rekombination in der Renaissance« [Combination and Recombination in Renaissance Music], Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 17/2, 11–26. https://doi.org/10.31751/1072
eingereicht / submitted: 18/10/2020
angenommen / accepted: 03/11/2020
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 23/12/2020
zuletzt geändert / last updated: 10/01/2021

Kombination und Rekombination in der Renaissance

Immanuel Ott

Ein hervorstechendes Merkmal der Musik des 15. und 16. Jahrhunderts ist die Verwendung von präexistenter Musik als Grundlage oder Ausgangspunkt einer neuen Komposition. Solche Werke lassen sich anhand zweier grundsätzlich unterschiedlicher Herangehensweisen unterscheiden, die jeweils eigene kompositionstechnische Probleme nach sich ziehen: Einerseits finden sich Kompositionen, die auf additiven Prozessen und kontrapunktisch anspruchsvollen Strukturen wie Kanons basieren, andererseits solche, in denen eine meist mehrstimmige Vorlage fragmentiert und ihre Bestandteile zu einer neuen Komposition rekombiniert werden. Im vorliegenden Artikel wird diese Unterscheidung ausgehend von Detailanalysen von Werken Josquins aufgebaut. Es wird dabei gezeigt, dass punktuell rekombinatorische Zugänge eine Rolle in seinen Kompositionen spielen. Am Beispiel jüngerer Werke von Adrian Willaert und Nicolas Gombert zeigt sich, dass diese Techniken für spätere Komponistengenerationen immer wichtiger wurden.

A distinctive feature of the music of the 15th and 16th centuries is the use of pre-existent music as the basis or starting point for a new composition. Such works can be distinguished by two fundamentally different compositional approaches, each of which entails its own problems: On the one hand there are compositions based on additive processes and contrapuntally sophisticated structures such as canons, on the other hand there are those in which a usually polyphonic model is fragmented and its components are recombined into a new composition. In the contribution at hand, this distinction is established on the basis of detailed analyses of Josquin's works. It is shown that recombinant approaches sometimes play a role in his compositions. The example of more recent works by Adrian Willaert and Nicolas Gombert shows that these techniques became increasingly more important for later generations of composers.

Schlagworte/Keywords: Adrian Willaert; canon; Chanson; falsobordone; Josquin Desprez; Kanon; Parodie; parody; Soggetto

Von einer kompositionspraktischen Perspektive aus betrachtet, ist es ein bemerkenswerter Umstand, dass sich Komponistinnen und Komponisten[1] der Renaissance angesichts der strengen kontrapunktischen Regeln ihrer Zeit immer wieder zu satztechnischen Konstruktionen wie Kanons hingezogen gefühlt haben, durch die ihre kompositorischen Freiheiten maßgeblich eingeschränkt wurden. Die Faszination, die von diesen konstruktiven Prinzipien ausging, lässt sich als Ausdruck eines lustvollen intellektuellen Spiels mit der Musik, mit Verweisen, Chiffren und Verhältnissen begreifen, die einen wichtigen Teil der »Rätselkultur« der Renaissance ausmachten.[2] In den Hintergrund rücken durch diese Perspektiven aber die fundamentalen handwerklichen Problemstellungen, die bei der Komposition von Kanons auftreten und deren Lösungen weitreichenden Einfluss auf die Gestalt einer Komposition haben. Mit immer genauerem Verständnis der Bildungsgesetze von Kanons zeigt sich, dass das Kanon-Repertoire nicht als eine homogene Gruppierung von Kompositionen verstanden werden kann, sondern dass es vielmehr durch ein hohes Maß an Diversität geprägt ist. Die Differenzierungen zwischen einzelnen Kanontypen und den ihnen eigenen satztechnischen Herausforderungen ermöglichen überhaupt erst, diese damals sehr lebendige Praxis zu beurteilen, Standardlösungen von herausragenden Einzelwerken zu unterscheiden und dadurch wichtige kompositionstechnische Entwicklungen und Zusammenhänge zu begreifen.

Im Folgenden soll versucht werden, eine solche Entwicklung in groben Zügen nachzuvollziehen. Ausgehend von zwei scheinbar misslungenen Kanons Josquins wird der Frage nachgegangen, inwiefern Zitations- und Übernahmestrategien mit Kanontechniken in Einklang zu bringen sind. Diese Betrachtungen führen zu der Überlegung, inwiefern zwischen einer kompositionsgeschichtlich älteren Setzweise, in der Kanons durch die Beachtung von Punkt-für-Punkt-Relationen komponiert wurden, und einer jüngeren unterschieden werden kann, in der kontrapunktische Komplexe aus größeren ›Bausteinen‹ aufgebaut wurden.

* * *

Das »Christe« aus Josquin Desprez’ Missa Hercules Dux Ferrariae gehört wie die Chanson Une musque de Biscaye zu den Kompositionen Josquins, in denen anspruchsvolle kombinatorische Satztechniken angelegt sind, aber nicht streng durchgeführt werden. Etwa die Hälfte der Chanson, die auf einer einstimmigen melodischen Vorlage basiert, ist als Doppelkanon in der Oberquarte angelegt, allerdings werden nur Altus und Superius über den gesamten Verlauf der Chanson hinweg streng kanonisch geführt. Die beiden Unterstimmen finden sich nur passagenweise zu einem Oberquartkanon zusammen und sind ansonsten frei komponiert. Im »Christe« wiederum beginnt Josquin den Satz als einen dreistimmigen Kanon zwischen Superius, Bassus und Altus, schert allerdings im Superius schon nach wenigen Noten aus dem Satzprinzip aus, so dass auf den ersten Blick nur Bassus und Altus einen regelgerechten Kanon bis zum Einsatz des soggetto cavato im Tenor durchführen.

In beiden Kompositionen lassen sich satztechnische Gründe anführen, warum Josquin von den angelegten strengeren Prinzipien abweicht. In Une musque de Biscaye ergibt sich das Problem, dass am Anfang von M. 3 im Rahmen eines Oberquart-Doppelkanons im Bassus kein Ton eingesetzt werden könnte, ohne dass entweder an dieser Stelle oder nachfolgend Dissonanzen auftreten. Diese Bedingung ergibt sich aus der Einführung der Kadenz in M. 3 und der hineinragenden punktierten Semibrevis f1 im Altus aus M. 2.[3] Solange die Kanonmelodie in der Oberstimme in dieser Form beibehalten wird, erzwingt das Prinzip des Oberquart-Doppelkanons an dieser Stelle eine Pause. Josquin hätte natürlich zu dieser Lösung greifen und damit die folgende Passage gestisch vorwegnehmen können, allerdings erweist sich bereits der Anfang der Chanson als wenig geeignet für diese Setzweise. So kann der Satz im Bassus nicht mit f beginnen, da sonst im Tenor wegen des Kanonprinzips ein b gleichzeitig mit dem Eintritt des c1 im Altus erklingen würde. Da die erste Note c1 des Altus eine punktierte Semibrevis ist, und dadurch mit dem Einsatz des Superius eine Quarte zwischen Altus und Superius entsteht, ergibt sich eine Kette von Bezügen zwischen den Stimmen, die am Anfang der Chanson den Einsatzton d im Bassus erzwingen. Dieser Anfangston hätte einerseits möglicherweise ungewollte modale Implikationen, und würde andererseits ungünstige klangliche Fortschreitungen nach sich ziehen, denn entweder entstünden zwei Quint-Oktav-Klänge auf c und f direkt nacheinander (Beispiel 1b) oder es erklänge unmittelbar nach dem ersten Ton d im Bassus ein Terz-Sext-Klang auf e und eine Quintparallele zwischen Altus und Tenor in M. 2, die zwar flüchtig, jedoch unvermeidbar wäre (Beispiel 1c).


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Beispiel 1: Josquin Desprez, Une musque de Biscaye; a) Beginn im Original; b) Anfang als Oberquartdoppelkanon, Variante 1; c) Anfang als Oberquartdoppelkanon, Variante 2

Josquin nutzt also das Prinzip des Doppelkanons nur dort, wo es ohne klangliche Einschränkungen einsetzbar ist. Sicherlich hätte er den Doppelkanon durch eine völlig andere Gestaltung des Satzes möglich machen können, aber diese Änderungen wären zu Lasten der Erkennbarkeit der melodischen Vorlage gegangen. Offensichtlich war es ihm wichtiger, diese Melodie mit möglichst wenigen Umbildungen als Kanon zu gestalten, als das Prinzip des Doppelkanons durchzuführen. Die Chanson ist so ein typisches Beispiel für die kombinatorischen Herausforderungen, denen sich Komponistinnen und Komponisten der Renaissance immer wieder gestellt haben: Eine einstimmige melodische Vorlage wird als zweistimmiger Kanon eingerichtet, der als Gerüst des Satzes fungiert. Die weiteren Stimmen des Satzes werden dann um dieses Gerüst in mehr oder minder loser Beziehung zum Kanon angelagert.

Anders stellt sich der Sachverhalt im »Christe« dar, denn hier lässt sich im strukturellen Gerüstsatz noch deutlich erkennen, dass der Satzanfang ursprünglich vollständig als dreistimmiger Strettakanon konzipiert war. Dabei folgen die Einsatzintervalle der Stimmen den zu dieser Zeit üblichen Intervallrelationen: Die erste Folgestimme schließt sich der Führungsstimme in der Unteroktave an, die zweite Folgestimme der ersten in der Oberquinte. Umso erstaunlicher ist, dass Josquin in dieser im Prinzip sehr gut kontrollierbaren Setzweise eine Oktavparallele im Gerüstsatz in M. 19 f. (Beispiel 2b) in Kauf nimmt. Diese Parallele ergibt sich durch die dreifache Folge von Terzsprüngen aufwärts, die in dreistimmigen Kanons mit diesen Einsatzintervallen deshalb immer vermieden werden muss. Naheliegend wäre nun gewesen, an der entsprechenden Stelle im Superius ein anderes melodisches Intervall, beispielsweise einen Quartsprung abwärts, einzusetzen und auf diese Weise die Parallele zu vermeiden. Da Josquin auf keine melodische Vorlage Rücksicht nehmen musste, hätte er hier alle kompositorischen Freiheiten gehabt. Stattdessen entscheidet er sich jedoch dafür, den Superius durch seine markante melodische Formulierung aus dem Kanon herauszunehmen und den dreistimmigen Kanon damit zu beenden.


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Beispiel 2: Josquin Desprez, Missa Hercules Dux Ferrariae; a) »Christe«, Beginn; b) »Christe«, Gerüstsatz

Eine Begründung für diesen eigenartigen Umgang mit dem Kanon lässt sich nicht durch satztechnische Einschränkungen geben, die durch das kanonische Prinzip verursacht werden. Vielmehr scheint sich diese besondere Konstellation im Hinblick auf die Gesamtanlage des Satzes und in Bezug auf das vorangegangene erste »Kyrie« der Messe zu ergeben. Auffällig ist zuerst, dass Josquin den Kanon als redicta anlegt und den dreistimmigen Satz ab M. 20 einmal weitgehend notengetreu wiederholt. Diese Eigenschaft des Satzes ist die Folge einer sorgfältigen Planung, denn gerade in dreistimmigen Kanons ist es angesichts der nur begrenzten Zahl verfügbarer melodischer Intervalle nicht selbstverständlich, dass der Kanon an einem bestimmten Punkt seines Verlaufs wieder in seinen Anfang münden kann. Der zeitliche Rahmen für diese Wiederholung ist dabei durch den im Vorfeld festgelegten Einsatzpunkt des soggetto cavato bestimmt – Josquin steht also nur ein begrenzter Rahmen zur Verfügung, um den Kanon mitsamt seiner Wiederholungsstruktur durchzuführen. Die oben vorgeschlagene Lösung etwa, die Oktavparallele durch ein anderes melodisches Intervall im Superius zu vermeiden, ist zu diesem Zwecke unbrauchbar, da damit ein Zurückführen in den Ton d im Superius in M. 20 und damit die Wiederholung des Kanons kaum möglich wäre. Gerade diese ist aber wesentlich für die klangliche Anlage des Satzes. Durch den Kanon ergeben sich als deutliche Stationen Terz-Quint-Klänge auf d sowie auf a, die sich durch die Wiederholung des Kanons ihrerseits selbst wiederholen. Dass sich beide Klänge besonders deutlich etablieren und zwischen ihnen mehrfach gewechselt wird, kann direkt auf das erste »Kyrie« bezogen werden. Dort erklingt mit dem Einsatz des soggetto cavato in M. 9 dreimal nacheinander ebendieser Wechsel zwischen diesen beiden Klängen. Josquin setzt also gewissermaßen das »Kyrie« im »Christe« klanglich fort, wodurch auch das soggetto cavato implizit – gewissermaßen als Schatten – mitgehört wird. Damit bezieht sich das »Christe« nicht nur im Wechsel der beiden Klänge auf das erste Kyrie, sondern auch in der Anlage, da in beiden Fällen der Einsatz des Tenors klanglich vorweggenommen wird – zu Beginn des »Kyrie« erscheint das soggetto jedoch real, im »Christe« hingegen nur als Verweis.

Damit enden die Beziehungen zwischen den beiden Sätzen nicht, denn der Anfang des dreistimmigen Kanons selbst kann auf die Melodiebildung im »Kyrie« zurückgeführt werden. Auffällig ist dort das vielfach wiederholte und imitierte soggetto mit einem markanten Oktavsprung abwärts, das zuerst in M. 9 mit dem Einsatz des Tenors erklingt (Beispiel 3). Josquin verfasst hier ein soggetto, das im Hinblick auf die Bewegung des Cantus firmus imitierbar sein muss. Entsprechend der Unteroktavimitation zwischen Superius und Bassus und der Sekundbewegung des Tenors kann am Ende von M. 9 im Superius nur der Ton a erklingen. Der Oktavsprung wäre deshalb nicht zwingend notwendig, ermöglicht aber in M. 10 durch die Imitation im Bassus den oben erwähnten Terz-Quint-Klang auf a. Dieser Oktavsprung tritt wiederum im »Christe« auf, so dass sich auch ein eindeutiger melodischer Zusammenhang zwischen den beiden Sätzen ergibt. Dass Josquin im weiteren Verlauf des »Kyrie« die Imitationen auch auf die Dreistimmigkeit ausdehnt (M. 13), schafft eine weitere enge Beziehung zwischen den Sätzen: In beiden tritt ein markanter melodischer Oktavsprung abwärts auf, kommt es zu einer dreistimmigen imitatorischen Beziehung zwischen den Stimmen und entsteht eine harmonische Pendelbewegung.


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Beispiel 3: Josquin Desprez, Missa Hercules Dux Ferrariae, »Kyrie« I, M. 9 f.

Die kompositorischen Umgangsweisen mit den scheinbar misslungenen Kanons in Une musque de Biscaye und dem »Christe« unterscheiden sich somit maßgeblich voneinander. In der Chanson wird eine einstimmige Melodie als Oberquartkanon eingerichtet, der als Gerüst des Satzes fungiert, und den Josquin nur streckenweise zu einem Doppelkanon ergänzt. Im »Christe« hingegen übernimmt der Komponist melodische Elemente einer früheren Imitation und fügt sie so zusammen, dass eine neue kontrapunktische Struktur entsteht, während gleichzeitig bestimmte Eigenschaften des ursprünglichen Satzes erhalten bleiben. Das »Christe« geht in diesem Sinne über Aspekte der Kombinatorik hinaus, denn hier erfolgt die Lösung eines satztechnischen Problems nicht durch das Erfinden neuer Stimmen, sondern vielmehr werden die Möglichkeiten in einem bereits bestehenden polyphonen Komplex entdeckt und wird dieser Komplex so rekombiniert, dass eine andere Struktur entsteht.

Kombination und Rekombination unterscheiden sich so hinsichtlich des Blickwinkels, den Komponistinnen und Komponisten einnehmen mussten, um eine bestimmte satztechnische Herausforderung zu meistern. Typische kombinatorische Problemstellungen der Generation um Josquin, wie etwa die Aufgabe, eine Melodie als Kanon einzurichten, werden ›lokal‹ gelöst, indem durch Rhythmisierung und Pausensetzung Note für Note sichergestellt wird, dass die Melodie einen fehlerfreien Kanon ermöglicht. Auf diese Art entsteht ein Gerüst, zu dem dann weitere Stimmen hinzutreten, für die wiederum an jeder Stelle des Satzes sichergestellt werden muss, dass sie den Kanon fehlerfrei und musikalisch sinnvoll ergänzen. Der Zugriff auf diese Problemstellungen entspricht so einer älteren Kompositionsweise, bei der die einzelne melodische oder mehrstimmige Fortschreitung im Zentrum der Betrachtung steht, und ein Satz aus der Verkettung horizontaler mit vertikalen Einzelrelationen hervorgeht. Soll beispielsweise ein Strettakanon zu einem Cantus firmus in langen Notenwerten verfasst werden, so ergeben sich durch die Tonfortschreitungen des Cantus firmus Einschränkungen hinsichtlich der im Kanon verwendbaren Töne. Diese Beschränkungen lassen sich zwar formal begreifen, indem alle an einer bestimmten Stelle denkbaren Optionen systematisch erfasst werden können, gleichzeitig ist das Problem aber lokal begrenzt in dem Sinne, dass an einer jeweiligen Stelle des Satzes nur ganz bestimmte vertikale und melodische Intervallrelationen auftreten können.

Die kompositionsgeschichtlich jüngeren Rekombinationen lassen sich auf diese Weise jedoch nicht denken. Hier gehen Komponistinnen und Komponisten von einem bereits bestehenden polyphonen Komplex aus, den als Ganzes zu betrachten, sie in der Lage sein müssen. In den melodischen Bestandteilen dieses Satzes werden nun neue kontrapunktische Beziehungen gesucht, die in dem ursprünglichen Satz angelegt, aber nicht realisiert sind. Die Perspektive kehrt sich damit fundamental um: Das ursprüngliche Satzgefüge entsteht Note für Note als Lösung einer bestimmten kontrapunktischen Aufgabe, eröffnet dann aber einen Möglichkeitsraum neuer satztechnischer Beziehungen unter der Maßgabe, dass die entstandenen melodischen Einheiten beibehalten werden. Nun betrachten Komponistinnen und Komponisten eine Vorlage auf der Ebene der soggetti unter dem Gesichtspunkt, inwiefern diese kontrapunktische Anschlussmöglichkeiten anbieten. In der Kombinatorik erzeugt also die Aufgabe die soggetti, in der Rekombinatorik erzeugen die soggetti den Kontrapunkt.

* * *

Gerade im Hinblick auf solche Eingriffe in einen ursprünglichen polyphonen Komplex stellen sich Kanons – als die satztechnisch strengsten Formen polyphoner Satzverläufe – überaus sperrig dar. Kanons sind, unabhängig von der Anzahl der beteiligten Stimmen, durch zwei Parameter bestimmt: einerseits den Einsatzabstand zwischen Führungs- und Folgestimme, andererseits durch das Einsatzintervall. Ein Eingriff in diese beiden Parameter ist nicht problemlos möglich. Es ist leicht einzusehen, dass sich ein Einklangskanon unter Beibehaltung des Einsatzabstands nicht als Obersekundkanon ausführen ließe. Resultat eines solchen Versuchs wäre eine nicht abreißende Folge von Dissonanzen. Ähnliches gilt für die Veränderung des Einsatzabstandes, da ja ein Kanon auf ein ganz bestimmtes Verhältnis zwischen den beteiligten Stimmen hin komponiert oder eingerichtet wird. Allerdings sind auch melodische Veränderungen ‒ bedingt durch das Kanonprinzip ‒ nur in geringstem Maße möglich. Wird der melodische Verlauf eines Kanons in der Führungsstimme an einer bestimmten Stelle verändert, so erscheint diese Modifikation gleichfalls in der Folgestimme, so dass in der Führungsstimme auf diese melodische Veränderung reagiert werden müsste. Das Resultat wäre ein neuer Kanon, wodurch die Beziehung zur Vorlage suspendiert wäre.

Umarbeitungen von Kanons sind deshalb insgesamt selten, und in der Generation um Josquin meines Wissens nach unbekannt. Interessanterweise lassen sich aber auch keine Kompositionen finden, in denen ein Kanongerüst wörtlich aus anderen Werken übernommen und um neu komponierte, freie Stimmen ergänzt würde. Womöglich wurden die Komponisten dadurch abgeschreckt, dass bereits ein zweistimmiger Kanon die kompositorischen Freiheiten maßgeblich einschränkt und ein neuer Satz trotz der mühevollen Einpassung neu komponierter Stimmen klanglich dem ursprünglichen Satz verhaftet bliebe. Die einzige Umgangsform mit bereits bestehenden Kanons scheint darin bestanden zu haben, sie um weitere Kanons zu ergänzen. Diese Ergänzungen können als teilweise höchst artifizielle Auswüchse der Praxis verstanden werden, bestehenden Werken weitere Stimmen hinzuzufügen,[4] und es ließe sich darüber spekulieren, ob dieses Vorgehen nur dadurch legitimiert werden konnte, dass die Ergänzungen gleichfalls satztechnisch avanciert waren: Nur die Erhöhung der satztechnischen Komplexität macht die Ergänzung von Kanons um weitere Stimmen lohnenswert. Beispiele für solche Werke wären etwa das auf Josquins vierstimmiger Chanson basierende Baisiez moy a 6, das dem ursprünglichen Doppelkanon einen weiteren zweistimmigen Kanon hinzufügt, oder die geradezu spektakuläre Erweiterung von Jean Moutons En venant de Lyon durch Pieter Maessins, der den vierstimmigen Kanon um zwei weitere vierstimmige sowie einen zweistimmigen Kanon und zwei freie Stimmen erweitert.

Echte Rekombinationen von Kanons treten deshalb offenbar erst später auf. In Adrian Le Roy und Robert Ballards Chanson-Druck Livre de meslanges von 1560 finden sich mit Faulte d’argent, Douleur me bat und Vous ne l’aurez pas drei Chansons Adrian Willaerts, die sich auf gleichnamige kanonische Chansons von Josquin beziehen.[5] Die Beziehung zwischen den Kanons beider Meister ist dabei in Faulte d’argent eher lose. Willaert übernimmt in seiner Chanson nur die Struktur eines Unterquintkanons von Josquin, verringert aber den Einsatzabstand von drei Mensuren auf nur eine. Diese Änderung der Kanonparameter zieht dann maßgebliche melodische Veränderungen in Willaerts Komposition nach sich, die bis auf die Initialen der einzelnen Phrasen neu verfasst wird.

In Douleur me bat geht Willaert jedoch wesentlich strenger vor. Josquins Chanson basiert auf dem Gerüst eines zweistimmigen Oberquintkanons mit zwei Mensuren Einsatzabstand (Beispiel 4a). Willaert übernimmt diesen Kanon fast notengetreu und legt ihn seiner eigenen Chanson zugrunde. Dabei verändert er allerdings sowohl Einsatzabstand als auch Einsatzintervall und setzt Josquins Melodie als Unterquintkanon mit drei Mensuren Einsatzabstand ein (Beispiel 4b). Erstaunlicherweise treten Veränderungen des melodischen Verlaufs nur an drei Stellen auf, und die Änderungen sind dabei eher marginal.[6]


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Beispiel 4: Vergleich zwischen den Satzanfängen von Josquins und Willaerts Chansons Douleur me bat; a) Josquin; b) Willaert

Dass sich diese Rekombination mit dem Kanon der Vorlage bewerkstelligen lässt, ist dabei Zufall, denn keinesfalls jeder Oberquintkanon erlaubt eine solche Umgestaltung. Da also weder das Kompositionsprinzip des Kanons diese Rekombination nahelegt, noch nennenswerte Eingriffe in den melodischen Verlauf des Kanons notwendig waren, um sie zu ermöglichen, bestand Willaerts Leistung vor allem in der Erkenntnis, dass Josquins Melodie auch in diesem anderen Kanonprinzip einsetzbar ist. Er musste also die Vorlage als modulares Ganzes betrachten, als ein Gefüge von Elementen, die an der ursprünglichen Stelle ihres Einsatzes nicht abschließend fixiert, sondern variabel zu einem neuen Gebilde umgestaltet werden können.

Deutlich wird dieser Blickwinkel in der Chanson Vous ne l’aurez pas, die vom satztechnischen Zugriff her zwischen dem eher freien Faulte d’argent und dem strengen Douleur me bat eingeordnet werden muss. Hier rekombiniert Willaert Josquins zweistimmigen Oberquintkanon mit vier Mensuren Einsatzabstand zu einem dreistimmigen Kanon mit zwei Mensuren Einsatzabstand, in dem die erste Folgestimme der Führungsstimme in der Unterquinte, die zweite Folgestimme der ersten in der Oberquarte folgt. Schon diese Abfolge der Einsatzintervalle entspricht nicht mehr der älteren Praxis dreistimmiger Kanons, so wie sie noch im dreistimmigen Kanon des »Christe« der Missa Hercules Dux Ferrariae erscheint, sondern weist eine Nähe zu sogenannten »stacked canons« auf.[7]

Aber auch Josquins Umgang mit dem Kanon ist ungewöhnlich: In seiner Chanson kommt es kaum zu Überlagerungen zwischen Führungs- und Folgestimme. Vielmehr entwickelt sich der Kanon als eine Abfolge von vier Mensuren umfassenden Einheiten, denen vier Mensuren Pause folgen, so dass die beiden Kanonstimmen nicht gleichzeitig, sondern nacheinander musizieren. Nur stellenweise beginnt eine neue Phrase auf dem letzten Ton der vorhergehenden in der jeweils anderen Kanonstimme. Rein formal liegt somit zwar ein strenger Kanon vor, der aber weitestgehend ohne jegliche Einschränkung komponiert werden konnte. In Willaerts Kanon kommt es jedoch durch den geringeren Einsatzabstand zwischen den Stimmen jeweils zu einer zwei Mensuren umfassenden Überlagerung. Damit erzeugt Willaert in seinem Kanon überhaupt erst satztechnisch relevante Beziehungen, die bei Josquin nicht vorhanden sind. Die Wahl der Kanonparameter ist dabei raffiniert auf die Aufgabe und Vorlage abgestimmt, denn entsprechend dem Aufbau der Vorlage kommt es in Willaerts Chanson zwar jeweils zu zwei Mensuren umfassenden Überlagerungen, aber fast nie zum gleichzeitigen Erklingen aller drei Kanonstimmen.[8] Weiterhin gewährleistet das im Hintergrund stehende Prinzip des ›stacked canon‹, dass eine einmal gefundene Überlagerung auch in der kanonischen Wiederholung fehlerfrei ist (Beispiel 5).

Auch bei Willaert liegt also nur formal ein komplexer Kanon vor, der aber satztechnisch wenig Einfluss auf die kompositorischen Freiheiten der anderen Stimmen hat. Vielmehr lässt sich die Rekombination als eine Abfolge zweistimmiger Imitationen begreifen, die sich auf der Grundlage von Josquins soggetti vollzieht, und für die sich Willaert alle Freiheiten nimmt: Teilweise werden die soggetti melodisch geringfügig abgeändert, teilweise pausiert die Führungsstimme länger, wodurch problematische Überlagerungen mit der zweiten Folgestimme umgangen werden, und teilweise werden Phrasen anders rhythmisiert, um die imitatorischen Strukturen überhaupt zu ermöglichen. Zugleich tritt hier der rekombinatorische Blickwinkel besonders deutlich hervor, denn die melodischen Elemente der Vorlage werden auf imitatorische Anschlussstellen hin untersucht, die sich anbieten, wenngleich sie in der Vorlage nicht realisiert sind.


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Beispiel 5: Vergleich zwischen den Kanonanfängen von Josquins und Willaerts Chansons Vous ne l’aurez pas

Willaerts Douleur me bat und Vous ne l’aurez pas lassen sich zwar als Sonderfälle betrachten, deren Umgang mit einer Vorlage weder klar zu benennende Vorläufer noch Nachfolger erkennen lässt, gleichwohl sind sie keinesfalls unabhängig von den kompositorischen Tendenzen ihrer Zeit zu sehen. Beide Kompositionen werden üblicherweise als Parodiechansons beschrieben, und gerade Vous ne l’aurez pas zeigt mit der Aufgabe, neue Imitationen aus bestehenden soggetti zu generieren, eine große Nähe zu den typischen Herangehensweisen in Parodiekompositionen.

Trotzdem ergeben sich zwei Probleme durch diese Betrachtungsweise. Zum einen bleibt angesichts der vielfältigen satztechnischen Ausprägungen, die in Parodiekompositionen auftreten können, unklar, was genau terminologisch damit gemeint ist. So stellt sich die Frage, ob es sich dabei um eine eigene Gattung handelt, ob der Begriff ›Parodie‹ notwendigerweise das Übernehmen mehrerer Stimmen aus einer Vorlage bezeichnet, inwieweit auf ihre Definition die Gattung der Vorlage (beispielsweise Motette oder Chanson) Einfluss hat und ab welchem historischen Zeitpunkt sich die frühesten Beispiele finden lassen.[9] Im aktuellen Fachdiskurs wird deshalb zunehmend häufig der Begriff des ›borrowing‹ verwendet, der dann beispielsweise als ›polyphonic borrowing‹ weiter präzisiert wird. Damit wird der vage Begriff der ›Parodie‹ zwar umgangen, gleichzeitig aber fallen Unterscheidungskritierien weg, denn »borrowing is probably almost as old as music itself, and Western notated music is replete with examples from every time period«.[10]

Zum anderen wird gerade in der Diskussion um die Anfänge der Parodie häufig impliziert, dass es sich hierbei um einen ästhetisch-stilistischen Wandel handele und Komponisten schlicht mit der Zeit einen anderen Umgang mit Vorlagen entwickelt hätten. Dieser veränderte Zugriff wird jedoch in aller Regel nicht begründet, sondern lediglich entwicklungsgeschichtlich konstatiert. Damit bleibt aber die entscheidende Ebene der Kompositionstechnik in der Diskussion unberücksichtigt, die gerade hier im Interesse einer Differenzierung sinnvoll sein kann. In vielerlei Hinsicht ist es möglich, scheinbare stilistische Veränderungen als Resultate von sich verändernden kompositionspraktischen Herangehensweisen darzustellen. Gerade in Bezug auf das Verfassen satztechnisch komplexer Konstruktionen lassen sich zwei Entwicklungen unterscheiden: die pragmatische Aneignung im Rahmen einer Flexibilisierung einerseits und eine Überbietungsstrategie andererseits. Dass sich Komponisten mehrfach durch satztechnische Konstruktionen anderer Komponisten herausgefordert sahen und als Reflexe darauf Werke komponierten, in denen eine entsprechende Konstruktion überboten wurde, ist wohlbekannt. Um nur ein Beispiel zu nennen, sei hier an den vierfachen Proportionskanon »Agnus Dei II« aus Pierre de la Rues Missa L’Homme armé verwiesen, der als klare Antwort auf Josquins dreifachen Proportionskanon in dessen Missa L’Homme armé super voces musicales verstanden werden kann. Diese Überbietungsstrategie ist jedoch aus künstlerischer Sicht nicht unbegrenzt fortsetzbar, da im Allgemeinen satztechnische Schwierigkeiten durch die Einführung weiterer Bedingungen – wie etwa einer zusätzlichen Stimme in einem Kanon – überproportional zunehmen. Möglicherweise hätte auch noch ein fünfstimmiger Proportionskanon als erneuter Reflex auf de la Rues Komposition angefertigt werden können, aber mit jeder weiteren Stimme nähme die Unwucht zwischen strukturellem Anspruch und musikalischem Resultat zu.

Künstlerisch produktiver ist deshalb die Strategie, satztechnische Konstruktionen zu flexibilisieren, indem sie weniger streng und dadurch vielfältiger einsetzbar werden.[11] Beispielsweise ist die Aufgabe, einen zweistimmigen Kanon zu verfassen, aus satztechnischer Sicht mit der Aufgabe, eine zweistimmige Imitation zu verfassen, identisch. In beiden Fällen werden durch Einsatzabstand und Einsatzintervall Rahmenbedingungen vorgegeben, die durch die Berücksichtigung einer entsprechend eingeschränkten Menge verfügbarer Intervalle erfüllt werden können. Kompositorisch sind Imitationen allerdings wesentlich flexibler einsetzbar, denn während ein Kanon eine gesamte Komposition reguliert, können jene als ›Miniaturkanons‹ jederzeit abgebrochen und durch andere Imitationen ergänzt werden.

Das Aufkommen von rekombinatorischen Techniken, das im vorliegenden Artikel im Kontext der strengsten Satztechniken betrachtet wurde, kann als Fortsetzung dieser Flexibilisierung betrachtet werden: Je mehr Erfahrung im Umgang mit Imitationen Komponisten besaßen, umso eher konnten sie in den soggetti und Fortschreitungen einer Vorlage weitere imitatorische Potentiale erkennen. Eine Rolle spielte sicherlich, dass sich auch hier mit der Zeit Standardlösungen herausbildeten, und gewissermaßen ein Vokabular von melodischen Wendungen entstand, die auf unterschiedlichste Weise eingesetzt werden konnten. Damit vollzog sich aber gleichzeitig der oben erwähnte kompositionspraktische Wandel in dem Sinne, dass Musik nicht über die Relationen zwischen einzelnen Intervallen, sondern als aus größeren, melodischen und klanglichen Einheiten bestehend begriffen wurde.

* * *

Beispiele für die Unterschiede zwischen einer älteren kombinatorischen und einer jüngeren rekombinatorischen Setzweise unabhängig von Kanonkompositionen lassen sich leicht finden. So kann Pierre Moulus dreistimmige Chanson Amy, souffrez exemplarisch für eine Komposition angesehen werden, in der ein gesamter Satz durch lokale kombinatorische Verhältnisse entsteht, während Nicolas Gombert in seiner darauf basierenden Chanson die Musik der Vorlage so rekombiniert, dass völlig andere satztechnische Zusammenhänge entstehen.[12]

Eines der hervorstechendsten Merkmale von Moulus Chanson ist der Umstand, dass sie fast vollständig als Dezimarium komponiert ist. Der Cantus lässt sich als eine resultierende Stimme auffassen, die genau dann zum Bassus in Dezimparallelen geführt werden kann, wenn Tenor und Bassus ausschließlich in Seiten- oder Gegenbewegung geführt werden. Ein Dezimarium verweist so in doppelter Hinsicht auf ältere Satztechniken: Einerseits entsteht eine Stimme ‒ hier der Cantus ‒ Note für Note in Relation zu einer anderen Stimme, während andererseits zwischen Bassus und Tenor jede einzelne Fortschreitung bestimmte Bedingungen erfüllen muss. Der satztechnische Fokus liegt somit immer auf lokalen Ereignissen.


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Beispiel 6: Pierre Moulu, Amy, souffrez, Beginn

Obwohl gleich zu Beginn der Chanson ein Dezimarium möglich wäre, entscheidet sich Moulu für eine andere Parallelführung der Stimmen, und die Intervallverbindung ›Quinte – Terz – Quinte‹ zwischen Tenor und Bassus wird im Cantus durch Sextparallelen zum Tenor ergänzt. Diese Wendung ist typisch für falsobordone-Sätze und damit für eine andere Art der auf Intervallrelationen basierenden Satztechniken. Im Hinblick auf die Eröffnung des Satzes ergibt sich der klangliche Vorteil, dass die Melodie des Tenors in der Oberstimme verstärkt wird. Besonders interessant sind aber vor allem die Abschnitte, in denen Imitationen zwischen den beteiligten Stimmen auftreten. Diese sind in den meisten Fällen kurz gehalten und satztechnisch gut kontrollierbar. So setzt bereits in M. 3 eine Oberquintimitation zwischen Bassus und Tenor ein, die in ihrem Gerüstsatz auf einem fallenden Quart-Terz-Gegenschritt basiert, wodurch die für das Dezimarium wesentliche Gegenbewegungsregel automatisch erfüllt wird. In M. 7 f. kommt es hingegen zu einer Oberquartimitation zwischen Tenor und Cantus. Diese Imitation führt durch die Bewegung des Tenors in Sekundschritten aufwärts zu Terzparallelen zwischen den Stimmen, so dass erneut zwei Stimmen parallel geführt werden, während Bassus und Tenor in Gegen- bzw. Seitenbewegung verlaufen müssen.

Der kompositorische Entstehungsprozess von Moulus Amy, souffrez kann so weitgehend auf die Komposition eines zweistimmigen Satzkerns zurückgeführt werden, in den elegant unterschiedliche Setzweisen integriert und wechselweise überblendet werden. Leitendes Prinzip ist dabei die Absicht, die Oberstimme größtenteils parallel zum Bassus zu führen, was zu der einzigen, leicht zu beachtenden Einschränkung führt, Parallelführungen zwischen Tenor und Bassus zu meiden. In den meisten Fällen kann rekonstruiert werden, an welchen Stellen Moulu von einem einfachen zweistimmigen Komplex ausging und wo er hingegen die Stimmen in einer bestimmten Reihenfolge konzipierte. Dabei lassen sich alle auftretenden Besonderheiten durch die kompositorische Beachtung lokaler Bedingungen erklären.[13]

Gombert reagiert in seiner Komposition nicht auf diese Eigenschaften der Vorlage. Vielmehr löst er den ursprünglichen Satz in seine Bestandteile auf und setzt diese mit sich selbst und neu komponierten Elementen in Beziehung. Als Gerüst verwendet er den vollständigen Cantus der Vorlage, der durch die Transposition des gesamten Satzes um eine Quarte abwärts in eine Altus-Lage gelangt, so dass Raum für zwei Oberstimmen geschaffen wird.


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Beispiel 7: Nicolas Gombert, Amy, souffrez, Beginn

Zu Beginn übernimmt Gombert den kompletten dreistimmigen Satz der Vorlage quasi als Motto. Unmittelbar beginnt er aber mit der Rekombination der Vorlage, indem er zusätzliche Imitationen, basierend auf der Musik der Vorlage, in den Satz einfügt und ganze Stimmverläufe auf den Cantus firmus zurückklappt, so dass neue kontrapunktische Kombinationen entstehen. Der Anfang der Chanson demonstriert dieses Vorgehen virtuos: Nach dem Vortrag des Mottos werden zwei Stimmen unmittelbar als klanglich herausstechende Imitationen wiederholt (vgl. Cantus, M. 2 f.). Die Ergänzungen des Quintus und des Bassus erklingen als Imitationen über dem weiter fortschreitenden Cantus firmus. In M. 4–6 kommt es dabei zu einer besonders dichten Rekombination des ursprünglichen Stimmgefüges, indem ganz unterschiedliche Abschnitte unterschiedlicher Stimmen übereinander geschichtet werden. Gombert überführt hier Moulus Tenor in den Bassus, so dass insgesamt zwei Stimmen in ihrem ursprünglichen Zusammenhang aus der Vorlage übernommen werden. Der Tenor erfährt dabei zwar eine leichte Vereinfachung, bleibt jedoch in seiner Kontur klar erkennbar. Über dieses zweistimmige Gefüge legt Gombert nun einen früheren Tenorverlauf, und darüber wiederum den transponierten Verlauf des Cantus von wiederum einer anderen Stelle des Satzes. Insgesamt erklingt hier das Material der Vorlage in vier unterschiedlichen Stimmen. Diese ihrerseits werden um weitere Stimmen, die eine deutliche Beziehung zu den Stimmen der Chanson aufweisen, aber nicht auf einzelne Stellen zurückgeführt werden können, ergänzt. Besonders hervorstechend wirkt die diminuierte Terzenkette, die einerseits als Teil des ursprünglichen Satzes aufgefasst werden kann, andererseits, wie oben erwähnt, zum imitatorischen Grundvokabular gezählt werden kann.

Auf der Grundlage dieses rekombinatorischen Zugriffs verfasst Gombert die gesamte Chanson. Die ursprünglichen Entstehungsbedingungen von Moulus Chanson treten dabei nicht nur in den Hintergrund, sondern werden vielmehr vollständig irrelevant: Die ursprünglich in einem bestimmten satztechnischen Kontext entstandenen soggetti und Stimmverläufe löst Gombert aus ihrem Zusammenhang heraus und verwendet sie als Ausgangsmaterial für seine eigene Komposition. Die Möglichkeit, zwischen beiden Kompositionspraktiken im Sinne einer kombinatorischen und einer rekombinatorischen zu unterscheiden, lässt sich als Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels in der Auffassung kontrapunktischer Zusammenhänge begreifen. Basiert das kombinatorische Komponieren auf Einzelrelationen und lokalen Bedingungen, so ist das rekombinatorische durch die Betrachtung eines Satzes als Gefüge von soggetti charakterisiert, die als Total erfasst und einem kompositorischen Zugriff zugänglich gemacht werden. Hier lassen sich bereits Spuren der Tendenzen des 16. Jahrhundert ausmachen, die Elemente der Musik in immer größeren Einheiten zu bestimmen.

Anmerkungen

1

In dem vorliegenden Text wird die gendersensible Schreibweise genutzt, um zumindest potentiell die Komponistinnen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts einzuschließen, die noch nicht bekannt sind.

2

Vgl. Schiltz 2015.

3

Zur Kadenzbildung in Oberquartdoppelkanons siehe Dumitrescu 2007, 146 f.; Ott 2014, 197–199.

4

Eine Übersicht und Einführung in die damit verbundene si placet-Tradition findet sich in Self 1996.

5

Vgl. Van Orden 1994. Die früheste Quelle für Willaerts Faulte d’argent und Douleur me bat ist Tielman Susatos Cincquiesme livre contenant trente-deux chansons a cinq et six parties von 1544.

6

Eine Gegenüberstellung der melodischen Verläufe von Josquins und Willaerts Führungsstimmen und eine Beschreibung der Unterschiede findet sich in Jas 2008, 124.

7

Vgl. Gosman 1997.

8

Die kurzzeitigen Überlagerungen in M. 47 und M. 49 sind satztechnisch weitgehend unerheblich.

9

Einen guten Einstieg in diese Diskussion bieten folgende Texte: Lockwood 1964; Quereau 1974; Burkholder 1985; Steib 1996; Meconi 2004a.

10

Meconi 2004b.

11

Vgl. dazu auch Cumming 2013 sowie Cumming/Schubert 2015.

12

Die dreistimmige Chanson wird in den Quellen unterschiedlichen Komponisten zugeschrieben, unter anderem Heinrich Isaac, Moulu und Claudin de Sermisy. Im Folgenden wird Moulu aus pragmatischen Erwägungen als Urheber angesehen, da er in den Quellen am häufigsten genannt wird. Zur Frage der korrekten Zuschreibung wird dadurch nicht Stellung bezogen.

13

Die einzige Ausnahme von diesem Prinzip findet sich in M. 10 f. Hier handelt es sich um eine Unterquintimitation zwischen Cantus und Tenor, die eigentlich von der Oberstimme aus gedacht werden müsste. Die diminuierte Terzenkette darf allerdings zu den in Imitationen weitverbreiteten Standardwendungen gezählt werden, so dass die Annahme, der Superius könne als resultierende Stimme begriffen werden, dadurch nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Literatur

Burkholder, J. Peter (1985), »Johannes Martini and the Imitation Mass of the Late Fifteenth Century«, Journal of the American Musicological Society 38, 470–523.

Cumming, Julie (2013), »From Two-Part Framework to Movable Module«, in: Medieval Music in Practice: Essays in Honor of Richard Crocker, hg. von Judith Peraino, Münster: American Institute of Musicology, 175–213.

Cumming, Julie / Peter Schubert (2015), »The Origins of Pervasive Imitation«, in: The Cambridge History of Fifteenth-Century Music, hg. von Anna Maria Busse Berger und Jesse Rodin, Cambridge: Cambridge University Press, 200–228.

Dumitrescu, Theodor (2007), »Constructing a Canonic Pitch Spiral: The Case of Salve Radix«, in: Canon and Canonic Techniques, 14th–16th Centuries: Theory, Practice and Reception History. Proceedings of the International Conference, Leuven, 4–6 October 2005, hg. von Katelijne Schiltz und Bonnie J. Blackburn, Leuven: Peeters 2007, 141–170.

Gosman, Alan (1997), »Stacked Canon and Renaissance Compositional Procedure«, Journal of Music Theory 41/2, 289–317.

Jas, Eric (2008), »Josquin, Willaert and ›Douleur me bat‹«, in: »Recevez ce mien petit labeur«: studies in Renaissance music in honour of Ignace Bossuyt, hg. von Mark Delaere und Pieter Bergé, Leuven: Leuven University Press, 119–130.

Lockwood, Lewis (1964), »A View of the Early Sixteenth-Century Parody Mass«, in: Queens College 25th Anniversary Festschrift, hg. von Albert Mell, New York: Queens College, 53‒77.

Meconi, Honey (Hg.) (2004a), Early Musical Borrowing, New York: Routledge.

Meconi, Honey (2004b), »Introduction: Borrowing and Early Music«, in: Early Musical Borrowing, hg. von Honey Meconi, New York: Routledge.

Ott, Immanuel (2014), Methoden der Kanonkomposition bei Josquin des Prez und seinen Zeitgenossen, Hildesheim: Olms.

Schiltz, Katelijne (2015), Music and Riddle Culture in the Renaissance, Cambridge: Cambridge University Press.

Self, Stephen (1996), The Si Placet Repertoire of 1480–1530, Madison (WI): A-R editions.

Steib, Murray (1996), »A Composer Looks at His Model: Polyphonic Borrowing in Masses from the Late Fifteenth Century«, Tijdschrift van de Koninklijke Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis 46/1, 5–41.

Quereau, Quentin W. (1974), Palestrina and the Motteti del Fiore of Jacques Moderne: A Study of Borrowing Practices in Fourteen Parody Masses, Ph.D., Yale University.

Van Orden, Kate (1994), »Imitation and ›La musique des anciens‹. Le Roy & Ballard’s 1572 ›Mellange de chansons‹«, Revue de Musicologie 80/1, 5–37.