Linke, Cosima / Ariane Jeßulat / Christian Utz (2020), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 17/1, 5–14. https://doi.org/10.31751/1037
eingereicht / submitted: 17/05/2020
angenommen / accepted: 17/05/2020
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 15/06/2020
zuletzt geändert / last updated: 15/06/2020

Editorial

Musikbezogene Genderforschung bzw. Gender Studies sind in der deutschsprachigen Musikwissenschaft längst ein anerkannter und vielfältig ausdifferenzierter Fachdiskurs mit eigenen Publikationsorganen wie dem seit 2008 erscheinenden Jahrbuch Musik und Gender[1] und dem 2010 veröffentlichten Lexikon Musik und Gender[2] sowie institutioneller Verankerung durch entsprechend ausgerichtete Stellen- und Studiengangsprofile, wissenschaftliche Einrichtungen und Forschungszentren.[3] In der deutschsprachigen Musiktheorie hingegen gibt es weder einen breiteren Fachdiskurs noch überhaupt einen akademischen ›Ort‹ für musikbezogene Genderforschung, auch wenn genderbezogene Themen und Perspektiven zweifellos in musiktheoretische Felder ausstrahlen. Dies gilt vor allem für die Geschichte der Musiktheorie und der musikalischen Analyse. Hinlänglich bekannt ist etwa, dass sich historische Genderkonstruktionen und -zuschreibungen in musiktheoretischen Fachbegriffen und Kategorien widerspiegeln wie die normativen ›männlichen‹ (auch: ›starken‹) gegenüber den davon abgeleiteten ›weiblichen‹ (auch: ›schwachen‹) Schlussformeln bzw. Kadenzen,[4] die mit ›männlichen‹ respektive ›weiblichen‹ Eigenschaften assoziierten Tonarten bzw. ›Tongeschlechter‹ (!) Dur und Moll,[5] oder entsprechend genderkonnotierte Themencharakterisierungen klassischer Sonatenformen etwa bei Adolph Bernhard Marx. Allerdings steht bei Marx weniger die Idee der Ableitung als die der komplementären Ergänzung von Haupt- und Seitensatz im Sinne des ästhetischen Ideals einer Einheit in der Mannigfaltigkeit im Vordergrund.[6] Diese Thematik hat bereits Susan McClary im Zuge der Neuorientierung der New bzw. Critical Musicology in ihren hermeneutisch-narratologischen Analysen auch von ›absoluter‹ Instrumentalmusik ins Bewusstsein gerufen,[7] und sie wird seither in der musikbezogenen Genderforschung zum Teil kontrovers bezüglich ihrer musikanalytischen Trag- und Reichweite diskutiert.[8]

Angesichts eines noch weitgehend fehlenden Fachdiskurses musiktheoretischer Genderforschung im deutschsprachigen Raum versucht das vorliegende Themenheft, diesem fundamentalen Desiderat zu begegnen und eine erste Grundlegung für einen solchen Fachdiskurs zu schaffen. Dabei ist eine Orientierung am interdisziplinären und internationalen Diskursfeld musikbezogener Gender Studies und dessen Verbindung mit musiktheoretischen Themen notwendig, mit dem Ziel einer wechselseitigen Befruchtung und Bereicherung der Forschungsfragen, Gegenstände und Methoden. Von Anfang an war es daher ein wichtiges Ziel, Beiträge sowohl von deutsch- als auch von englischsprachigen Autor*innen in diese Ausgabe aufzunehmen, um so die unterschiedlichen Fachdiskurse und deren akademische Einbettung zu thematisieren und Möglichkeiten der Vernetzung aufzuzeigen. Die sechs Themenbeiträge leisten eine solche Gegenüberstellung zumindest im Ansatz, wobei hier keinerlei Anspruch auf eine angemessene Abbildung der jeweiligen Breite und Diversität genderbezogener Fragen, Methoden und Kontroversen in Anspruch genommen werden kann.

Was originäre musiktheoretische Fragen betrifft, so ist diesen in den nordamerikanischen musikbezogenen Gender Studies insofern recht früh besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden, als die Fundamentalkritik der Critical Musicology an den ›kalten‹ Praktiken der ›alten‹ Musikforschung von Beginn an – etwa in zwei bedeutenden Publikationen Joseph Kermans[9] – ganz besonders auch technizistische Analysemethoden betraf, wie sie als Folge eines verbreiteten Neopositivismus seit den 1950er Jahren besonders in vielen Anwendungen der Schenker-Analyse und der pitch class set theory konstatiert wurden.[10] Dass solche Art analytischer ›Dekodierung‹ von Strukturen wenig geeignet schien, die »embeddedness of music in the actual contingent conditions of life and thought, which music reflects, enhances, and in part helps to create«[11] zu erfassen, implizierte unweigerlich Fragen der Identität und eines identitätsbezogenen Komponierens, Interpretierens und Hörens von Musik. Unübersehbar sind diese Fragestellungen seit den späten 1980er Jahren in Aufsätzen und Aufsatzsammlungen McClarys, Fred Everett Maus’, Lawrence Kramers, Ruth A. Solies oder Rose Rosengard Subotniks.[12] Welch hochgradige Differenzierung diese – bei aller Breite als unabgeschlossen anzusehenden – Ansätze bis zur Gegenwart im nordamerikanischen Diskurs erreicht haben, wird aus den drei Beiträgen der aktuellen Ausgabe von Judy Lochhead, Danielle Sofer und Fred Everett Maus eindrucksvoll deutlich. Teil dieser Ausdifferenzierung ist es nicht zuletzt, den Genderdiskurs über binäre Geschlechterdifferenzierungen auf diverse Varianten multipler und gemischter Identitäten erweitert zu haben – was freilich in der Konsequenz auch eine radikale Ausweitung jener Fragen impliziert, für die ›Musiktheorie‹ sich bislang (vermutlich im Bewusstsein einer Mehrzahl der Fachvertreter*innen) zuständig gefühlt haben dürfte. Danielle Sofer tritt in ihrem Beitrag nachdrücklich für eine solche Erweiterung des Repertoire- und Themenspektrums ein. Im ebenso naheliegenden wie bequemen Argument, ein bestimmtes Werk oder Repertoire, eine bestimmte Thematik oder Fragestellung ›zähle‹ nicht mehr zum Bereich der Musiktheorie, kann man unschwer einen historisch bedingten Territorialisierungsreflex erkennen.

Viele Desiderate muss diese Ausgabe gewiss unerfüllt lassen. Manche treten vielleicht nun erst recht zu Tage und eröffnen so produktive Anknüpfungspunkte und Perspektiven für zukünftige Diskussionen und Forschungsvorhaben. Deutlich wird etwa, wie schwer es ist, emphatisch musiktheoretische – an musiktheoretischen Quellen, am Notentext oder am klingenden Phänomen exemplifizierte – ›Konkretisierungen‹ musikbezogener Genderforschung zu leisten. In den hier versammelten Beiträgen überwiegt zweifellos ein metatheoretisches Niveau, auch wenn immer wieder Fallbeispiele aus den unterschiedlichsten Epochen und Genres herangezogen werden. Gerade dadurch stoßen einige der Beiträge aber grundlegende diskurstheoretische und epistemologische Themen und Problemstellungen an, die zu einer Neusituierung des Verhältnisses von Musiktheorie und musikbezogenen Gender Studies insgesamt beitragen können. Das Heftthema betrifft somit auch unmittelbar das fragile und seit einigen Jahrzehnten besonders in Bewegung und Verschiebung geratene Verhältnis der verschiedenen (Teil-)Disziplinen in der deutsch- und englischsprachigen Musikforschung sowie deren jeweilige wissenschaftstheoretische und akademisch-institutionelle (Selbst-)Verortung – Musiktheorie, musikalische Analyse, (Historische und Systematische) Musikwissenschaft, Ethnomusikologie, musikbezogene Genderforschung, music theory, music analysis, musicology, Gender Studies – und hat so einerseits das Potential, disziplinäre Ausdifferenzierungen und Eigenständigkeiten noch stärker zu profilieren,[13] andererseits aber auch (Teil-)Disziplinen und Fachdiskurse miteinander in einen Dialog zu bringen.

Dabei geht es einerseits um die im Kontext der zunehmenden ›Akademisierung‹ des Faches Musiktheorie notwendige Öffnung auch gegenüber kultur- und sozialwissenschaftlich orientierten ›Meta‹-Diskursen, andererseits um die eigenständigen Charakteristika und Potentiale musiktheoretischer ›Kernbereiche‹ mit ihrer engen Verknüpfung von künstlerischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Wissensformen und Praktiken. Denn genuin musiktheoretische Fragestellungen und Herangehensweisen bieten umgekehrt die Chance, musikbezogene Gender Studies von einer metatheoretischen Ebene auf konkrete musikalische Phänomene, kompositorische Verfahrensweisen, analytische Perspektiven und Methoden, historisch informierte und kontextsensitive Wahrnehmungsweisen und Verstehensstrategien von Musik zurückzubeziehen.

Auch der in diesem Heft besonders schwierige Peer-review-Prozess mit vielen ablehnenden und einander widersprechenden Gutachten scheint uns gewissermaßen symptomatisch für Musiktheorie als eine Disziplin im Umbruch und den Streit um die jeweilige Diskursmacht zu sein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der essayistische, zum Teil autoethnographisch orientierte Schreibstil einiger Beiträge: In diesem gezielten Subjektbezug und der damit einhergehenden Reflexion der performativen Dimensionen musikbezogenen Forschens und Schreibens, der Partikularität der eigenen Perspektive und der gesellschaftlichen Situiertheit von Wissensformen und Wissensproduktion[14] liegt unseres Erachtens ein wichtiges Potential musiktheoretischer Genderforschung gegenüber einer vermeintlich ›exakten‹ wissenschafts- und objektivitätsorientierten musiktheoretischen Betrachtungsweise musikalischer Kunstwerke[15] – eine Betrachtungsweise, die das jeweils forschende und schreibende Subjekt weitgehend ausklammert oder dessen implizite Prämissen und Werturteile nicht, oder zumindest oft nicht ausreichend und explizit, hinterfragt.[16]

Angesichts des relativ offenen Themas dieser Ausgabe fehlt es zwar an gemeinsamen Bezugstheorien, die einen theoretischen Rahmen oder roten Faden bilden könnten, sodass sich vor dem/der Leser*in ein breites Panorama an möglichen Perspektiven auf das Verhältnis von Musiktheorie und Gender Studies und deren unterschiedliche Schnittstellen entfaltet. Andererseits ist auf zahlreiche Überschneidungen hinzuweisen – neben dem bereits genannten performativen und diskursiven Plädoyer für einen stärkeren Subjektbezug im musiktheoretischen Forschen und Schreiben. So ist das, was Fred Everett Maus im Rückblick auf eigene Aufsätze seit den späten 1980er Jahren zusammenfassend als ›defensive discourse‹ beschreibt, aufs Engste bezogen auf jene Vor-Urteile und kulturgeschichtlich imprägnierten Wertungen wie sie der ›männlich‹ konnotierte Geniebegriff (Klassen), die Kanonisierung eines bestimmten Repertoires mittels musikalischer Analyse (Noeske) oder der Technizismus einer vermeintlichen ›mainstream music theory‹ (Sofer) konstituieren.

Die beiden Beiträge zum kompositorischen Schaffen Clara Wieck Schumanns von Janina Klassen und Thomas Wozonig sind im zeitlichen Zusammenhang des Jubiläumsjahres 2019 zu sehen, das der Künstlerin auch als Komponistin mehr Aufmerksamkeit gewidmet und der Clara-Schumann-Forschung neue Impulse gegeben hat. Die deutschsprachige musikbezogene Genderforschung hat sich von ihren Anfängen in der Frauen- und Geschlechterforschung signifikant weiterentwickelt, deren Fokus vorrangig auf Komponistinnen und anderen Akteurinnen und deren weitgehend unsichtbarer Rolle in der Musikgeschichte lag.[17] Dennoch lassen sich, wie beide Beiträge zeigen, an Persönlichkeiten wie Clara Wieck Schumann nach wie vor zentrale Fragen der Genderforschung diskutieren wie der Zusammenhang von künstlerischem Kompetenzerwerb, kompositorischen Entstehungsprozessen und genderkonnotierten Konzepten wie dem Genie- und Autonomiebegriff – auch unter analytischen Gesichtspunkten.

* * *

Nicht zuletzt impliziert das Heftthema auch eine gesellschaftspolitische Agenda: Eine ursprünglich für die ZGMTH in Auftrag gegebene empirische Studie zur Gender Balance im Fach Musiktheorie an deutschsprachigen Musikhochschulen kam leider nicht wie geplant zustande, stattdessen fasst nun der Beitrag von Irene Kletschke und Kirsten Reese Ergebnisse einer von der Universität der Künste Berlin initiierten statistischen Recherche zur Genderverteilung in den Fächern Komposition, Elektroakustische Komposition und Musiktheorie an deutschen Musikhochschulen zusammen und zeigt dabei eindrückliche Tendenzen auf, nach denen die aktuelle Situation in diesen Fächern noch sehr weit von Gendergerechtigkeit entfernt ist. Dies spiegelt sich auch in der aktuellen Mitgliederstatistik der GMTH, die mit Stichtag 13.5.2020 nur 22 % Mitglieder mit weiblicher Anrede verzeichnet, denen 77 % Mitglieder mit männlicher Anrede gegenüberstehen.[18] Dem stehen nicht nur die in den Beiträgen von Judy Lochhead und Danielle Sofer problematisierten Zahlen der US-amerikanischen Schwestergesellschaft Society for Music Theory (SMT) gegenüber (31,6 % weiblich und 66,4 % männlich im Jahr 2017), sondern auch die bei weitem ausgeglicheneren Zahlen musikwissenschaftlicher Gesellschaften.[19]

Dies sollte auch für den Fachdiskurs zu denken geben, denn dieser gesellschaftspolitische und akademisch-institutionelle Missstand strahlt letztlich auf die Inhalte und Methoden des Faches Musiktheorie aus, was sich auf die etwas schlagwortartige Formel bringen lässt: je diverser die Fachvertreter*innen, desto vielfältiger das Fach. Insofern kann eine engere Verknüpfung von Musiktheorie und Gender Studies potentiell einen Beitrag dazu leisten, Machtdispositive, herrschende Diskurse und Praktiken und damit einhergehende ›epistemologische Ungerechtigkeiten‹ in der akademischen Musiktheorie nachhaltig in Frage zu stellen, etwa was eine kanon- und ideologiekritische Wahl der als musiktheoretischer Untersuchungsgegenstand anerkannten und in der musiktheoretischen Praxis dann auch tatsächlich behandelten (!) Komponist*innen, musikalischen Phänomene, Kontexte, Wahrnehmungs- und Verstehensweisen betrifft. Dies impliziert auch die Forderung nach pluralistischeren und diverseren Formen des Hörens, Spielens, Reflektierens, Analysierens und Unterrichtens von Musik sowie musiktheoretischen Forschens und Schreibens.

In alle Themenbeiträge fließen solche Forderungen explizit oder implizit ein. Judy Lochhead thematisiert in ihrem wissenschaftstheoretischen und diskursgeschichtlichen Beitrag die ›magischen Kräfte‹ von Musik (»music’s vibratory enchantments«), die diese auch auf Musiktheoretiker*innen ausübt und die erst in jüngerer Zeit überhaupt eine Rolle in der nordamerikanischen music theory und in der musikalischen Analyse spielen. Als theoretischer Bezugspunkt dienen ihr Konzepte aus der feministischen Wissenschaftstheorie bzw. feminist standpoint theory wie ›strong objectivity‹ (Sandra Harding) sowie ›epistemic injustice‹ (Miranda Fricker), die Kritik an epistemologischen und institutionellen Privilegien in wissenschaftlicher Wissensproduktion üben. Übertragen auf Musiktheorie hinterfragt Lochhead die epistemologischen Privilegien objektivistisch-strukturalistischer Perspektiven auf Musik in der Geschichte der modernen nordamerikanischen music theory, und beschreibt den auch durch feministische Theorien angestoßenen disziplinären Wandel in jüngerer Zeit, der etwa mit einer stärkeren Einbeziehung subjekt- und körperorientierter Perspektiven einhergeht. Als ein Beispiel für eine zeitgenössische musikdramatische Thematisierung ›epistemischer Ungerechtigkeit‹ geht Lochhead analytisch auf Eliza Browns The Body of the State (2017) ein, ein Monodrama in drei Szenen für Sopran, Ensemble und fixed media.

Auch in Danielle Sofers weit ausgreifendem Beitrag ist das (im Kontext akademischer Disziplinen in den USA) ›verspätete‹ Aufgreifen von gendertheoretischen Perspektiven in der nordamerikanischen Musikforschung Ausgangspunkt der Argumentation. Dargestellt anhand von Suzanne Cusicks autoethnographischen Reflexionen im Band Queering the Pitch (1994) werden die Widerstände dargestellt, die eine Thematisierung von Körper (embodiment) und Sexualität noch in den 1990er Jahren hervorrufen konnte. Andererseits öffnet Sofers Aufsatz, in kontroverser Anknüpfung an Fred E. Maus, überraschende Perspektiven auf die ›musico-sexual orientations‹ von Autoren wie Edward T. Cone, deren Ausgangspunkt zwar der musikanalytische Positivismus der Princeton-Schule ist, die aber durch Einbeziehung von lebensweltlichen und subjektiven Dimensionen des Hörens diesen Ausgangspunkt zugleich in Frage stellen. Komplexer wird die Diskussion in Bezug auf jene von Maus oder Gavin Lee reklamierten männlich-homosexuellen Positionen des Musikhörens, dessen tendenziell einseitigen ›homonormativen‹ Diskurs es aus Sicht der LGBTQIA+ (Lesbian, Gay, Bisexual, Pansexual, Transgender, Genderqueer, Queer, Intersexed, Agender, Asexual, and Ally) zu hinterfragen gilt. Ausgehend von Sara Ahmeds ›queer phenomenology‹ wird darauf verwiesen, dass auch im verbreiteten Konzept des ›embodiment‹ eine grundlegende Situiertheit von Identitäts- und Körperkonzepten übersehen wird, die Ahmed mit dem Begriff ›orientations‹ fasst. Anhand von musikanalytischen Texten seit den späten 1980er Jahren exemplifiziert Sofer ihre Forderung an Praktiker*innen musikalischer Analyse, den status quo des Fachs stets zu hinterfragen und zu verschieben: McClary zu Milton Babbitts Philomel (1964), Judy Lochhead zu Alban Bergs Lulu, Hazel Carby und Angela Davis zum Blues der 1920er and 30er Jahre, erweitert durch eine Kritik der Black Sexual Politics in den soziologischen Studien von Patricia Hill Collins und bell hooks.

Fred Everett Maus’ Essay reflektiert in Form einer poetischen Diskursanalyse verschiedene Spielarten intentionaler Verflechtung von Fachsprache und emotional oder in anderer Weise welthaltig aufgeladenen Ausdrucksformen in musikwissenschaftlicher und musiktheoretischer Prosa, wobei Texte aus den Bereichen Analyse und Höranalyse einen Schwerpunkt bilden. Während konstruierte Narrative wie das Gegensatzpaar aktiv-passiv und ihre kulturell präzise situierte Zuordnung zu gender und sexuality den roten Faden des Beitrags bilden, arbeitet Maus in einem close reading anhand paradigmatischer Passagen bei Eduard Hanslick, Edward T. Cone, Allen Forte, John Rahn, Pauline Oliveros und Suzanne Cusick heraus, wie fiktive Binaritäten asymmetrischer Machtverteilung – »defensive discourses« – nicht nur Rollenbilder widerspiegeln, sondern diese vielmehr erzeugen. Im hörenden Nachvollzug bilden diese normativen Prägungen Bollwerke gegen Erfahrungen musikalischer wie persönlicher, vor allem sexueller Passivität, indem sie gerade in den musiktheoretischen Anforderungen ›aktiven Hörens‹ Profile maskuliner Normativität reproduzieren und dabei differenziertere, emotional vielschichtigere und höchstwahrscheinlich sexuell erfüllendere Facetten der sinnlichen Auseinandersetzung mit Musik nicht zu Bewusstsein kommen lassen. Gefiltert in der kritischen Re-Lektüre eigener Texte seit den 1980er Jahren, aktualisiert Maus den durch Susan McClary angestoßenen Diskurs und löst dabei nicht nur die starre Zuordnung zu kanonischem Repertoire, sondern öffnet traditionell anthropomorphe Vorstellungen idealisierter Subjektivität hin zu dezentralen Hybriden,[20] non human agencies und anderen Entwürfen, die Anschluss an Subjektvorstellungen zeitgenössischer Philosophie zulassen.

Auch Nina Noeskes Aufsatz reiht sich in die diskurstheoretisch und -geschichtlich orientierten Beiträge in diesem Band ein, unter Einbeziehung einer dezidiert musikästhetischen Perspektive. Noeske widmet sich ausgehend von einer Auseinandersetzung mit Carl Dahlhaus’ vieldiskutierter Schrift Analyse und Werturteil (1970) den Prämissen, Kriterien und Maßstäben ästhetischer Werturteile vor allem im Kontext musikalischer Analyse und insbesondere auch mit einem kanonkritischen Blick auf Werke von Komponistinnen der Vergangenheit und Gegenwart. In ihrer historischen und systematischen Analyse von Qualitätsdimensionen und -maßstäben seit Kant diskutiert Noeske auch den engen Zusammenhang von ästhetischen Kategorien und Maßstäben sowie Genderzuschreibungen, wie er etwa an der Gegenüberstellung von ›männlich‹ konnotiertem Geistigen – mitsamt dem entsprechend geprägten Strukturbegriff in der musikalischen Analyse – und mit ›Weiblichkeit‹ assoziiertem Körperlich-Sinnlichen deutlich wird. Noeske macht sich in ihrem Beitrag für eine reflektierte Wiedereinführung des Werturteils und damit eine explizit gemachte Berücksichtigung einer subjektorientierten Perspektive stark, in welcher das »schreibende Subjekt als ästhetisch wahrnehmendes und empfindendes erkennbar bleibt« (98).

Janina Klassen problematisiert in ihrem Beitrag zu Clara Wieck Schumanns künstlerischem Kompetenzerwerb das Doing Gender historischer Genie-Konzepte und die damit einhergehende Anwendung von unangemessenen Bewertungskriterien auf Wieck Schumanns kompositorisches Schaffen. Dabei plädiert sie, auch vor dem Hintergrund von aktuellen Ansätzen aus der Kreativitätsforschung, für neue Perspektiven auf ›post-genialistische‹ Kunstwerke, die implizite und explizite Wertmaßstäbe in Frage stellen. Klassen betont den systematischen Kompetenzerwerb Wieck Schumanns und damit die handwerklichen Aspekte sowie die soziokulturelle und lebensweltliche Einbettung von Komponieren. Als Beispiele für die Vielschichtigkeit der kreativen Prozesse Wieck Schumanns, welche sich nicht eindeutig binären musikästhetischen Kategorien und damit verbundenen Bewertungskriterien wie ›autonom‹ versus ›heteronom‹ oder ›intrinsische‹ versus ›extrinsische‹ Motivation zuordnen lassen, bespricht sie das Scherzo d-Moll op. 10 sowie die Romanze g-Moll op. 11/2 für Klavier.

Auch in Thomas Wozonigs analytisch orientiertem Beitrag zu Clara Schumanns in der Musikforschung bislang weniger beachteten Drei gemischten Chören (1848) geht es um den vielschichtigen Schaffensprozess der Komponistin auch unter Einbeziehung biographischer sowie institutioneller Voraussetzungen. Dabei steht vor allem der künstlerische Dialog mit Robert Schumann während des kompositorischen Entstehungsprozesses im Fokus, den Wozonig auch anhand von detaillierten Skizzenstudien insbesondere des dritten Stückes »Gondoliera« nachvollziehbar macht. Wozonig arbeitet heraus, dass es sich bei den kompositorischen Eingriffen Robert Schumanns nicht um unidirektionale ›Korrekturen‹ handelt, sondern dass verschiedene Gestaltungsoptionen und damit einhergehende divergierende kompositionsästhetische Überzeugungen etwa mit Blick auf klangdramaturgische Gesichtspunkte im Partnerdiskurs dialogisch verhandelt wurden.

* * *

Die Rezensionen der vorliegenden Ausgabe scheinen zunächst nicht in Bezug zum Themenschwerpunkt zu stehen – mit Ausnahme von Kilian Spraus Besprechung von L. J. Müllers Buch Sound und Sexismus. Geschlecht im Klang populärer Musik. Eine feministisch-musiktheoretische Annäherung. Diese bildet nicht nur eine Fortsetzung der Themenbeiträge, sondern vielmehr eine Zuspitzung, da es sich bei Müllers Buch um ein Beispiel für eine im höchsten Grade problembewusste und ausbalancierte Anwendung und Diskussion gender- und musiktheoretischer Standards im Bereich der Performance Studies mit dem Schwerpunkt auf Präsentationsformen der weiblichen Stimme handelt.

Dennoch ergeben sich auch weitere Beziehungen im Kontext von Themenschwerpunkt und Rezensionen, etwa in den beiden Besprechungen, die sich auf Publikationen über scheinbare loci classici musiktheoretischer Arbeit beziehen, nämlich Juliane Brandes’ Rezension der Formenlehre von Felix Diergarten und Markus Neuwirth und Marc Rigaudières Rezension von Thomas Christensens Stories of Tonality. Beide Rezensionen heben vor allem die plurale, mehrperspektivische Anlage der Publikationen hervor, die ihren Gegenstand im Spannungsfeld von Rezeption, historischer Präzision und systematischer Vielfalt neu kontextualisieren und beleben.

Mit den Rezensionen von Hermann Danusers Metamusik von Gesine Schröder und Werner Grünzweigs Interviewsammlung Wie entsteht dabei Musik? von Tom Rojo Poller werden – trotz der denkbar großen Unterschiede zwischen diesen beiden Büchern – ähnliche Probleme im Verhältnis von Komposition und Rezeption berührt, und mit dem (West-)Berlin gegen Ende des 20. Jahrhunderts bilden auch vergleichbare geographisch-historische Situationen sich überschneidende Gedankenräume aus.

Max Alts und José Gálvez’ ebenso detailgenaue wie kritische Rezension des Routledge Companion to Popular Music Analysis lässt sich als Plädoyer für noch größere Diversität und Eigenständigkeit popmusikalischer Analyse lesen, deren Methoden im selben Maße auf klassisches Repertoire zurückwirken sollten wie eine Orientierung an etablierten Analyse-Paradigmen auch heute noch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit in die popular music studies hineingetragen wird, sodass sich auch hier ein Bezug zum Themenschwerpunkt des Heftes greifen lässt.

In der Gesamtschau der Rezensionen fällt auf, dass ein Auflösen binärer Asymmetrien auf der relevanten Ebene des Nachdenkens über die Dynamiken musikalischer Struktur bereits stattfindet und dass die Aufgabe musiktheoretischer Gender Studies weniger darin besteht, den Genderdiskurs lediglich zu adaptieren und mit musiktheoretischen Etiketten zu versehen, als ihn mit epistemologischer Genauigkeit mit denjenigen Bereichen zu vernetzen, in denen sich pluralistischere und diversere musiktheoretische Forschungsperspektiven und Schreibweisen bereits durchzusetzen beginnen.

Cosima Linke, Ariane Jeßulat, Christian Utz

Anmerkungen

1

Herausgegeben von der »Fachgruppe Frauen- und Genderstudien« der Gesellschaft für Musikforschung, die bis 2003 den Namen »Fachgruppe Frauen- und Geschlechterforschung« trug und 1994 ins Leben gerufen wurde.

2

Kreutzinger-Herr/Unseld 2010.

3

Etwa das 2001 gegründete Sophie Drinker Institut für musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung (https://www.sophie-drinker-institut.de, 14.5.2020), das 2006 gegründete Forschungszentrum Musik und Gender an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (https://www.fmg.hmtm-hannover.de/de/das-fmg, 14.5.2020) und das seit 2009 bestehende Zentrum für Genderforschung an der Kunstuniversität Graz (https://genderforschung.kug.ac.at/zentrum-fuer-genderforschung.html, 14.5.2020).

4

So spricht etwa Heinrich Christoph Koch von »weiblichem Ausgang« in Bezug auf den rhythmischen »Überhang«, also die melodische Verzierung von Zäsuren (Koch 2007, § 95, 376–380).

5

Vgl. Riepel 1755, 33 sowie: »Eine weibliche Tonart hat ihre Wesenheit von der männlichen her, und für sich selbst gar keine Leiter.« (Ebd., 121)

6

Vgl. Marx 1845, 272 f. Zur Auseinandersetzung mit genderkonnotierten Aspekten klassischer Sonatenformen vgl. Burnham 1996 und Citron 2000. Die genderkonnotierte Themencharakterisierung hat sich laut Huber (2011, 37 f.) erst im Laufe der Marx-Rezeption zu einer starren Opposition verfestigt.

7

McClary 1991; McClary 2007.

8

Siehe für eine deutschsprachige Auseinandersetzung mit McClarys Ansatz exemplarisch Knaus 2002 und Gerards 2005 sowie zum Verhältnis von Genderforschung und musikalischer Analyse allgemein Knaus 2010 und Huber 2011.

9

Vgl. Kerman 1980; Kerman 1985, 60–112.

10

Vgl. zusammenfassend etwa Davidović 2006.

11

Kramer 2002, 5.

12

Vgl. Maus 1988; McClary 1989; Kramer 1990, 102–176; Maus 1993; Solie 1993; Subotnik 1996 (erstmals veröffentlicht 1988). Vgl. Sofer 2017 für eine Weiterentwicklung von McClary 1989 und Subotnik 1996.

13

Zur disziplinären Eigenständigkeit der jüngeren deutschsprachigen Musiktheorie auch gegenüber der Musikwissenschaft vgl. Sprick 2013.

14

Vgl. zu einer feministischen Wissenschaftstheorie in Bezug auf »situated knowledges« Haraway 1988; vgl. auch den Beitrag von Judy Lochhead in dieser Ausgabe, https://doi.org/10.31751/1031 (15.6.2020).

15

Vgl. zu einer diskursgeschichtlichen Auseinandersetzung mit den wissenschaftstheoretischen Prämissen der nordamerikanischen music theory im Zuge ihrer Akademisierung McCreless 1997.

16

Dieser Subjektbezug gerät nicht erst durch die musikbezogenen Gender Studies in den Fokus und wird etwa auch von Abbate (2004) eingefordert. Zu den Prämissen und Kriterien von ästhetischen Werturteilen vgl. auch den Beitrag von Nina Noeske in dieser Ausgabe, https://doi.org/10.31751/1028 (15.6.2020).

17

Als ein Meilenstein gilt hier Rieger 1981.

18

Die GMTH hatte zum genannten Zeitpunkt vier institutionelle Mitglieder (ca. 1 %). Erhoben wurden diese Zahlen auf Grundlage der Kategorie (Mitglied / Institutionelles Mitglied) bzw. der frei wählbaren Anrede.

19

Die Österreichische Gesellschaft für Musikwissenschaft (OeGMw) zählte zum 11.5.2020 etwa 50 % weibliche und 50 % männliche Mitglieder (Mitteilung des Präsidiums der Gesellschaft), die American Musicological Society (AMS) zählte 2017 51,2 % weibliche und 48,5 % männliche Mitglieder. Vgl. die Beiträge von Judy Lochhead und Danielle Sofer in dieser Ausgabe zu den Quellen für die Zahlen von SMT und AMS. Von der Gesellschaft für Musikforschung (GfM) liegen aktuell keine Zahlen über die Geschlechteranteile der Mitglieder vor (Mitteilung des Präsidiums der Gesellschaft).

20

Vgl. Latour 2019, 14.

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