Jeßulat, Ariane (2020), »Nachruf auf Heinrich Poos«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 17/2, 351–355. https://doi.org/10.31751/1055
eingereicht / submitted: 29/11/2020
angenommen / accepted: 30/11/2020
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 23/12/2020
zuletzt geändert / last updated: 10/01/2021

Nachruf auf Heinrich Poos

Die andere Möglichkeit ist die der Kunst. Der Künstler verändert seinen Standpunkt. Er tritt näher heran an den Menschen, an die Natur. Er beobachtet. Er denkt konkret, nicht abstrakt. Er gibt nicht vor, Nähe zu suchen, um dann doch vom Objektiv her sein Rohr ans Auge zu setzen. Den Menschen holt er zu sich heran, indem er auf ihn zugeht, bis er in dessen Physiognomie seine eigenen Züge zu erkennen vermag.[1]

Am 19. August 2020 verstarb Prof. Dr. Heinrich Poos im Alter von 91 Jahren. Als Komponist, Musiktheoretiker und Kirchenmusiker weit über die Grenzen Berlins bekannt, hatte Heinrich Poos seit 1971 eine Professur für Musiktheorie an der Hochschule der Künste Berlin bekleidet und von dort aus neben seinem ununterbrochenen Schaffen als Komponist in Lehre und Forschung maßgeblich gewirkt. Wie maßgeblich, zeigen schon die Probleme der Prädikation. So sinnvoll es erscheinen mag, seine Arbeiten der Musiktheorie oder der Musikwissenschaft zuzuschlagen, so sehr spricht dies doch gegen die Intuition all jener, die den inneren Antrieb seiner Wissenschaft anderswo vermuten, vielleicht gar nicht innerhalb einer einzelnen Disziplin. Schon Carl Dahlhaus’ seltsam sperriges Kompliment »Sie sind das, was Handschin einmal von Erpf gesagt hat: der Gelehrte, der wissenschaftlich Gebildete unter den Musiktheoretikern.«[2] demonstriert vor allem das Ringen um eine Einordnung, bei dem auch Dahlhaus sich offenbar Verstärkung bei älteren Autoritäten holen musste, und welches ohne grundsätzliche Überlegungen zur disziplinären Struktur von Musikforschung kaum die erwünschte Durchschlagskraft entwickelt hätte.

Dabei ist es nicht die mehrfache Laufbahn allein, die die Zuordnungen erschwert. Man wird seinen Texten nicht gerecht, liest man sie als musikwissenschaftliche Facette seines Œuvres, ebenso wenig wie man seiner Lehre oder seinen Kompositionen gerecht würde, blendete man die jeweils anderen Perspektiven aus. Poos selbst hat zu zahlreichen seiner Kompositionen Kommentare geschrieben, andere wiederum bilden ihren eigenen wirkungsgeschichtlichen Kommentar,[3] und auf der anderen Seite sind allein schon die in seine Texte eingearbeiteten Verweise auf Musikwerke in Form und Dramaturgie so exakt gestaltet, dass so etwas wie eine Metamusik aus der Zusammenstellung entsteht. Verlässt man allerdings die Ebene der Paratexte, so erweisen sich weitaus öfter, als dass es sich um Zufälle handeln könnte, gewisse Momente seiner Kompositionen als intertextuelle Echos und Fortsetzungen der in seinen Texten behandelten Probleme sowie scheinbar logische Sprünge oder dunkle Passagen in seiner Prosa als plötzliche Einblicke in künstlerische Ideen, die das sprachliche Paradigma übersteigen.

1. Sprachgemeinschaft[4]

Nicht allein in einem durch die hermeneutischen Ansätze Friedrich Schleiermachers oder Hans-Georg Gadamers geprägten Verständnis fangen Texte die kommunikative Dynamik von Gesprächen ein bzw. gewinnen ihre eigene argumentative Dynamik aus der intertextuellen Kommunikation. Angesichts der Teilnehmerinnen und Teilnehmer solcher Gespräche zeigen die Texte von Heinrich Poos Bemerkenswertes. Im Fußnotenapparat des Essays über Hugo Wolfs Klavierlied An den Schlaf finden sich – neben eher pointierten, aber gründliche Auseinandersetzung verratenden Referenzen auf zeitgenössische musikwissenschaftliche Sekundärliteratur – Heinrich von Kleist, George Steiner, Hans-Georg Gadamer, Novalis, Meister Eckart, Roman Ingarden, Arnold Schönberg, Immanuel Kant, Dieter Claessens, Richard Wagner, das 1. Buch Mose, Charles Baudelaire, Hugo Friedrich, Ernst Kurth, Siegmund Freud, Thomas Mann, August und Wilhelm Schlegel und schließlich Georg Wilhelm Friedrich Hegel.[5] Um Missverständnisse auszuschließen: Hiermit wird offenbar ein geisteswissenschaftliches Forum inszeniert, das aus noch vor wenigen Jahrzehnten fast uneingeschränkt valider abendländischer Perspektive ob seiner Klassizität als selbstverständlicher Diskussionsgrund vorauszusetzen sein sollte. So hat Poos die illustre Tischgesellschaft aber nicht angesprochen: Mit dem Marionettentheater wird die immer schwierige Anmaßung der nur scheinbar unmittelbaren Aneignung eines Notentextes ins Spiel gebracht, mit Steiner der Moment »realer Gegenwart« in dem, was die Analyse von Musik übrig lässt, mit Gadamer die Idee der wirkungsgeschichtlich bewegten Memoria – und zwar in einer Präzision und Intimität, die es nicht zulassen, ein zweites Mal in einem auch nur wenig anderen Kontext diese Referenzen herzustellen. Dabei erweist sich eine in diesen wenigen Beispielen aufleuchtende Tendenz als dauerhaft und charakteristisch: Es sind Primärtexte, die mit anderen Primärtexten agieren. George Steiners plastische Metapher, den Zutritt zu einem Kunstwerk lieber – wie Dante – an der Hand von Vergil zu erlangen als durch aus dem Spiel fallende Sekundärliteratur,[6] sprach Poos sehr aus dem Herzen. Die in der künstlerischen aemulatio, der überbietenden Nachahmung, präsente Autorität gab die Stilhöhe an, auf der es angemessen war, über Kunst zu sprechen, den Text zu berühren. Es war mehr als eine Geste elitärer Exklusivität, vor allem mit Protagonistinnen und Protagonisten aus Kunst, Philosophie und Weltliteratur ins Gespräch zu kommen, sondern die Hoffnung und Strategie, auf diesem interaktiven Verstehensplateau das Niveau zu erreichen, von dem aus es möglich war, über ein Lied von Hugo Wolf angemessen nachdenken zu können. Dazu gehörte es eben auch, nicht aus lediglich schwach reflektierter Setzung heraus zu sprechen, sondern auch scheinbare Selbstverständlichkeiten immer wieder an die Orte zurückzuführen, wo sie am wirksamsten zur Sprache gekommen waren.

2. Cortesia[7]

Fragmentarische Einleitung zu einem hermeneutischen Versuch über die »Winterreise«[8] heißt ein Skript vom Umfang eines längeren Essays, welches Poos zur Vorbereitung eines einwöchigen Schubert-Seminars im Frühjahr 1992 an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gab. Der Text, bei dem es sich um eine tatsächlich scheue Annäherung an Gute Nacht handelt, spielt Stationen einer Annäherung an den kulturgeschichtlichen Horizont des Liedes durch und setzt dabei einen Schwerpunkt auf die Methode, auf die Formen, Gepflogenheiten und Vorsichten im Wortsinne, die es gilt, bei der Auseinandersetzung zu beachten, und deren Wirksamkeit in jedem Falle erfahren wird – gerade dann, wenn die Annäherung auf unhöfliche Weise erfolgt ist. Die dann zitierte, im Skript neun Seiten einnehmende Passage ist eine mikroskopisch genaue Neuinterpretation des grammatisch-lexikalischen, syntaktischen und semantischen hermeneutischen Verstehens mit der Besonderheit, dass die beherbergende Metapher der drei beschriebenen Vorgänge ein Gastmahl ist, zu dem eine fremde, vermutlich unerwartete Person – das Kunstwerk – willkommen geheißen wird, und zwar rückhaltlos.

Es gibt Werke der Literatur, der Kunst, der Musik, die verschlossen bleiben oder selbst der entgegenkommendsten Wahrnehmung nur oberflächlich zugänglich sind. Kurz, im Impuls zur Rezeption und Aufnahme verkörpert sich ein anfänglicher fundamentaler Akt des Vertrauens. Er birgt das Risiko von Enttäuschung oder noch Schlimmerem in sich. Wie wir bemerken werden, könnte der Gast despotisch oder gehässig werden. Doch ohne das Wagnis der Bewillkommnung läßt sich keine Tür öffnen, wenn die Freiheit anklopft.[9]

Es ist die ungemeine Lebendigkeit, die die Personifizierung, die gesellige Szene, in der sich Freiheitsbegriffe des Cortegiano und des Decamerone mit der komplex in der Choreographie der Gruppe verankerten Freiheit der Herrschenden in Norbert Elias’ höfischer Gesellschaft begegnen, in den Akt philologischer Entzifferung strömen lässt: Jedes Komma, jede Flexion atmet diese »reale Gegenwart«, und das mag einer der Gründe für Poos gewesen sein, diesen Text durchaus auch als Mahnung zur Behutsamkeit und geordneten Bedachtheit bei der Analyse des augenfällig Schlichten gelesen und beherzigt wissen zu wollen. Angesichts heutiger Paradigmen scheint diese Szene und dieser Metaphernhof älter als 30 Jahre zu sein: Massen zugänglicher Daten lassen nicht mehr daran glauben, mit Vergil allein sein zu können, wie auch notwendige postkoloniale Impulse natürlich sofort die Frage aufwerfen, mit welcher Selbstverständlichkeit das Kunstwerk als fremder Gast eigentlich im eigenen Hause zu bewillkommnen ist – und damit die Reise auf sich nehmen muss – und wie und wann sich eine solche Verortung von Kultur eigentlich zu globalen Perspektiven hin öffnen könnte – aber das Bild trifft in Ton und Inhalt einen wesentlichen Charakterzug von Poos’ Arbeiten und gewährt die Einsicht, dass die kulturgeschichtlichen Wälle, die Poos in seinen Texten errichtet hat, neben dem Zeugen von Respekt auch das Abarbeiten höfischer Kommunikationswege[10] bedeuteten, um schließlich geladenen Eingang zu den Intima des Kunstwerks zu erlangen – also die der Szene bei Steiner entgegengesetzte Rollenverteilung. Dieses auf allen Seiten Disziplin erfordernde Vorgehen hat ihn nicht zuletzt davon abgehalten, in eine übergriffige Nähe zu verfallen, die sich oft gerade in versierten Analysen einstellt, dem illusorisch greifbaren ›Wissen, wie es gemacht ist‹.

3. Den Mond stehlen

Das zweite Lied seines Chorzyklus Nachklänge, die Eichendorff-Vertonung Nachtgruß, zitiert die Eröffnungszeilen von Johann Abraham Peter Schulz’ berühmtem Der Mond ist aufgegangen, wobei Poos die mehrdimensionalen stilistischen Echos in Eichendorffs Sprache denkbar nah im Stilgemenge seines modernen »Liedes im Volkston« erklingen lässt. Die Behandlung von Schulz’ originaler Melodie in F-Dur, die zunächst die ersten fünf Töne mit dem eröffnenden Wechsel zwischen erstem und zweitem Skalenton umfasst, ist im Kontrapunkt auf bemerkenswerte Weise markiert, nämlich mit keinerlei Gegenstimme versehen, sondern auf dem Orgelpunkt F durch eine Sextenmixtur eher ausgemalt als harmonisiert. Poos spielt damit auf den oft in seinem Unterricht thematisierten Beginn der originalen mehrstimmigen Fassung bei Schulz an, auf die prekäre Klanglichkeit des zweiten Zusammenklangs unter dem Melodieton g, der – ebenfalls Resultat einer linearen Bewegung – bestenfalls als im Dämmerlicht inszenierte Vorahnung der Reprise verstanden werden kann, wo eine Reduktion dieser Passage auf eine Fundamentfolge ebenso wenig zuträfe. Poos ging im Unterricht im geschützten Raum der Pointe so weit, die Sextenparallelen zwischen Oberstimme und Tenor als (stark verkürzte) Mondmelodie f-g-f aus den Kepler’schen Melodien der Himmelskörper herzuleiten, die im ikonischen Anheben des Liedes mit der umgekehrten Erdmelodie f-e-f im Alt kontrapunktiert wird. Wie nah ist er damit jedoch dem spekulativen Denken Johann Abraham Peter Schulz’ gekommen, der neben Matthias Claudius auch Gedichte des experimentierfreudigen Gottlob Wilhelm Burmann, des Autors Einiger Gedichte ohne den Buchstaben R, vertonte; wie nah auch den Rissen in Eichendorffs Poesie, die in den älteren Idiomen Grimmelshausens und Claudius’ fast so etwas wie Ruhe vor den zeitgenössischen Auseinandersetzungen der Literatur nach Goethe zu suchen scheint. In der fast kindlichen Szenerie der intertextuellen Tischversammlung hat sich Poos mit der Mondmelodie weit aus dem Fenster gelehnt, vielleicht sogar, um so den Mond des Schulz’schen Liedes ent-wenden zu können, vielleicht sogar diebisch wie der Amor bei Apuleius. Dass er es musikalisch so offen getan hat, war alles andere als gelehrtes Aufzeigen, vielmehr ein erotisches Spiel mit der Aneignung.

Es ist hier weder der Raum, noch läge es in meinen Möglichkeiten, einen annähernd adäquaten Einblick in den Reichtum und die Dynamik des Œuvres von Heinrich Poos zu geben. Doch seine Texte liegen vor, und dort »mitten in den Worten und den Bildern zeigen die Töne erst ganz, was sie sind.«[11]

Ariane Jeßulat

Anmerkungen

1

Poos 1990, 16.

2

Dahlhaus 1994, 12.

3

Poos 1984.

4

Frank 1996, 87.

5

Poos 1992a.

6

Steiner 1990, 25 f.

7

Vgl. Poos 1992b, 11–21, zit. nach Steiner 1990, 196–218.

8

Poos 1992b.

9

Poos 1992b, 12, zit. nach Steiner 1990, 207.

10

Elias 2002, 11.

11

Dorschel 2012, 14.

Literatur

Dahlhaus, Carl (1994), »Statt einer Laudatio«, in: Zeichen am Weg. Eine Festgabe zum 65. Geburtstag von Heinrich Poos, hg. von Adelheid Krause-Pichler, Berlin: Hochschule der Künste, 12.

Dorschel, Andreas (2012), »Übungen in musikalischer Aufmerksamkeit: Lesen, Analysieren und Deuten mit Heinrich Poos«, in: Heinrich Poos, Ausgewählte Schriften, hg. von Andreas Dorschel, Thomas Gerlich und Ute Ringhandt, Tutzing: Schneider, 11–14.

Elias, Norbert (2002), Die höfische Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Frank, Manfred (1996), »Einverständnis und Vielsinnigkeit – oder: das Aufbrechen der Bedeutungs-Einheit im ›eigentlichen Gespräch‹«, in: Das Gespräch (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 11), hg. von Karlheinz Stierle, München: Fink, 87–132.

Poos, Heinrich (1984), Von Zeit und Ewigkeit. Musica meditativa super »In paradisum« für Chor, Sprecher, Flöte, drei Posaunen, Kontrabass und Orgel, Tonband ad. lib., Rodenkirchen: Edition Tonger.

Poos, Heinrich (1990), »Kunst als Antithese – Eine ideengeschichtliche Skizze«, in: Kunst als Antithese. Karl-Hofer-Symposium 1988 der Hochschule der Künste, hg. von Heinrich Poos unter Mitarbeit von Sander Wilkens, Berlin: Gebrüder Mann, 5–21.

Poos, Heinrich (1992a), »Hugo Wolfs Klavierlied ›An den Schlaf‹. Eine ikonographische Studie«, in: Hugo Wolf (= Musik-Konzepte, Heft 75), hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München: edition text + kritik, 3–36.

Poos, Heinrich (1992b), »Fragmentarische Einleitung zu einem hermeneutischen Versuch über die ›Winterreise‹«, unveröffentlichtes Manuskript zur Studienfahrt nach Seibersbach im März 1992.

Steiner, George (1990), Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München: Hanser.

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