Dora A. Hanninen, A Theory of Music Analysis. On Segmentation and Associative Organisation, Rochester: University of Rochester Press 2012.
Oliver Schwab-Felisch
Einleitung
Anders als die nordamerikanische hat die deutschsprachige Musiktheorie nach 1945 weitgehend darauf verzichtet, neue Theorien der technischen Analyse musikalischer Kompositionen hervorzubringen, und sich stattdessen der Erforschung und Wiederbelebung historischer Musiktheorie, der Weiterentwicklung bestehender Theorien und der Formulierung neuer analytischer Fragestellungen und interpretativer Ansätze gewidmet.
Ihren Grund hat diese Zurückhaltung auch in einer fundamentalen Skepsis gegenüber methodengestützter Analyse schlechthin. Harald Kaufmann etwa erklärte 1969: »Analytische Präzisierung entsteht im Verhältnis zum jeweils Analysierbaren, nicht als prädeterminierte Ableitung aus einem verallgemeinerten wissenschaftlichen Apparat.«[1] Carl Dahlhaus beklagte die Tendenz bestimmter Analysemethoden, »das musikalische Werk [...] zum bloßen Exempel des [verwendeten] Erklärungsschemas« zu machen.[2] Und noch 2019 karikierte Hartmut Fladt das Procedere einer Analyse nach Heinrich Schenker: »Um (spätschenkerianisch!) systemgerechte, also der metaphorischen Schwerkraft gehorchende abwärts gerichtete Intervallzüge konstruieren zu können, benötigt man einen Kopfton. War er gefunden, fanden die Züge ihre prädeterminierten Geleise, war die Welt in Ordnung. Das drastisch reduzierte Werk, seines Sinns und seiner erlebbaren Aussage nahezu völlig beraubt, wurde zum Beleg für die Aussagekraft eines Systems.«[3]
Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Sie zeigen, dass die Methodenskepsis der deutschsprachigen Musiktheorie wesentlich Systemskepsis ist. Philosophische Systemskepsis hat eine komplexe Geschichte; sie wurde insbesondere durch die Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels maßgeblich geprägt.[4] Bricht man die philosophische Diskussion auf Fragen der Musikanalyse herunter, ergeben sich drei zentrale Argumente:
Jede theoriebasierte Analyse folgt vorgängigen Generalisierungen. Insofern sie dies tut, betrachtet sie ihren Gegenstand als einen Fall eines Allgemeinen. Dass eine theoriegestützte Analyse komplexe und differenzierte Beschreibungen generieren kann, Beschreibungen, deren je besondere Konfiguration analytischer Aussagen in keiner anderen Analyse vorkommt, fällt in dieser Hinsicht nicht ins Gewicht. Entscheidend ist vielmehr der Umstand, dass die Besonderheit des Kunstwerks im Spiegel theoriegestützter Analyse zur spezifischen Differenz zwischen Mitgliedern derselben Klasse zusammenschrumpft – jener der Analysen der Methode x. Angemessene Werkanalyse dagegen bedürfte der Bereitschaft, sich weitestgehend – und das heißt: auch in der Auswahl und Konfiguration analytischer Instrumente – durch ihren Untersuchungsgegenstand bestimmen zu lassen.
Erkenntnis geht nicht auf Inkohärenz und Zufall, sondern auf Kohärenz, Muster, Dependenz – einer der Gründe, weshalb Theorien allgemein zu Systematizität tendieren, zur widerspruchsfreien Integration aller Komponenten in ein kohärentes Ganzes.[5] Eine systematische Strukturtheorie nun integriert nicht allein ihre eigenen Systemkomponenten, sondern beschreibt für gewöhnlich auch die strukturelle Integration von Strukturmodellen. Damit aber projiziert sie ihre eigene Systematizität auf die Struktur der beschriebenen Komposition: Systematische Analyse tendiert dazu, Widersprüche auszublenden oder zu nivellieren. Gerade Widersprüche und Inkohärenzen aber – so haben zahllose Diskussionen im Radius von Kritischer Theorie und Dekonstruktion gelehrt – sind mögliche Indikatoren des ›Wahrheitsgehaltes‹ einer Komposition: »Keine Analyse taugt etwas, die nicht in der Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Werke terminiert, und der ist seinerseits vermittelt durch die technische Komplexion der Werke. Stößt Analyse auf kompositorische Unstimmigkeit, so ist diese auch ein Index von Unwahrheit«.[6]
In der Musiktheorie (und nicht allein in ihr) sind systematische Theoriekonzeptionen auch dadurch in Verruf geraten, dass manche Autor*innen die deskriptive Potenz ihrer Theorien als ein Superioritätsmerkmal verstanden haben, das zur prinzipiellen Zurückweisung anderer Perspektiven berechtigt. Die »Absolutheitsprätention«[7] systematischer Theoriekonzeptionen aber, »sofern sie Vollständigkeit, Totalität und definitiv letzte Einsicht als hic et nunc erreicht reklamiert«,[8] liefert das theoriegeschichtlich vielleicht wirksamste Argument gegen die Bindung von Analyse an eine vorgängige Theorie. Zunächst scheint dieses Argument leicht zu entkräften. Der Einwand, Absolutheitsprätentionen bewegten sich grundsätzlich auf einer anderen diskursiv-logischen Ebene als sachbezogene Aussagen und müssten daher nicht übernommen werden, führt allerdings auf eine Reihe wissenschaftstheoretisch keineswegs einfacher Folgeprobleme. Insbesondere ist nicht von vornherein klar, ob und unter welchen Bedingungen theoretisch fundierte analytische Aussagen mit anderen (und durch andere Theorien fundierten) Aussagen auf wissenschaftstheoretisch akzeptable Weise verknüpft werden können.[9]
Diese Argumente sind im gegebenen Zusammenhang weder zu bewerten noch weiter zu vertiefen. Sie dienen hier allein dazu, das methodologische Problem zu umreißen, vor dessen Hintergrund Dora Hanninens Buch gesehen werden muss. Hanninen nämlich versucht eine Quadratur des Kreises: Sie postuliert eine systematische Theorie, die gleichwohl den Analysierenden alle Freiheit lässt, eine Theorie, die kategorial höchst unterschiedliche Dimensionen der Musik integriert, ohne sie doch einer rigiden Metatheorie zu unterwerfen, eine Theorie schließlich, die wissenschaftstheoretisch reflektiert gebaut, zugleich aber auf bestimmte Weise eklektizistisch gefasst ist. Auch die Heterogenität der in diesem Buch analysierten Kompositionen zeigt die Besonderheit des Hanninen’schen Konzeptes. Dass ein einziger Ansatz qualifiziert ist, Kompositionen vom Barock bis zur Gegenwart zu beschreiben, scheint dem Grundsatz zuwiderzulaufen, analytische Methoden hätten der Spezifik ihrer Gegenstände zu folgen. Hanninen aber überspringt die methodische Kluft zwischen tonaler und atonaler Musik mit Leichtigkeit. Und damit nicht genug: Wie die Autorin betont, kann ihre Theorie auch »auf andere Musikrichtungen angewendet werden, einschließlich westlicher alter Musik und einiger nicht-westlicher Musik.« (5)
Wie kommt es zu dieser ungewöhnlichen Konzeption? Drei Aspekte sind hier zu nennen:
Hanninens Fragestellung ist grundlegend und allgemein: Sie zielt auf »Kriterien und Mechanismen für die Objektbildung und die Wechselbeziehungen von Objekten von analytischem Interesse«. (3) Als ›Objekte‹ gelten Hanninen Komplexe auditiver Signale und/oder musikalischer Notate, die sich nach Maßgabe bestimmter Kriterien von ihrer jeweiligen Umgebung unterscheiden lassen. An einem musikalischen Ereigniszusammenhang Objekte zu unterscheiden, heißt Segmentationen vorzunehmen. Zwar gibt es durchaus Musiken, die unter dem Aspekt Segmentation kaum sinnvoll beschrieben werden können: bestimmte elektroakustische Kompositionen beispielsweise oder bestimmte Beispiele repetitiver Musik. Im Allgemeinen jedoch ist Segmentation ein ebenso grundlegender wie stilübergreifender Aspekt musikalischer Struktur. Da überdies unterschiedliche Dimensionen der Musik auf unterschiedliche Weise an der Entstehung von Segmentationen beteiligt sind, liefert das Segmentationskriterium einen einheitlichen Zugang zu kategorial verschiedenen Bereichen.
Das Problem der begrenzten Reichweite und mangelnden Kombinierbarkeit spezialisierter Terminologien unterläuft Hanninen, indem sie analytische Gegenstandsbereiche über Kriterien definiert, die so grundlegend sind, dass sie mit einer Mehrzahl von Theorien kompatibel bleiben (siehe unten). Wo aber Spezifik und Komplexität einer bestimmten Theorie gefordert sind, vermeidet sie es, sich auf eine bestimmte Lösung festzulegen, und definiert stattdessen eine Leerstelle, die je nach Untersuchungsgegenstand und untersuchtem Aspekt durch im Prinzip jede externe Theorie ausgefüllt werden kann.
Hanninens Theoretizitätsanspruch erfüllt sich nicht darin, ein einziges Grundprinzip struktureller Relationen aufzustellen und durch seine Konkretionen hindurch zu verfolgen. Vielmehr schafft die Autorin einen gedanklichen Zusammenhang, der ganz unterschiedlichen Komponenten Raum bietet (siehe unten); ihre »Theorie der musikalischen Analyse« will keine Analysemethode im üblichen Sinn entwerfen, sondern »einen konzeptuellen Rahmen und eine Metasprache, um Musik zu betrachten oder über sie nachzudenken«, ein pluriperspektivisches »Werkzeug der Interpretation«, das den Prozess der »Analyse unterstützen, nicht aber determinieren« soll. Entsprechend betont Hanninen, die »interpretative Autonomie und Imagination der Analysierenden«, die sich ihrer Theorie bedienen, nicht einschränken zu wollen. (4)
Anlage
Gliederung
Hanninens Buch besteht aus vier Teilen: einer programmatischen Einleitung, einem Theorieteil, einem Teil mit Beispielanalysen und einem Schlussteil. Je eines der zehn fortlaufend nummerierten Kapitel entfällt auf die Rahmenteile, die Kapitel 2 und 3 bilden den zweiten, die Kapitel 4 bis 9 den dritten Teil.
Kapitel 2 entfaltet die Architektur der Theorie: es definiert grundlegende Begriffe und bringt sie in einen systematischen Zusammenhang. Kapitel 3 beleuchtet »assoziative Sets und assoziative Organisation«, den konzeptionellen Kern des Ansatzes. Die Kapitel 4 bis 9 demonstrieren das deskriptive Potential der Theorie (wie auch das analytische Vermögen der Autorin) an Kompositionen von Beethoven, Debussy, Nancarrow, Riley, Feldman und Morris. Kapitel 10 schließlich geht offenen Fragen nach und untersucht erweiterte Anwendungsmöglichkeiten. Endnoten, ein Glossar, eine Bibliographie sowie ein Sach- und ein Personenregister ergänzen die vier Teile. Insgesamt umfasst das Buch 528 arabisch paginierte Seiten.
Fokus
Bereits 2001 publiziert Hanninen einen Aufsatz, der ihre Theorie in ihren Grundlinien umreißt. Das Zitat von Benjamin Boretz, das sie ihm voranstellt, dient dabei ebenso als Hommage an die Princeton Theory of Music Theory wie als Einstieg in die konzeptionellen Grundlagen ihres Ansatzes:
[…] the non-trivial aspect of defining ›what music is‹ resides in the explication of what it means to make music of my slice of auditory experience, which consists of the demonstration of how to make music of any such slice (Boretz 1995, 115).[10]
Hanninen fährt fort:
For Boretz, the essence of music is not sounding events, but mental experience or ›thought‹ focused on sounding events that combines cognition with attentional disposition. One makes music, then, not only through performance and composition, but also through listening and the pointedly inquisitive, contemplative, and often outwardly silent activity called music analysis. Music analysis might be described as the conceptualization and representation of musical relationships; alternately, one might say that the conceptualization and representation of musical relationships is a music analyst’s (or the music-analytical) way of ›making music‹. Essential to this endeavor is the identification of significant musical units or ›segments‹; these constitute the basis for subsequent analytic organization and interpretation.[11]
Ein reflektiertes Verständnis von Segmentation sieht Hanninen als analytische Schlüsselkompetenz:
[…] when analysts articulate the rationales for particular segmentations, they open up the possibility for precise and reasoned intersubjective discourse about how their analytic interpretations differ, and about ambiguity, richness, and multiplicity of hearings.[12]
Der Fokus des Buches ist denn auch dezidiert strukturanalytisch. Die Theorie soll zeigen, »wie eine Hörerin oder ein Hörer eine klangliche Oberfläche von Grund auf als Musik konstituiert«. (8) Das bemerkenswert vielfältige Instrumentarium, auf das Hanninen zu diesem Zweck zurückgreift, umfasst nicht allein eine Reihe musikanalytischer Theorien (mit einem Schwerpunkt auf traditioneller Harmonielehre, Zwölftontheorie, Pitch-Class Set Theory und Schenkerian Analysis), sondern auch etliche Theorien anderer Disziplinen: Hanninens neuartige Visualisierungen assoziativer musikalischer Relationen etwa fußen auf der mathematischen Graphentheorie, die Biologie liefert nicht nur den Bezugspunkt neuartiger Termini wie ›phenosegment‹, ›genosegment‹ und ›population‹, sondern auch ein umfassendes Modell der Konzeptualisierung assoziativer musikalischer Relationen,[13] die Landschaftsökologie inspiriert Konzept und Begriff der ›assoziativen Landschaften‹ (459, Anm. 88) und wo es um die perzeptuelle Verankerung struktureller Phänomene geht, tragen Psychoakustik und Musikpsychologie zur Theoriebildung bei. Andere Ansätze dagegen bleiben ausgeklammert – semiotische, narrative, post-strukturalistische ebenso wie feministische oder psychoanalytische: Sie alle, so Hanninen, beziehen sich nicht auf Ereignisse der musikalischen Oberfläche. (8) Unberücksichtigt bleiben auch technische Verfahren der Datenerhebung – die computergestützte statistische Analyse etwa oder die Messung physikalischer Eigenschaften des Schallsignals. Stattdessen setzt Hanninen auf das individuelle, nach eingehender Abwägung aller relevanten Eigenschaften eines musikalischen Kontextes bewusst getroffene analytische Urteil. (260)
Pluriperspektivik
Wie eine musikalische Einheit zu segmentieren sei, kann ungewiss erscheinen. Zachary Bernstein etwa demonstriert an Milton Babbitts Composition for Four Instruments, dass ein und dieselbe Tonfolge nach registralen und reihentechnischen, zeitlichen, dynamischen und artikulatorischen Kriterien in verschiedene einander überlagernde oder durchdringende Trichorde aufgeteilt werden kann.[14] Was diese Gleichzeitigkeit ermöglicht, ist der Umstand, dass verschiedene Segmentationen verschiedenen Beschreibungsebenen der Musik angehören. So verstanden ist Segmentation keine schlechthinnige Eigenschaft des musikalischen Gegenstandes, sondern entsteht erst aus dem Zusammenspiel von Gegenstand und kriterienbasierter Beobachtung. Hanninen nun legt ihrer Theorie eine einfache Kategorisierung dieser Beschreibungsebenen zugrunde, die sie in mehreren Schritten der Subkategorisierung zu einer komplexen Theoriearchitektur differenziert.
Theoriearchitektur
Die Theorie umfasst drei sogenannte »Bereiche« (»domains«), denen Hanninen jeweils fünf »Ebenen« (»levels«) zuordnet (6; siehe Abb. 1). Bereiche sind im Prinzip Klassen von Relationen. Was diese Klassen definiert und sie von anderen Klassen unterscheidet, sind bestimmte Hinsichten, in denen musikalische Gegenstände beschrieben werden können. Diese Hinsichten werden auf Ebene 1 (»orientations«) festgelegt und auf den weiteren, zunehmend spezifischen bzw. konkreten Ebenen für jeden Bereich separat ausbuchstabiert: Ebene 2 (»criteria«) legt fest, nach welchen Kriterien welche segmentationsrelevanten Unterscheidungen getroffen werden, Ebene 3 (»segments«) unterscheidet Arten von Segmenten, Ebene 4 (»associative sets«) diskutiert komplexere Segment-Zusammenstellungen, Ebene 5 (»associative landscapes«) das zeitliche Verhalten solcher Zusammenstellungen.
Die Ebenen 1 und 2 gehören zum konzeptionellen Apparat der Theorie, die Ebenen 4 und 5 beziehen sich auf Phänomene, die direkt am musikalischen Gegenstand unterschieden werden, Ebene 3 umfasst zwei Sub-Ebenen, von denen die der »Genosegmente« (»genosegments«) dem konzeptionellen und die der »Phänosegmente« (»phenosegments«) dem deskriptiven Bereich angehört.
Abb. 1: »Ex. 1.1.« (6)
Ebenen
Orientierung
Die oberste Ebene ist die der sogenannten Orientierung (»orientation«). »Eine Orientierung ist eine perzeptuelle oder kognitive Strategie, eine Weise, Musik zu hören oder zu konzeptualisieren«. (19) Hanninen unterscheidet drei Orientierungen: Disjunktion (»disjunction«), Assoziation (»association«) und Theorie (»theory«).
Eine disjunktive Orientierung achtet auf Disjunktionen. Eine Disjunktion ist das Resultat einer lokalen Differenz, eines salienten Kontinuitätssprungs in der Wahrnehmung einer Folge auditorischer Daten. Disjunktionen werden perzeptuell wirksam, noch bevor auditorische Ereignisse über das Moment der Ähnlichkeit zueinander in Beziehung gesetzt oder auf Basis theoretischer Erwägungen zu übergeordneten Einheiten verknüpft werden. Die disjunktive Orientierung ist dem »klanglichen Bereich« (»sonic domain«) zugeordnet.
Eine assoziative Orientierung achtet auf Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Gruppen von Tönen oder Noten. Die assoziative Orientierung ist dem »kontextuellen Bereich« (»contextual domain«) zugeordnet.
Eine theoretische Orientierung achtet auf Zusammenhänge, deren Feststellung einer vorgängigen Theorie bedarf. Eine Theorie ist ein im Prinzip beliebiges »geordnetes System von Konzepten und Regeln, das die Wahrnehmung, Interpretation und Organisation signifikanter musikalischer Einheiten reguliert.« (21) Die Theorie bestimmt den theoretischen Rahmen (»theoretic framework«) wie auch die theoretischen Entitäten (»theoretic entities«), die einer Segmentierung zugrunde gelegt werden können. (Ebd.) Welcher Theorie die Aufgabe zufällt, in einer konkreten Analyse den strukturellen Bereich abzudecken, bleibt offen. Die theoretische Orientierung ist dem »strukturellen Bereich« (»structural domain«) zugeordnet.
Kriterien
Auf der nächsttieferen Ebene der Kriterien (»criteria«) wird bestimmt, welche Klassen konkreter Relata innerhalb des durch eine Orientierung festgelegten Bereichs unterschieden werden können. In jedem Bereich gelten eigene Kriterien.
Im klanglichen Bereich (»sonic domain«) gelten klangliche Segmentationskriterien (»sonic criteria«). Sie konkretisieren die disjunktive Orientierung, indem sie die psychoakustische Dimension angeben, innerhalb derer eine perzeptuelle Differenz zur Wahrnehmung einer Disjunktion und damit zur Ausbildung einer Segmentationsgrenze führt. ›Psychoakustische Dimensionen‹ entsprechen bestimmten Eigenschaften von Tönen und Noten: Tonhöhe, Einsatzzeitpunkt, Dauer, Dynamik bzw. Lautheit, Klangfarbe und Artikulation. (23)
Klangliche Kriterien werden nach bestimmten Eigenschaften unterschieden und gruppiert: So bilden alle Kriterien, die eine unmittelbare zeitliche Nachbarschaft der wahrgenommenen Signale voraussetzen (»temporal adjacency«), einen ersten ›Subtypus‹; innerhalb dieses mit S1 bezeichneten Subtypus unterscheidet Hanninen unter anderem »S1-pitch, S1-dynamics, S1-timbre« und »S1-articulation«. (26) Der zweite Subtypus beinhaltet Kriterien, die sich – wie etwa die tonsystemliche Nachbarschaft zweier Tonhöhen – auf eine wahrgenommene Nähe in einer anderen als der zeitlichen Dimension beziehen; darüber hinaus nennt Hanninen eine Reihe individueller klanglicher Kriterien:
Abb. 2: »Ex. 2.5« (29)
Im kontextuellen Bereich (»contextual domain«) gelten »kontextuelle Segmentationskriterien« (»contextual criteria«). Das bedeutet Folgendes: 1. Als Segmentationsprinzip fungiert ›Assoziation‹, nicht ›Disjunktion‹ (das naheliegende Wort ›Konjunktion‹ verwendet Hanninen nicht). 2. Assoziation wird über »Wiederholung, Äquivalenz oder Ähnlichkeit« (32) herbeigeführt. Ähnlichkeit (hier stellvertretend für die eben genannte Begriffstrias verstanden) basiert auf komplexen Eigenschaften wie »Kontur, Tonhöhengehalt, Pitch-Class Set, Set Class, Anordnung von Tonleiterstufen und Rhythmus«. (34)[15] 3. Ein Besitz dieser Eigenschaften kann sich – scheinbar paradoxerweise – erst im Vergleich ergeben: Gemeinsame Eigenschaften wirken als principium individuationis der verglichenen Elemente. Allemal gilt: »Ein kontextuelles Kriterium repräsentiert eine Assoziation zwischen Segmenten als eine Eigenschaft von (zwei oder mehr) Segmenten.« (33)
Im strukturellen Bereich (»structural domain«) gelten theoriebasierte Kriterien – Kriterien also, deren Begriff von einer theoretischen Konzeption abhängt. Sie erzeugen insofern Segmentationen, als sie zwischen theoretisch definierten Strukturen und ihren Umgebungen unterscheiden. Strukturen können unabhängig von klanglichen und/oder assoziativen Kriterien bestimmt werden – erinnert sei beispielsweise an gematrische Strukturen bei Josquin des Prez oder Instanzen von Z-related Sets in der Pitch-Class Set Theory. Allerdings wird die musikalische Umsetzung struktureller Kriterien in der Regel akustisch oder kontextuell unterstützt. Eingangs nämlich unterscheidet Hanninen drei verschiedene Weisen, in denen Kriterien auf eine Tonkonstellation (»a grouping of notes«) zutreffen können:
Von Instantiierung (»instantiation«) spricht Hanninen, wenn genau ein (klangliches, kontextuelles oder theoretisches) Kriterium auf eine Tonkonstellation zutrifft: die Tonkonstellation liefert gleichsam ein konkretes Beispiel des Kriteriums. (10 f.)
Koinzidenz (»coincidence«) heißt eine Situation, in der mehrere (klangliche, kontextuelle oder theoretische) Kriterien auf eine Tonkonstellation zutreffen. Koinzidenz kann zu wechselseitigen Bestätigungseffekten führen und die Segmentation verstärken. (11)
Realisation (»realization« – ein Sonderfall von »coincidence«) schließlich liegt vor, wenn ein strukturelles Kriterium gemeinsam mit entweder einem klanglichen oder einem kontextuellen Kriterium auf eine Tonkonstellation zutrifft: In der Evidenz des Klanglichen oder Kontextuellen wird das strukturelle Kriterium perzeptuell verwirklicht. (11)
Strukturelle Kriterien differenzieren sich in eine Reihe theoretischer Subtypen, in denen standardisierte analytische Kriterien für bestimmte strukturelle Sachverhalte codiert sind. Theoretische Subtypen sind theoriespezifisch. Die untenstehende Grafik etwa zeigt eine Liste möglicher schenkerianischer Subtypen.
Abb. 3: »Ex. 2.11. « (49)
Segmente
Die Ebene der Segmente (»segments«) enthält Gruppen »von Noten (oder anderen musikalischen Ereignissen), die ein signifikantes Objekt in einem analytischen Diskurs« darstellen. (63) Segmente sind in »Genotypen« (»genotypes«) und »Phänotypen« (»phenotypes«) aufgeteilt: Erstere sind dem konzeptionellen Apparat zugeordnet, letztere »der Musik« selbst.
Ein »Genosegment« oder »Genoseg« (»genosegment«/»genoseg«) ist eine »potenziell wahrnehmbare Gruppierung von Noten (oder Schallereignissen), die von genau einem klanglichen oder kontextuellen Kriterium« (63) einer bestimmten Kategorie unterstützt wird (es gilt das ausschließende ›oder‹). Ein ›Genoseg‹ kann demnach von einem der folgenden (einfachen oder zusammengesetzten) Kriterien gestützt werden: ›sonic‹, ›structural‹, ›structural-sonic‹, ›structural-contextual‹, ›structural and sonic‹, ›structural and contextual‹.
Was diese Definition vor allem leistet, ist die dimensionale Trennung musikalischer Strukturen: ›Genosegs‹, die von unterschiedlichen Kriterien unterstützt werden, müssen nicht miteinander koinzidieren, sondern können einander überlappen oder in einer Einbettungsrelation zueinander stehen. (69) Nicht alle ›Genosegs‹ sind auditiv wahrnehmbar: Manche können sich auch im strukturellen Hintergrund verbergen, etwa weil ihre Komponenten disjunkt angeordnet sind. Dass ›Genosegs‹ derart als parametral differenzierte Teilstruktur und/oder als Tiefenstruktur auftreten können, erlaubt es unter anderem, Einheiten analytisch aufeinander zu beziehen, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemein haben.
Ein »Phänosegment« oder »Phänoseg« (»phenosegment«/»phenoseg«) liegt »leicht wahrnehmbar« (65) gleichsam an der Oberfläche der Musik. Gleichwohl sind ›Phänosegs‹ nicht zwingend identisch mit Abschnitten oder Formteilen der traditionellen Formtheorie: Ihre Elemente können, müssen aber nicht adjazent positioniert sein. ›Phänosegs‹ werden durch wenigstens ein klangliches oder kontextuelles Kriterium unterstützt; strukturelle Kriterien kommen fakultativ hinzu. Häufig resultieren ›Phänosegs‹ aus der Koinzidenz (s. o.) mehrerer ›Genosegs‹. (66) Die Frage, was der Fall sein muss, damit sich eine Konstellation koinzidenter ›Genosegs‹ »über das Hintergrundrauschen konkurrierender Genosegs erhebt« (70) und zu einem leicht wahrnehmbaren ›Phänoseg‹ wird, lässt Hanninen bewusst offen: »Die Bildung von Phänosegs ist keine durch Gesetzmäßigkeiten und Vorhersagbarkeiten beherrschte Wissenschaft, sondern Gegenstand musikanalytischer Interpretation«. (70)
Assoziative Sets und assoziative Organisation
Das dritte Kapitel »Assoziative Sets und assoziative Organisation«, das theoretische Herzstück des Buches, beleuchtet verschiedene Arten der assoziativen Beziehung.
Eine »assoziative Organisation« umfasst die drei »Komponenten« »assoziatives Set«, »assoziative Konfiguration« und »assoziative Landschaft«. Während ein ›assoziatives Set‹ mehrere Segmente miteinander verknüpft, besteht eine ›assoziative Konfiguration‹ aus den »Relationen der Segmente eines assoziativen Sets«. Eine ›assoziative Landschaft‹ schließlich betrachtet ›assoziative Sets‹ und ›assoziative Konfigurationen‹ unter dem Aspekt der Zeit; sie zeigt, »wie sich die assoziative Geographie eines Stückes oder einer Passage entfaltet«. (97)
Die Komponenten eines ›assoziativen Sets‹ müssen nicht in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander stehen (ein assoziatives Set kann sich sogar über mehrere Kompositionen hinweg erstrecken [98]), sie können mehr oder weniger stark variieren (98) und sich durch klare Kriterien, aber auch durch die (auf einzelne Kriterien bekanntlich nicht zu reduzierende) Wittgenstein’sche Familienähnlichkeit aufeinander beziehen.
Der Duktus auch dieses Kapitels ist derart unverstellt taxonomisch, dass man sich bisweilen an wissenschaftliche Werke des 18. Jahrhunderts erinnert fühlt. Ein Beispiel: Nachdem sie den Begriff des ›assoziativen Sets‹ eingeführt hat, ergänzt Hanninen die Begriffe des ›assoziativen Subsets‹ und des ›assoziativen Supersets‹. Im Anschluss werden diverse Teilungsformen untersucht: Das zweigliedrige (›bifurcated‹) assoziative Set besteht aus zwei, das dreigliedrige (›trifurcated‹) aus drei Subsets. Dann gilt es, die Relation der Subsets zueinander und zum übergeordneten Set zu bestimmen. Wir erfahren, dass Subsets ihr jeweiliges Superset nicht restlos in Teile gliedern müssen: Sie können einander überlappen und/oder auch einzelne Segmente auslassen. Ist dies der Fall, spricht man von einem vielfältigen (›variegated‹) assoziativen Set. Schließlich sind auch Fälle zu berücksichtigen, in denen Segmente sich einem übergeordneten Set gerade nicht einfügen. Hier kommen die Termini ›unabhängiges Segment‹ (›independent segment‹) und ›Population‹ (›population‹) ins Spiel. Ersterer bezeichnet ein ›Phänoseg‹, das keinem assoziativen Set angehört. Letzterer bezieht sich auf eine Mehrzahl von Segmenten, die durch Adjazenz oder klangliche Eigenschaften als zusammengehörig ausgewiesen sind und dabei eine assoziative Relation entweder ausbilden oder nicht (so dass gilt: alle assoziativen Sets sind Populationen, aber nicht alle Populationen assoziative Sets [101]). Als Nächstes kommen die Eigenschaften assoziativer Sets zur Sprache. Hanninen unterscheidet die folgenden: Größe (›size‹), Schwankungsbreite der Variation (›range of variation‹), Verteilung von Variation (›distribution of variation‹) und Stärke (›strength‹). Bereits an diesen (die terminologische Fülle dieses Kapitels keineswegs erschöpfenden) Beispielen zeigt sich Hanninens ausgeprägtes Unterscheidungsvermögen. Widersprüchen und Oppositionen entgeht die Autorin, indem sie sich nicht mit vorschnellen Generalisierungen bescheidet, sondern jeden Begriff bis an seine Grenze denkt, und, wo nötig, neue Kategorien und Subkategorien einführt.
Auch wo Hanninen das Konzept der ›assoziativen Landschaft‹ diskutiert, begegnet ein ähnlicher terminologischer Reichtum. Grundsätzlich kann man das Konzept als eine Antwort auf all jene Theoretiker*innen sehen, die strukturanalytische Ansätze um ihrer Statik, der Transformation der zeitlichen Prozesse des Musikhörens in das räumliche Bild der Struktur willen kritisiert haben: War die Typologie der ›assoziativen Sets‹ und Konfigurationen noch vergleichsweise abstrakt, führt das Konzept der ›assoziativen Landschaft‹ nun zur zeitlichen Anordnung ›assoziativer Sets‹ und Segmente im Zusammenhang einer konkreten Komposition zurück. (160) Zur Diskussion kommen verschiedene Darstellungsformen, zeitliche und räumliche Aspekte der Aufeinanderfolge und Überlagerung diverser Segmente eines ›assoziativen Sets‹, Verteilungen ›assoziativer Sets‹ über die gesamte Strecke einer Komposition und Relationen und Verteilungen unterschiedlicher ›assoziativer Sets‹. Die an einer Vielzahl von Beispielen exemplifizierten Ausführungen erscheinen methodologisch, konzeptuell und terminologisch derart ausdifferenziert, dass auf ihre Darstellung an dieser Stelle verzichtet werden muss.
Kritik
Hanninen, so wurde oben gesagt, geht dem Eklektizismus-Problem, der wohl größten methodologischen Schwierigkeit eines jeden integrativen Ansatzes, dadurch aus dem Weg, dass sie analytische Instanzen definiert, die dazu beitragen, problematische Implikationen der Kombination unvereinbarer theoretischer Aussagen gleichsam zu unterlaufen. Was diese Instanzen nun allererst ermöglicht, ist die klassische Unterscheidung zwischen theoretischer Sprache und Beobachtungssprache (als Beobachtungssprache gilt bestimmten Vertretern des Logischen Empirismus eine Sprache, die allein auf Beobachtbares Bezug nimmt und sich dabei auf eine elementare Logik beschränkt.[16]) Allerdings verwendet Hanninen den – wissenschaftstheoretisch inzwischen durchaus obsoleten – Begriff der Beobachtungssprache nur mit einer Einschränkung. Analyse, die auf klangliche und kontextuelle Kriterien rekurriere, verfahre lediglich, »als ob« sie sich einer Beobachtungsprache bediene:
Contextual criteria assume the availability of basic concepts in music theory […] that, in music analysis, are often used as if observation language rather than as theoretical terms. (32 f.)[17]
Wie soll man sich dieses »als ob« vorstellen?
Hanninen meint, bei der Zuordnung eines Pitch-Class Sets zu einer Tonhöhenkonstellation finde Interpretation ebensowenig statt wie bei der Beschreibung eines einzelnen Tons etwa als C#4 oder halbe Note: Dass eine Konstellation von Tonhöhen ein bestimmtes Pitch-Class Set instantiiere, sei vielmehr eine schlichte Tatsache. (34) Dass Hanninen ›bestimmte Tonhöhe‹ und ›Pitch-Class Set‹ in eine Kategorie sortiert, obwohl es sich um analytische Gegenstände unterschiedlichen Theoretizitätsgrads handelt, mag irritieren, hat aber einen Grund: Beide Termini, so Hanninen, bezeichneten bestimmte, eindeutig zu benennende Eigenschaften (»determinate, predicable properties of sound events« [34]). Im Fall des Pitch-Class Sets bedeute dies: Die Regeln, nach denen die Theorie einer Tonkonstellation einen Begriff zuordnet, seien derart präzise, dass erwartet werden könne, verschiedene Beobachter attribuierten derselben Tonkonstellation dasselbe Pitch-Class Set. (Vgl. 445, Anm. 63) Der interpretative Anteil an der Bestimmung einer Konstellation als Pitch-Class Set x oder y beschränke sich damit auf die vorgängige Entscheidung, eine Tonkonstellation überhaupt aus Perspektive der Pitch-Class Set Theory (und nicht der einer anderen Theorie) zu betrachten. (443, Anm. 41)
Ein weiteres Argument ergänzt diese Auffassung. Geht es darum, kontextuelle Kriterien von strukturellen zu unterscheiden, spielt die Kategorie Interpretation eine zentrale Rolle:
Structural criteria […] often use the same elements and predicable properties as contextual criteria do, but conjoin them with theoretical concepts and terms defined by an orienting theory to express musical interpretations shaped or supported by that theory. In contrast to contextual criteria, structural criteria indicate not relational properties but interpretations with respect to a specific theoretic orientation (45).
Dass Hanninen bestimmte theorieeigene Begriffe Beobachtungsbegriffen gleichsetzt, beruht also nicht allein auf dem Moment der Eindeutigkeit, sondern auch auf dem der Relationalität: es garantiert, dass in der Zuordnung kontextueller Kriterien zu musikalischen Konstellationen keine Interpretation stattfindet. Auch diese Figur lässt sich anhand von Segmentationsoperationen im Rahmen der Pitch-Class Set Theory illustrieren.
Dass die Pitch-Class Set Theory ihrem eigenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit schon deshalb nur bedingt gerecht wird, weil die Auswahl der Töne, die einem Pitch-Class Set subsumiert werden sollen, in concreto weitreichenden Ermessensentscheidungen unterliegt, ist häufig bemerkt worden. Kontextuelle Kriterien nun liefern ein rationales Prinzip, Töne zu Gruppen zusammenzufassen: Eine Mehrzahl von Tönen ist dann eine Gruppe im Sinne des kontextuellen Bereichs, wenn ihre Beschreibung zu einem Strukturbegriff führt, der auch auf andere Tonkonstellationen anwendbar ist; dass zwei Gruppen als Instanzen desselben Pitch-Class Sets erscheinen, genügt, um sie nach diesen Kriterien miteinander zu assoziieren. Umgekehrt hebt erst die Assoziation eine bestimmte Anzahl von Tonhöhen aus ihrem lokalen Kontext und schließt sie zu einer Gruppe im Sinne des kontextuellen Bereichs zusammen. Das kontextuelle Kriterium operiert damit – wenn nicht in der Praxis, so doch zumindest prinzipiell – gänzlich mechanisch und subjektfern.
Das also meint jenes »als ob«, von dem im obigen Zitat die Rede war: Anders als bei Rudolf Carnap verläuft die Grenze zwischen dem Vortheoretischen und dem Theoretisch-Interpretativen bei Hanninen nicht zwischen der sprachlichen Codierung von Beobachtungsdaten auf der einen und der logischen Verknüpfung von Beobachtungssätzen auf der anderen Seite, sondern zwischen theoretischen Aussagen, die einem Phänomen eineindeutig zugeordnet werden können, und solchen, deren Zuordnung das Ausschöpfen eines Ermessensspielraums impliziert. Erstere betrachtet Hanninen als Analoga zu Beobachtungssätzen (in der Auffassung Carnaps), weil ihre eineindeutige Zuordenbarkeit in gewissem Sinn der Unhintergehbarkeit der subjektiven Evidenz entspricht, mit der ein Sinneseindruck wahrgenommen wird.
Die Zurichtung des musikalischen Gegenstandes durch die analytischen Werkzeuge selbst allerdings ‒ die immanente Interpretativität theoriebasierter Methoden ‒ wird, so versteht sich, in dieser Konstruktion außer Acht gelassen. Hanninens Faktizitätsbegriff ist denn auch deutlich kritisiert worden. Michael Boerner et al. etwa schreiben:
Hanninen conceives the basic concepts in music theory as an ›observation language‹ (pp. 33 and 43) as if it were a neutral, descriptive language. Suggesting a science-like empiricism, this observation language seems to serve as a basis for the interpretive freedom of the analyst. While the theory of analysis does not explicitly specify the kinds of segmentations and relations that may be observed analytically, the freedom of the analyst is nonetheless constrained by the types of entities included within basic music theoretical concepts. Far from being a neutral language, basic music theoretical concepts of the sort Hanninen employs are shot through with higher-level concepts of the nature of musical structure.[18]
Die Kritik an der Vorstellung einer gleichsam vortheoretischen Sprache geht bei Boerner et al. mit einer Reihe anderer (hier im Einzelnen nicht zu referierender) Einwände einher – Einwände, die im Wesentlichen der Kritik entsprechen, die der Princeton School of Music Theory auch an anderer Stelle entgegengebracht worden ist. Scott Gleason hat sie wie folgt umrissen:
The main themes of Princeton Theory would seem to include logical positivism; that it constitutes itself in a difficult, perhaps impenetrable, discourse; that it is concerned with twelve-tone or serial theory; that it bridges this with compositional theory; that it is a metatheoretical as well as theoretical project; and that it is somehow unethical or amoral (insofar as it alienates itself from culture and society as a whole by assuming an avant-garde stance).[19]
Entwerten Kritikpunkte wie die oben genannten Hanninens Theorie? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie grundsätzlich man argumentieren möchte.
Wer dieses Buch allein auf erkenntnistheoretische Stimmigkeit hin liest, sieht rasch: Die Idee, klanglicher und kontextueller Bereich bildeten eine vortheoretische Domäne reiner Selbstgegebenheit, ist nicht minder leicht zu erschüttern als die Vorstellung, die Theorie stelle ein gleichsam neutrales Instrumentarium zur Verfügung, das sich den Absichten der oder des Analysierenden widerstandslos anschmiege.[20]
Wer dies lediglich konstatiert, geht freilich an einer Besonderheit dieses Buches vorbei. Hanninens Theorie lebt davon, dass sie eine Vielzahl auch disparater Begriffe und Konzepte zusammenbringt: Nur so vermag sie, Musikstücke in der Heterogenität ihrer Aspekte zu beschreiben. Das Kriterium der eineindeutigen Zuordenbarkeit aber dient dazu, den Bereich elementar-vortheoretischer deskriptiver Konzepte so breit anzulegen, dass er sich nicht nur auf Konzepte vager, sondern auch auf solche niedriger Theoretizität erstreckt.[21] Das ist kein Taschenspielertrick, sondern nicht weniger als die theoretische Nobilitierung einer verbreiteten analytischen Praxis. Idealtypisch gesprochen, stehen Analyse zwei Möglichkeiten offen: die Unterordnung des musikalischen Gegenstandes unter die Theorie oder die Unterordnung der Theorie unter den Gegenstand. Erstere findet sich etwa in theoriegeschichtlichen Kontexten oder methodengebundenen Analysen. Sie führt in aller Regel zu mehr oder minder monoperspektivischen und entsprechend selektiven Analysen.[22] Letztere entspricht den Gegebenheiten einer individuellen Werkanalyse: Deren Fokus liegt auf dem Zusammenhang auch kategorial unterschiedlicher Momente; sie ist daher zumindest tendenziell eklektizistisch. Da methodologische Reflexionen dort, wo der Fokus auf dem analysierten Gegenstand liegt, rasch als Ablenkung oder Überfrachtung erscheinen, werden analytische Konzepte und Verfahren in Werkanalysen überwiegend instrumentell eingesetzt: Sie treten nur insofern in Erscheinung, als sie eine bestimmte werkanalytisch relevante Leistung erbringen. Dies ist durchaus legitim: In der traditionellen Werkanalyse kommt es, bildlich gesprochen, weniger auf die einzelnen Vokabeln an als auf die je besonderen Aussagen, zu denen sich diese Vokabeln verknüpfen lassen.
Theoriegestützte Analyse und tendenziell eklektizistische Ad-hoc-Analyse bildeten bislang klar voneinander geschiedene und von manchen ihrer Proponenten auch mit einiger ideologischen Verve vertretene Positionen. Hanninens Leistung liegt nun auch darin, beide Positionen auf ingeniöse Weise miteinander zu verschränken: Einerseits greift sie das instrumentelle Methodenverständnis auf, indem sie bestimmte musiktheoretische Konzepte zu elementaren erklärt und entsprechend einsetzt. Andererseits gelingt ihr die scheinbar paradoxe Leistung, das vortheoretische Fundament der Ad-hoc-Analyse in ein genuin theoretisches Gebilde zu verwandeln, indem sie elementare Konzepte (bzw. was sie für solche hält) durch ein differenziertes Begriffssystem der Segmentationsanalyse überformt und einer übergreifenden Theoriearchitektur eingliedert.
Die Reflexionslücke, die in traditionellen Werkanalysen beträchtliche Ausmaße annehmen kann – häufig rekurriert man auf ein theoretisches Instrumentarium, dessen Angemessenheit nicht eigens begründet, sondern im stillschweigenden Rekurs auf Traditionen der analytischen Werkrezeption vorausgesetzt wird –, besteht nun auch bei Hanninen, und zwar in genau dem Umfang, in dem ihre Theorie Begriffe diverser Provenienz aufgreift und als elementare Konzepte rubrifiziert. Man sollte dies bemerken, ihr aber nicht vorwerfen. Denn erstens ist dies die Bedingung dafür, dass klanglicher Bereich und kontextueller Bereich überhaupt als hinreichend leistungsfähige Theoriekomponenten fungieren können. Und zweitens ist der Schaden, der aus der Reflexionslücke erwächst, durchaus gering: Die Eineindeutigkeitsvorgabe definiert klar, unter welchen Bedingungen ein Konzept dem klanglichen oder kontextuellen Bereich eingegliedert werden kann; die theoretische Einbindung sorgt dafür, dass die Verwendung elementarer Konzepte in höherstufigen Zusammenhängen transparent geregelt ist. Damit aber wird die Reflexionslücke zum Teil von Theorie – und eben dadurch zu einem möglichen Gegenstand weiterer theoriekritischer und methodologischer Diskussionen. Allemal gilt zudem: Wie jede Theorie impliziert auch diejenige Hanninens eine Aufforderung an die oder den Analysierenden, die impliziten Prämissen des bereitgestellten Instrumentariums metatheoretisch zu beleuchten und ihre Geltung kritisch zu brechen, kurz: das Bewusstsein für Grenzen, Inkompatibilitäten und Alternativen wach zu halten.
Ein kurzes Resümee: A Theory of Music Analysis ist, so meine ich, eine der wichtigsten musiktheoretischen Publikationen der letzten Jahrzehnte. Das Buch liefert eine neue integrative Antwort auf zentrale Probleme des Methodenpluralismus, bietet ein enorm leistungsfähiges Arsenal analytischer Instrumente und entfaltet einen musiktheoretischen Diskurs, dessen wissenschaftstheoretische Informiertheit, methodischer Reichtum, logische Klarheit und deskriptive Fülle in der Musiktheorie ihresgleichen suchen. Leicht wird es dieses Buch trotzdem nicht haben: Seine strukturelle Ausrichtung läuft dem historischen Akzent zumal der deutschsprachigen Musiktheorie zuwider;[23] zu aktuellen Strömungen wie den postcolonial studies hat es nichts zu sagen, und sein theoretischer Apparat ist überaus anspruchsvoll: Es fordert nicht nur, sich mit einer Fülle neuartiger Termini vertraut zu machen (das Glossar umfasst acht eng bedruckte Buchseiten), es setzt auch gute Kenntnisse einer Vielzahl bestehender Theorien und analytischer Instrumente voraus.[24] Bei all seiner Schwierigkeit aber ist zu wünschen, es werde von möglichst Vielen gelesen: Es begründet die Maßstäbe dessen neu, was, einem emphatischen Begriff des Fachs zufolge, Musiktheorie heute sein kann.
Anmerkungen
Kaufmann 1969, 9. | |
Dahlhaus 1984, 76. | |
Fladt 2019, 322. | |
Vgl. Krijnen 2008. | |
Siehe etwa Hoyningen-Huene 2013. | |
Adorno 2001, 80. | |
Krijnen 2008, 64. | |
Edel 2010, 296. | |
Siehe etwa Webster 1991; Rings 2011, 37–39; Schwab-Felisch 2020. | |
Hanninen 2001, 345. | |
Ebd. | |
Ebd., 346. – Der Ausdruck ›Hörweisen‹ (»hearings«) ist hier synekdochisch zu verstehen: Zwar steht die auditive Erfahrung bei einigen Theoriekomponenten im Zentrum, doch beansprucht sie keinen allgemeinen Vorrang vor dem reflexiv-analytischen Umgang mit visuell repräsentierter und auditiv imaginierter Musik. | |
Vgl. Hanninen 2009. | |
Bernstein 2013, Abs. 2. | |
Einzelereignisse sind über das Moment Ähnlichkeit nicht sinnvoll voneinander zu unterscheiden: Folgen sie unmittelbar aufeinander, bewirkt Ähnlichkeit Kontinuität, stehen sie voneinander getrennt, bietet Ähnlichkeit per se keinen hinreichenden Grund, sie aufeinander zu beziehen. | |
Siehe etwa Carnap 1958, 237. | |
Siehe auch Hanninen 2001, 364. | |
Boerner et al. 2014, 136. | |
Gleason 2013, 6. | |
Siehe Boerner et al. 2014, 136. | |
Vage Theoretizität besitzen Begriffe, die entweder auf keine spezifische Theorie zurückgehen (auch wenn sie in spezifischen Theorien vorkommen können), oder deren ursprüngliche theoriespezifische Bedeutung im Zuge eines verzweigten Rezeptionsprozesses durch eine Vielzahl anderer Bedeutungen ergänzt und überlagert wurde. (Vgl. Dahlhaus’ Konzept der ›musiktheoretischen Umgangssprache‹ [1984, 155]). Niedrig ist die Theoretizität eines Begriffs, wenn er sich zwar einer spezifischen Theorie verdankt, seine Definition aber von vergleichsweise wenigen theoriespezifischen Konzepten oder Operationen abhängt. Der Terminus ›Z-related set‹ etwa besitzt in diesem Sinne einen höheren Theoretizitätsgrad als der Terminus ›Pitch-Class Set‹. | |
Anders als die eingangs referierte Position besagt, geht eine methodengestützte Analyse nicht schon per se an ihrem Gegenstand vorbei. Eine gute Methode erschließt ihren Gegenstand in Aspekten, die ohne sie nicht zu Bewusstsein gekommen wären. Allerdings beschränkt sie sich naturgemäß auf eine bestimmte Anzahl solcher Aspekte. Nur im Sinne dieser Beschränkung ordnet eine methodengestützte Analyse ihren Gegenstand der Methode unter. | |
Vgl. Neuwirth 2015, 100. | |
Vgl. Burdick 2013, 104; Boerner et al. 2014, 137 f. |
Literatur
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Technische Universität Berlin [Technische Universität Berlin]
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