Cosima Linke, Konstellationen – Form in neuer Musik und ästhetische Erfahrung im Ausgang von Adorno. Eine musikphilosophische und analytische Untersuchung am Beispiel von Lachenmanns ›Schreiben. Musik für Orchester‹, Mainz: Schott Campus 2018
Julia Freund
Dass Cosima Linkes 2018 erschienene Studie Konstellationen – Form in neuer Musik und ästhetische Erfahrung im Ausgang von Adorno musikphilosophische und musikanalytische Überlegungen versammelt und miteinander verzahnt, ist kein gänzlich unvertrautes Vorgehen,[1] darum aber noch lange nicht selbstverständlich. Auch in aktuelleren Debatten lässt sich beobachten, dass musikphilosophische Argumentationen häufig nur peripher (wenn überhaupt) auf konkrete musikalische Gegenstände eingehen, ein enger Dialog mit musikanalytischen Befunden findet selten statt.[2] Linkes Buch hingegen möchte philosophische Kunsttheorie und analytische Fragestellungen zusammendenken und nimmt sich dabei große Themen vor: Ziel der argumentativen Entfaltung ist einerseits eine »zeitgemäße Theorie der musikalischen Form« (22), andererseits eine Darlegung dessen, was ästhetische Erfahrung ausmacht, im Hinblick auf »das Verhältnis von ästhetischem Gegenstand und ästhetisch erfahrendem Subjekt und damit einhergehend die Struktur bzw. de[n] Modus der ästhetischen Erfahrung« (17).
Als Triebfeder für die Arbeit benennt Linke eine Frage, an die all jene stoßen, die sich in Forschung und Lehre mit neuer Musik befassen: »Wie entsteht oder bildet sich musikalische Form in posttonaler neuer Musik jenseits von vormals quasi-apriorischen formalen Funktionen und Typen? Und mit welchem musikanalytischen sowie musikphilosophischen Begriffsinstrumentarium kann diese adäquat beschrieben und erfasst werden?« (8) Die philosophische Perspektive, wie sich hier bereits ankündigt, dient nicht etwa der kunsttheoretisch informierten Kontextualisierung analytischer Erwägungen, vielmehr möchte die Autorin »[a]uf der Ebene eines musikphilosophischen Formbegriffs« (9) den Herausforderungen in der analytischen Auseinandersetzung mit neuer Musik begegnen.
Der von Linke anvisierte Formbegriff, den sie maßgeblich von Adorno übernimmt, ist »jenseits der Unterscheidung von werk-orientierten und ereignishaften bzw. situativen musikalischen Phänomenen« (12) zu verorten und soll, wie die Autorin mehrfach betont, die Dichotomie von Werk- und Rezeptionsästhetik, von Musik als Text und als Klang unterlaufen (14–21). Während mich bei dieser und anderen Lektüren – ausgehend von meiner Perspektive auf die aktuelle Musikforschung – die Frage begleitet, ob jene vielbesprochenen Dichotomien nicht durch abermalige Vorführung unbeabsichtigt verhärtet werden, scheint mir umgekehrt der Impetus ebenso plausibel, solche (wirksamen) binären Denkmuster wiederholt explizit zu unterlaufen. – Es ist ein zentraler Gedanke des Buches von Linke, musikalische Form als etwas zu begreifen, das sich wesentlich zwischen ästhetischem Objekt und Subjekt »im Prozess der ästhetischen Erfahrung« (9) aufspannt.[3] Entsprechend stehen die Termini ›Form‹ und ›ästhetische Erfahrung‹ im Zentrum zweier großer Kapitel im ›Theorie‹ überschriebenen ersten Teil der Arbeit, an den sich ein zweiter, analytischer Teil anschließt.
Musikalische Form im Ausgang von Adorno
Der ›Theorie‹-Teil der Arbeit hebt an mit einer Rekapitulation des ›konstellativen Denkens‹ bei Adorno (Kapitel 1). Gemeint ist das Verfahren, Begriffe als Konstellation um ein zu beschreibendes Phänomen treten zu lassen, aus der Überzeugung heraus, dass dies dem Phänomen in seinen Besonderheiten gerechter wird als ein klassifizierender, definierender Begriff. Mitunter dient Linke die so verstandene Konstellationsidee als »Erkenntnismodell«, um Kunst in »ihrer inneren Verfasstheit« zu verstehen (38). Mit Adorno begreift sie nämlich musikalische Form als Konstellation von Elementen, wobei das Verhältnis zwischen den Einzelelementen und dem Ganzen als ein dynamisches (mit Adorno: als ›Kraftfeld‹) anzusehen ist, das – so Linke – erst in der ästhetischen Erfahrung »entfaltet oder aktualisiert« werde (49).
Zu Recht unterstreicht Linke die Relevanz und Produktivität eines der Adorno’schen Philosophie entlehnten konstellativen Denkens, einerseits als Denkfigur für musikalische Formbildungen jenseits geschlossener Verläufe und bekannter Dramaturgien sowie andererseits als eine Art Leitbild für musikanalytische Darstellungsformen (wie von Linke selbst im ›Analyse‹-Teil erprobt). Leicht ließe sich diese Liste fortführen: Auch für die Darlegung musikgeschichtlicher (oder biographischer) Zusammenhänge, etwa als Gegengewicht zu breitgetretenen Narrativen, kann die Idee des Konstellativen fruchtbar gemacht werden.
Linke jedenfalls setzt das Konstellationsmodell gleich in die denkende und schreibende Praxis um: Das zweite Kapitel von gut 80 Seiten Länge gestaltet sich als (geglückter) Versuch, den Begriff der musikalischen Form konstellativ zu schärfen. Dazu beleuchtet die Autorin Begriffspaare, die sich um den Formbegriff gleichsam abgelagert haben: Materie bzw. Material/Form, Struktur/Form sowie Medium/Form. Linke geht es dabei explizit um eine produktive (und keine historisierende) Auseinandersetzung, wenngleich allein durch die chronologisch erfolgte Diskussion der Standpunkte von Aristoteles, Adorno, Eco und Luhmann ein begriffsgeschichtliches Moment Eingang in die Arbeit findet.
Im Rekurs auf die aristotelische Materie-Form-Differenzierung hebt Linke die wechselseitige Bedingtheit beider Prinzipien hervor, auf die Musik gewendet mit der Konsequenz, dass »beinahe jedes beliebige musikalische Phänomen je nach Perspektive als Form oder Material betrachtet werden kann« (54). Die Verschränkung von Material und Form wird in der Diskussion von Adornos Materialbegriff vertieft und angereichert um die Einsicht, dass musikalisches Material – erscheint es uns auch als zweite Natur – historisch veränderlich und immer schon vorgeformt ist. Vorgeformt durch die Spuren vorgängiger kompositorischer Arbeit, auf welche die Komponierenden im musikalischen Material (als Objekt gewordene Subjektivität) treffen. Der Fokus der Begriffsreflexion verlagert sich im Folgenden vom ästhetischen Objekt auf den subjektiven Pol. In Abgrenzung vom Strukturbegriff betont Linke, dass bei der ›Form‹ die Seite der Rezipierenden stets mitgedacht sei; ›Struktur‹ möchte sie hingegen »im Anschluss an Dahlhaus als produktionsästhetischen Aspekt eines ästhetischen Objekts« (106) verstanden wissen. Schließlich bemüht sie das Luhmann’sche Begriffspaar ›Medium/Form‹, um die konstruktive Funktion der Beobachter-Perspektive herauszustellen: Form entsteht demnach »durch Beobachtung, also durch den performativen Akt einer Unterscheidung und Bezeichnung« (125).
Dass musikalische Form sowohl im musikalischen Phänomen angelegt ist als auch auf konstituierende Leistungen der Rezipierenden zurückgeht, wird von Linke vermittelst des Begriffspaars ›Potenzialität/Aktualität‹ veranschaulicht. Besonders plausibel ist dies, wenn sie »die sich sinnlich darbietenden Objekteigenschaften eines musikalischen Phänomens als einen Möglichkeitsraum« beschreibt, »der unterschiedliche Verwirklichungen (das heißt Formen) impliziert und zulässt«, wobei der Rezipierende an der »Verwirklichung von musikalischer Form aktiv beteiligt« sei (63). Dies scheint mir für die Rezeption einer Bach-Kantate ebenso zu gelten wie für die einer Klangkomposition des 20. Jahrhunderts.
Von weiteren Diskussionen würde meines Erachtens die Anwendung des zuletzt genannten Begriffspaars auf die Relation zwischen Material und Form profitieren. »Im Hinblick auf das Verhältnis von Potentialität und Aktualität«, bemerkt Linke, »ist im Anschluss an Aristoteles musikalische Form in dem jeweiligen musikalischen Material der Möglichkeit nach bereits angelegt, im je konkreten musikalischen Phänomen findet somit die Verwirklichung bzw. Aktualisierung dieser impliziten Möglichkeiten statt« (55 f.). Doch ist nicht ein konkretes musikalisches Phänomen auf andere (schwächere) Art der Möglichkeit nach in einer Materialkonstellation angelegt, als die von der Rezipientin zu aktualisierende Form in einem Musikstück angelegt ist? Diesem Sachverhalt wäre durch weitere terminologische Differenzierung nachzugehen.
Damit zusammenhängend heißt es an anderer Stelle: »Ein enthierarchisiertes und entfunktionalisiertes musikalisches Material impliziert eine ihm entsprechende musikalische Form, das heißt eine Form[,] die dem Geformten nicht äußerlich gegenübersteht, also das Geformte nicht abstrakten Funktionen oder Typen ›subsumiert‹ bzw. von abstrakten Prinzipien ableitet, sondern eine integrale Form im Sinne Adornos« (87). Was ist damit gemeint? Adornos »Idee einer integralen Form«[4] ist ein wichtiger Ausgangspunkt für den von Linke vor allem im Hinblick auf posttonale Musik entfalteten Formbegriff. Der Text Form in der neuen Musik, der auf einen bei den Darmstädter Ferienkursen 1965 gehaltenen Vortrag zurückgeht, stellt hier einen zentralen Bezugspunkt dar. Nach Adorno bildet sich eine integrale Form ›von unten nach oben‹. Dabei sind, nach der ›Überwindung‹ materialinterner Hierarchisierungen, alle Elemente gleich wichtig: »nichts an der emanzipierten Musik, was nicht Träger der Form würde«.[5] Ausführlich diskutiert Linke die Produktivität der Adorno’schen Wendung, dass alle Momente »gleich nah zum Mittelpunkt«[6] seien – ein Bild, das für neue Musik sicherlich in vielerlei Hinsicht treffend ist. Linke zufolge lässt sich daraus nun »ein Kriterium für Stimmigkeit und damit ästhetische Gelungenheit herleiten, insofern sich Stimmigkeit, also die wechselseitige Übereinstimmung bzw. Angemessenheit von zentralem Formproblem und verwendetem musikalischen Material in posttonaler Musik nur realisieren lässt, wenn die antihierarchischen Implikationen des emanzipierten musikalischen Materials bei der individuellen Gestaltung der musikalischen Form berücksichtigt werden« (99 f.). Welche Konsequenzen aber hat dies für die Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen neuer Musik, in denen (Re-)Hierarchisierungen (z. B. auf formaler oder diastematischer Ebene), vielleicht sogar Reprisenhaftes, spürbar sind?
Linke zielt in ihrer Adorno-Rezeption auf »ein[en] kritische[n], aber nicht-autoritäre[n] Materialbegriff« (32), losgelöst »von Adornos problematischem Fortschrittsdenken« (86). Doch bleiben nicht Tendenzen jenes Denkens präsent, etwa sprachlich in der Rede vom »emanzipierte[n] Material« (ebd.), oder inhaltlich, wenn Linke in »einer bewusst kritischen Haltung« der Komponierenden gegenüber ihrem Material ein »Kriterium ästhetischer Gelungenheit« (71) verortet? Solche Kriterien ästhetischer Gelungenheit herauszukristallisieren und zu formulieren, ist zweifelsohne von Relevanz, wirft aber meiner Auffassung nach die zu thematisierende Frage auf, für welche neue Musik der hier entwickelte Formbegriff angemessen ist. (Dass Helmut Lachenmann mit seiner Vorstellung vom Hören als einer ›sich selbst wahrnehmenden Wahrnehmung‹ den »exemplarischen Bezugspunkt« (10) im ›Analyse‹-Teil bildet, ist in diesem Kontext bezeichnend.) Das Konzept der Konstellation ist jedenfalls grundsätzlich offen genug, um als Denkfigur für diverse Arten von Formbildungen in der (neuen) Musik zu fungieren. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass Linke in zahlreichen Passagen die bisweilen zu eng erscheinende musikalische Perspektive Adornos deutlich erweitert. Besonders überzeugend ist dies zum Beispiel, wenn sie Adornos Pochen auf einer quasi-notwendigen Sukzession musikalischer Ereignisse »zu einem Pluralismus von verschiedenen Typen musikalischer Zeitartikulation« (95) hin weiterdenkt.
Ästhetische Erfahrung – unendliches Spiel
Nach den Überlegungen zur Form widmet sich das dritte Kapitel, erneut korrespondierend mit kunstphilosophischen Positionen, dem Komplex der ästhetischen Erfahrung. Zunächst rekonstruiert Linke Adornos »eigenständige Theorie der ästhetischen Erfahrung« (137), vor allem im Rekurs auf die Ästhetik-Vorlesung von 1958/59. Nach Adorno werde der musikalische Sinnzusammenhang in der ästhetischen Erfahrung in einem »mimetische[n] und zugleich synthetische[n] Mitvollzug« (140) prozessual aktualisiert, wobei das Ineinandergreifen von sinnlichem Eintauchen und reflektierender Synthesisleistung von Linke als »fortdauernder Reflexionsprozess« (144) beschrieben wird.
Um das »bei Adorno […] untergewichtete aktive oder performative Moment der ästhetischen Erfahrung« (226) begrifflich-konzeptuell auszugleichen, bezieht Linke nun Umberto Ecos Poetik offener Kunstwerke in ihre Überlegungen mit ein, in der den interpretierenden Subjekten eine mitschöpferische Rolle zugesprochen wird. Mit Blick auf die Musik sieht die Autorin die Notwendigkeit, zwischen drei Ebenen der Rezeption zu differenzieren: der Interpretation, der ästhetischen Erfahrung und der musikalischen Analyse (161). Zudem greift Linke Ecos zeichentheoretischen Ansatz auf, um die Merkmale ästhetischer Erfahrung ausgehend von semiotischen Prozessen weiter zu bestimmen. Die Brücke von Adorno, der Kunst expressis verbis nicht als Kommunikation verstanden wissen wollte, zu einer semiotischen Explikation des Ästhetischen wird über die Verknüpfung des Adorno’schen ›Rätselcharakters‹ mit der Eco’schen Unbestimmtheit ästhetischer Zeichen geschlagen (z. B. 237).
Ästhetische Zeichen in der Musik verortet Linke auf der klanglichen Ebene (184). Dabei könnte ein ganzes Musikstück ebenso wie einzelne Teile desselben als Zeichen angesprochen werden (202 f.). Sie betont mit Eco die ›konstitutive Unbestimmtheit‹ und ›Autoreflexivität‹ ästhetischer Zeichen und charakterisiert ästhetische Erfahrung als einen unabschließbaren Prozess, und zwar zunächst – als argumentativer Zwischenschritt – im Sinne einer misslingenden, aufgeschobenen Signifikantenidentifikation. Den Schlussstein dieses Gedankengangs bildet die Spielästhetik Ruth Sondereggers, hat diese doch, wie Linke hervorhebt, einen positiven Begriff der Struktur der ästhetischen Erfahrung entwickelt, nämlich als unendliches Spiel zwischen materialen, formalen und hermeneutischen »Verstehensstrategien oder -vollzügen«, die in Wechselwirkung zueinander stehen, »[sich gegenseitig] kritisieren und affirmieren« (209).
Im vierten Kapitel schließlich führt Linke die an Sondereggers Spielästhetik weiterentwickelte Konzeption von ästhetischer Erfahrung mit dem Adorno’schen Konstellationsbegriff zusammen: »So lässt sich die ästhetische Erfahrung auch als eine Art konstellatives Denken bzw. als eine begriffslose Form der Erkenntnis im Medium der ästhetischen Erfahrung verstehen, in deren Verlauf sinnliche, formale und sinnhafte Aspekte des ästhetischen Gegenstands konstellativ aufeinander bezogen werden« (227). In ihrer Lesart rückt Linke den Konstellationsbegriff Adornos in die Nähe der Sonderegger’schen Spielästhetik (219–225)[7] – gegen die Adorno-Lektüre Sondereggers, die den Konstellationsbegriff bei Adorno aufgrund seiner Verknüpfung mit dem Rätselcharakter von Kunstwerken als hermeneutisch überanstrengt betrachtet (220), sowie, meinem Eindruck nach, ein Stück weit gegen Adorno selbst. Denn wenn auch bei Adorno ästhetische Erfahrung durch »eine Art rekursiven Prozess« charakterisiert ist, bei dem ästhetischer Zusammenhang konstellativ als »Momentaufnahme, das heißt als eine punktuelle Stillstellung des ästhetischen Prozesses« (225) aufleuchtet, so scheint Adorno – divergierend von der Annahme eines unendlichen Spiels – von der Möglichkeit des Entstehens gewisser Kristallisationspunkte auszugehen.
Konstellative und ›richtige‹ Praxis
Das fünfte und letzte Kapitel des ›Theorie‹-Teils befasst sich mit der Frage, »in welchem Verhältnis oder Bezug das Ästhetische als eine autonome Praxis zum Nicht-Ästhetischen und damit zu anderen menschlichen Praktiken bzw. Praxisformen steht« (237). Mit Jacques Rancière (vor allem Die Aufteilung des Sinnlichen) legt Linke dar, wie ästhetische Erfahrung »an einer Neugestaltung von Erfahrungsräumen teilhat, also in bestehende Ordnungen des Sinnlichen verändernd eingreift« (255). Ausgehend von der Lektüre Georg Bertrams (vor allem Kunst als menschliche Praxis) versteht sie Kunst als »reflexive Praxis«, die »eine Neuaushandlung außerästhetischer Praktiken anregen kann« (258). Auf dieser gedanklichen Grundlage zielt Linke darauf ab, »einen positiven Begriff von ›richtiger Praxis‹ bei Adorno herauszuarbeiten«, den sie anknüpfend an Guido Kreis[8] als »konstellatives Leben« fasst (239). Ästhetische Praxis, resümiert Linke, sei »ein spezifisches Modell unter anderen möglichen Modellen für sonstige Praxis«, das jedoch als »Modell oder vielmehr Korrektiv für sonstige Praxis« fungieren könne, wenn etwa »im Rahmen von ästhetischer Praxis Prozesse bzw. Vollzüge nichtinstrumentellen, selbstzweckhaften Handelns spielerisch und ungezwungen in spezifischer Weise ausprobiert und erlebt werden können« (265).
Nun entsteht in der Verbindung einiger Gedanken – und ich meine hier insbesondere den Konnex von Musikanalyse als Ermöglichung ästhetischer Erfahrung (235), von ästhetischer Erfahrung als Modell für konstellative Praxis (266) sowie Letzterer als ›richtiger‹ Praxis (260–264) – eine Konstellation, die meiner Auffassung nach einer Kommentierung bedarf. Ohne die genannten Zusammenhänge von der Hand weisen zu wollen (im Gegenteil), wäre es gewinnbringend, die Bedingtheit dieser Position bzw. Sichtweise – nämlich ihre historische (diskurs- und ideengeschichtliche) sowie die Bedingtheit im Hinblick auf die eigene wissenschaftliche Praxis – zu reflektieren und in die Argumentation aufzunehmen.
Das Modell der Konstellation in der analytischen Praxis
Im Rahmen der theoretischen Reflexionen des ersten Teils der Arbeit skizziert Linke auch ein Idealbild von musikalischer Analyse und musikanalytischer Darstellungsform. Neben dem konstellativen Denken steht dabei nicht zuletzt Adornos ›materiale Formenlehre‹ Modell, nämlich als »analytische Methode […], die nicht nur die aus dem je spezifischen musikalischen Material hervorgehenden individuellen Formen beschreibt, sondern zumindest versucht, von diesem Besonderen ausgehend allgemeine formale Kategorien abzuleiten« (81). Ohne es explizit zu formulieren, erkennt Linke hier eine Leerstelle bzw. etwas Unabgeschlossenes bei Adorno; diesem wird man nicht zuletzt bei der Lektüre des Textes Vers une musique informelle gewahr, in dem eine solche materiale Formenlehre angedacht, aber im Hinblick auf die neue Musik der Zeit nur unzufriedenstellend durchgeführt wird.[9] Überdies orientiert sich Linke methodisch an der immanenten Analyse, also dem »Anspruch […], ein musikalisches Phänomen möglichst aus sich selbst, das heißt aus dem internen Kontext des ästhetischen Zusammenhangs heraus verstehen zu wollen« (104), allerdings mit der Adaption, dass »immanente Kritik nicht ein Objektives benennt, sondern als ein interpretatorisches Verfahren der individuellen Perspektive der Analysierenden unterliegt« (102). Trotz dieses subjektiv-performativen Anteils der Analyse könnten die Ausführungen »intersubjektiv nachvollziehbar« sein, »indem sie im Sinne einer kritisch reflektierten immanenten Analyse bzw. materialen Formenlehre bei den ästhetisch erfahrenen Eigenschaften des musikalischen Phänomens ansetz[en]« (235).
Indem sich analytische Untersuchungen auf unterschiedliche Gesichtspunkte eines Musikstücks richten und diese konstellativ zur Darstellung bringen, ermöglichen sie auch »alternative Erfahrungsweisen« (ebd.). Für Linke stellt eine derart durchgeführte Analyse gar den »Versuch [dar], die konstitutive Unbestimmtheit des ästhetischen Gegenstands und damit einhergehend die doppelte Prozessualität des ästhetischen Gegenstands sowie der ästhetischen Erfahrung zu zeigen, insofern sie die einzelnen analytischen Aussagen zu immer wieder anderen und neuen Aussagen-Konstellationen zusammentreten lässt« (ebd.), ohne einen letztgültigen Zusammenhang zu generieren.
Im zweiten, deutlich kürzeren Teil der Arbeit führt Linke am Beispiel von Helmut Lachenmanns Orchesterstück Schreiben (UA 2003) unter anderem vor, wie eine konstellative Darstellungsform realisiert werden kann. Ihre analytischen Befunde formiert sie in drei Schwerpunktsetzungen, die das Stück aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und dabei freilich ineinandergreifen. Als »Aspekt 1« werden die Übergänge zwischen den größeren Formabschnitten im Hinblick auf unterschiedliche Gestaltungsprinzipien (Reihung, Transformation etc.) im »komplexe[n] Zusammenspiel von Diskontinuität […], Kontinuität […] und Vernetzung« (308) unter die Lupe genommen. Das »Spiel mit klanglichem Vorder- und Hintergrund« (279) wird unter »Aspekt 2« mit detailliertem Blick auf die sich zu Anfang des Stücks ergebenden Klangkonstellationen nachvollziehbar rekonstruiert; unter ›Klangkonstellation‹ versteht Linke »eine sich im Prozess der ästhetischen Erfahrung bildende Konstellation von einzelnen Klängen, Klangereignissen und Klangfolgen zu einer als zusammengehörig erlebten musikalischen Einheit« (282). Unter »Aspekt 3« widmet sich die Autorin der musikalischen Zeitgestaltung und differenziert, anknüpfend an eine begriffliche Unterscheidung von Pierre Boulez, zwischen amorpher, koordinierter und pulsierender Zeit (322–331); auf der Rezeptionsseite bringt sie diese Zeittypen mit einem Präsenzhören, einem beziehenden sowie einem prozessualen Hören in Verbindung. Gerade solche Überlegungen bestätigen auf anschauliche Weise, erstens inwiefern analytische Beschreibungen Zugänge zum ästhetischen Gegenstand schaffen, und zweitens wie sich verschiedene Hörweisen überlagern und abwechseln können. Die im zweiten Teil der Studie realisierte konstellative Darstellungsform scheint mir – im Eingehen auf unterschiedliche Aspekte bzw. Blickwinkel auf das Musikstück – gegenüber den bereits üblichen mehrgleisigen Vorgehensweisen in der analytischen Fach- und Lehrpraxis nicht eine gänzlich neue Qualität einzuführen; die Stärke der Ausführung liegt meiner Einschätzung nach vor allem in der Verbindung mit der vorangegangenen theoretischen Reflexion auf multiperspektivische Präsentationsformen.
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Linkes Vorgehen, eine zeitgemäße Theorie der musikalischen Form durch eine »produktive Lektüre« Adornos zu entwerfen, die durch »geeignete Gegenlektüren« modifiziert wird (29), ist grundsätzlich überzeugend und es ergibt sich ein gedankenanregendes Gesamtbild. Dabei liegt ein Verdienst der Studie auch darin, kunstphilosophische Positionen (u. a. Bertram, Menke, Rancière, Sonderegger) und Debatten aufzugreifen, kritisch zu besprechen und dabei verständlich zu verbalisieren. Linke bringt in ihrer Arbeit, die mit dem Promotionspreis 2016 der Gesellschaft für Musikforschung ausgezeichnet wurde, mit der Entwicklung eines philosophischen Formbegriffs im Kontext posttonaler Musik zwei Diskurse zusammen, die zumeist disziplinär getrennt sind; zu wünschen bleibt, dass ihre Anregungen in beide Richtungen wirken und sowohl terminologische als auch analytische Arbeit nach sich ziehen.
Anmerkungen
Für zwei Beispiele, ebenfalls in Auseinandersetzung mit der Musikphilosophie Adornos, siehe Nanni 2004 sowie Fahlbusch/Nowak 2007. | |
Als Beispiel einer von der Bezugnahme auf konkrete musikalische Erscheinungen absehenden musikphilosophischen Perspektive siehe die Beiträge von Matthias Vogel und Thomas Dworschak im Rahmen der Leipziger Tagung »Was ist Musikphilosophie?« (22.–24.11.2019). Unter den Vorträgen der Tagung finden sich wohlgemerkt auch Gegenbeispiele. Eine Publikation der Beiträge, herausgegeben von den Organisatoren der Tagung, Wolfgang Fuhrmann und Claus-Steffen Mahnkopf, ist in Vorbereitung. | |
»Musikalische Form entsteht in der Interaktion des ästhetisch erfahrenden Subjekts mit dem ästhetischen Objekt im Prozess der ästhetischen Erfahrung und ist daher weder als bloße Objekteigenschaft des musikalischen Phänomens noch als reine Erfahrungskategorie zu verstehen« (9). | |
Adorno 1978a, z. B. 624. | |
Ebd. | |
Adorno 1970, 156. | |
»Insofern stellt das Modell des konstellativen Denkens bei Adorno eine ausgezeichnete Explikation dafür dar, wie die materialen, formalen und sinnhaften Momente oder Aspekte des ästhetischen Objekts prozesshaft aufeinander bezogen werden können, ohne dass dieses In-Beziehung-Setzen einer Hierarchisierung gleichkommt und auf ein einheitliches Ganzes hinausläuft« (223). | |
Kreis 2004, z. B. 83. | |
Adorno 1978b. |
Literatur
Adorno, Theodor W. (1970), Ästhetische Theorie (= Gesammelte Schriften, Bd. 7), hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. (1978a), »Form in der neuen Musik« [1966], in: ders., Musikalische Schriften I–III (= Gesammelte Schriften, Bd. 16), hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 607–627.
Adorno, Theodor W. (1978b), »Vers une musique informelle« [1961], in: ders., Musikalische Schriften I–III (= Gesammelte Schriften, Bd. 16), hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 493–540.
Fahlbusch, Markus / Adolf Nowak (Hg.) (2007), Musikalische Analyse und kritische Theorie. Zu Adornos Philosophie der Musik, Tutzing: Schneider.
Kreis, Guido (2004), »Das richtige Leben. Stifter als Antwort auf Adorno«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78/1, 55–94.
Nanni, Matteo (2004), Auschwitz – Adorno und Nono. Philosophische und musikanalytische Untersuchungen, Freiburg i. Br.: Rombach.
Universität Hamburg
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