Noeske, Nina (2020), »Analyse des Werturteils – Analysen, wer urteilt? ›Qualität‹ und Qualitätsmaßstäbe in der Musikforschung« [Analysis of Value Judgement – Who Judges Analyses? “Quality” and Quality Standards in Music Research], Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 17/1, 81–102. https://doi.org/10.31751/1028
eingereicht / submitted: 26/08/2019
angenommen / accepted: 09/10/2019
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 15/06/2020
zuletzt geändert / last updated: 15/06/2020

Analyse des Werturteils – Analysen, wer urteilt?

›Qualität‹ und Qualitätsmaßstäbe in der Musikforschung

Nina Noeske

Der Beitrag stellt – 50 Jahre nach Carl Dahlhaus’ vieldiskutierter Schrift Analyse und Werturteil (1970) – erneut die Frage nach dem ästhetischen Wert(urteil). Im Anschluss an erstens eine Erörterung der ›Qualitätsfrage‹, die in Zeiten postkolonialer und feministischer Kritik an hegemonialen Diskursen von vielen für obsolet gehalten wird, sowie zweitens eine knappe Beschreibung der verschiedenen Ebenen eines ästhetischen Werturteils gilt es drittens den Zusammenhang von unterschiedlichen Qualitätsmaßstäben und musikalischer Analyse seit dem 19. Jahrhundert zu skizzieren. Viertens wird beispielhaft ein Blick auf Qualitätsurteile über Werke von Komponistinnen geworfen, um nach den jeweiligen Maßstäben zu fragen. Der abschließende Blick auf das 20. Jahrhundert und die Gegenwart weist auf eine Vielfalt möglicher Kriterien hin, die, so die Hypothese, bereits für die (fernere) Vergangenheit vorausgesetzt werden kann. Während das ›Werturteil‹ grundsätzlich eine mehr oder weniger positive oder negative Auszeichnung eines bestimmten Phänomens impliziert, mithin den Bezug zum Sprecher*innensubjekt herstellt, kann ›Qualität‹ außerdem auch, wertneutral, die Summe der spezifischen Eigenschaften eines Objekts meinen. Der Beitrag plädiert für die reflektierte Wiedereinführung der subjektiven Perspektive (und damit: des Werturteils) in Analyse und Musikhistoriographie, insbesondere auch dort, wo Geschlechterfragen berührt werden – im vollen Bewusstsein, dass es in der Kunst keinen absoluten Wertmaßstab gibt, dass Musik nicht, mit Virginia Woolf zu sprechen, »like sugar and butter« gewogen werden kann.

Fifty years after Carl Dahlhaus’ much-discussed text Analyse und Werturteil (Analysis and Value Judgment, 1970), this article once again poses the question of aesthetic judgment. First, the article discusses the question of “quality,” often considered to be obsolete in times of postcolonial and feminist criticism, and, second, it provides a brief description of the different levels of aesthetic judgement. Third, it outlines the connection between different standards of quality and musical analysis since the nineteenth century. Fourth, an examination of quality judgements about works by female composers highlights the standards applied. The concluding perspective on the twentieth and twenty-first centuries points to a variety of possible criteria which, according to the author’s hypothesis, can already be assumed for the (more remote) past. While “value judgement” basically implies a more or less positive or negative distinction of a certain phenomenon, “quality” might also designate the sum of specific characteristics of an object, regardless of its value. The article pleads for a considered reintroduction of a subjective perspective (including value judgement) into analysis and music historiography, especially where gender issues are concerned – in full awareness that there is no absolute value standard in art, that music cannot be weighed “like sugar and butter,” to quote Virginia Woolf.

Schlagworte/Keywords: aesthetic judgement; ästhetisches Urteil; Carl Dahlhaus; Gender; Immanuel Kant; Qualitätsmaßstäbe; quality standards; value judgement; Werturteil

1. Qualitätsfragen

2014 kommt Adam Szymczyk, damals designierter künstlerischer Leiter der documenta 14 (2017, Kassel und Athen) und Direktor der Kunsthalle Basel, in einem Gespräch auf den Begriff ›Qualität‹ zu sprechen: Qualität in der Kunst (hier verstanden im wertenden Sinne) sei für ihn »eine leere Kategorie«, die unterstelle, es gebe in ihr als sicher und feststehend bezeugte, messbare, gewissermaßen objektive Werte; tatsächlich sei Qualität aber »immer die Qualität von jemand anderem«.[1] Wo demnach von ihr die Rede ist, werden, dieser Argumentation zufolge, Maßstäbe angelegt, die dem jeweiligen Kunstwerk äußerlich sind; entsprechend, so die Botschaft, solle man es unterlassen, die Kunst damit zu traktieren. Szymczyks Einstellung wird dann verständlich, wenn man den Anspruch der vergangenen documenta Revue passieren lässt: Dem über Jahrzehnte hinweg selbstverständlichen Euro- bzw. Anglozentrismus im Kunstbetrieb sollte, so die Intention, ein expliziter Gegenentwurf antworten, der Blick radikal dezentriert werden; es galt, außereuropäischen Perspektiven, generell: dem vermeintlich randständigen, nicht-hegemonialen Blickwinkel, Raum zu gewähren. Dieser bereits seit der documenta 10 (1997) vertretene Anspruch wurde 2017 in Kassel und – programmatisch – Athen noch einmal forciert. Die documenta 14 definierte Szymczyk in diesem Sinne als Gesamtheit »jene[r] Handlungen, die von allen und jedem als diverses, sich stets wandelndes, transnationales und antiidentitäres Parlament der Körper realisiert werden können«:[2] »Indem wir indigene Wissenspraktiken und -techniken aus der ganzen Welt via Athen nach Kassel und andere Orte tragen, versuchen wir genau diese weiße Vorherrschaft beanspruchende, männliche, nationalistische, kolonialistische Existenz- und Denkweise zu hinterfragen, die weiterhin die Weltordnung konstruiert und dominiert.«[3]

Dass der Kurator sich seinerseits nicht frei machen kann vom Kriterium der – wie auch immer zu definierenden – Qualität, steht außer Frage und dürfte ihm bewusst sein. Schließlich muss auch er, und sei es durch (von ihm ausgewählte) Mittelsleute, eine begründete Auswahl aus dem riesigen Angebot treffen, das die Gegenwartskunst bereithält; die Museen und Ausstellungshallen bieten keinen unbegrenzten Platz. Mit seiner Äußerung, Qualität sei nichts als eine »leere Kategorie«, gibt er also – die Einsicht in jene Notwendigkeiten vorausgesetzt – zu verstehen, dass er nicht willens ist, sein Verständnis von Qualität, die eigenen Präferenzen und Maßstäbe, offenzulegen bzw. dass er diese mit Blick auf das zu errichtende »Parlament der Körper« letztlich für irrelevant hält. Mit anderen Worten: Selbst das reflektierte Aufdecken der Qualitätsmaßstäbe des (westlich-mitteleuropäisch geprägten, männlichen) Kurators käme in gewisser Hinsicht einer erneuten Affirmation der hegemonialen Perspektive gleich. Man kann ein solches Vorgehen, sich als mit Macht und Einfluss ausgestatteter Entscheidungsträger hinter seinen Entscheidungen bewusst zu verbergen, wahlweise als zeitgemäß und klug würdigen (zumal auf der documenta 14 – anders als Gottfried Willems dies 2001 ›kanonkritischen‹ Ansätzen vorwarf – bemerkenswerterweise keinerlei »Einebnung aller Differenz«[4] stattfand) oder aber als inkonsequent verurteilen.

Spätestens in den späten 1980er Jahren, als sich feministische und postkoloniale Perspektiven in der (zunächst anglo-amerikanischen) Musikforschung etablierten, ist der Begriff der ›Qualität‹ vielerorts zu einem Reizwort geworden – mit der Folge, dass die Frage nach ihr im Diskurs zwar explizit zumeist keine Rolle mehr spielt, sie implizit aber weiterhin herumgeistert, etwa bei der Auswahl von Forschungsgegenständen, Lehrinhalten oder Personeneinträgen in Lexika. Der heute verbreitete Unmut darüber, dass beispielsweise in musikgeschichtlichen Überblicksdarstellungen regelmäßig kaum Frauen vorkommen, rekurriert in der Regel nicht direkt auf Qualitätsfragen bzw. setzt Qualität unhinterfragt voraus. So folgt die gängige Kanonkritik entweder der Strategie Szymczyks, indem sie Qualität zum inhaltslosen Begriff erklärt, damit vermeintlich vorbehaltlos dem ›Anderen‹ Raum gibt und gegebenenfalls zugleich die (politischen, ideologischen) Mechanismen offenlegt, die zur Kanonisierung bestimmter Inhalte führen; oder aber sie setzt gleichsam zum Gegenangriff an, indem sie die Kategorie der Qualität auf vernachlässigte oder vergessene Werke anwendet. (Manchmal geht beides miteinander einher.) Die vielzitierte Rede vom ›zu Unrecht Vergessenen‹ sucht in diesem Sinne den Anschluss an die Meistererzählung herzustellen, welche die zuerst genannte Perspektive gerade für null und nichtig erklärt. Ein Beispiel hierfür ist die Sammlung von insgesamt acht musikalischen Analysen verschiedener Autor*innen, die Laurel Parsons und Brenda Ravenscroft 2016 vorlegten – die hohe Qualität der besprochenen Werke wird, ähnlich wie 2004 in dem von Hans-Joachim Hinrichsen und Laurenz Lütteken herausgegebenen Band Meisterwerke neu gehört. Ein kleiner Kanon der Musik. 14 Werkporträts (der allerdings ausschließlich Musik von männlichen Komponisten berücksichtigt), vorausgesetzt bzw. durch die Analysen nachgewiesen und bestätigt. So heißt es bei Parsons und Ravenscroft in der Einleitung, dass das vorliegende Buch das Werk von acht herausragenden Komponistinnen durch musikalische Analyse »feiere«: »The compelling nature of the music, both aurally and intellectually, has been the primary motivation in the analysts’ selection of these particular compositions.«[5] (Über die Qualitätskriterien wird an dieser Stelle nicht reflektiert.)[6] Jenes Dilemma – zwischen begründeter Skepsis gegenüber überkommenen Qualitätsmaßstäben einerseits und dem Impuls, einen Gegenkanon auf Grundlage von positiven Werturteilen zu errichten, andererseits – wurde seitens der musikwissenschaftlichen Genderforschung bereits verschiedentlich thematisiert.[7]

Musikwissenschaft als historische Wissenschaft, die es – wie auch die Musiktheorie – zugleich mit ästhetischen Phänomenen zu tun hat, muss den Spagat bewerkstelligen, sowohl potentiell kanonkritisch, d. h. historisch, als auch ästhetisch – und das heißt unter Umständen auch ›kanonfreundlich‹ – zu argumentieren.[8] Aus historischer Perspektive sind ästhetische Werturteile »Gegenstand der Musikwissenschaft«,[9] aus ästhetischer Perspektive hingegen ist es Aufgabe der Musikforschung, auch ästhetische Werturteile zu fällen.[10] Beides erfordert jeweils sowohl eine Ausklammerung als auch die reflektierte Wiedereinführung der eigenen Subjektivität. Mit Blick auf die historische Perspektive bedeutet dies: Selbstverständlich erweist sich die Ergiebigkeit eines Forschungsthemas nicht (nur) am vermeintlichen ästhetischen Wert seines Gegenstands, selbstverständlich sind Diskurse historisch zu analysieren, die Machtinteressen und Ausschlussmechanismen, die es zu einem bestimmten Kanon (bzw. zu bestimmten Kanones) haben kommen lassen, gilt es offenzulegen.[11] Gleichzeitig aber ist explizit zu machen, von welcher Position, welcher Tradition aus jeweils geforscht und argumentiert wird, mit welchen Prägungen, Präferenzen und Abneigungen, die ihrerseits unweigerlich Maßstäbe setzen.[12] Sofern, wie im Falle der documenta 14, aber auch im Rahmen dezidiert feministischer Ansätze, (auch) eine im weitesten Sinne politische Agenda verfolgt wird, spricht nichts dagegen, diese offenzulegen.

Während Ersteres, die historische Analyse, die weitestmögliche Ausklammerung der eigenen Subjektivität bei gleichzeitiger Offenlegung derselben verlangt, erfordert Letzteres, die Analyse des ästhetischen Phänomens, das Argumentieren aus einer subjektiven Position heraus, ohne dabei die Historizität des ästhetischen Gegenstandes zu verleugnen. Dahlhaus spricht in diesem Sinne von der »Anstrengung, zwischen dem ästhetischen Gegenstand und dem, was das Subjekt von sich aus mitbringt, zu vermitteln«.[13] Diese Forderung – für den einflussreichen Musikwissenschaftler bekanntlich der eigentliche Kernbereich der Historischen Musikwissenschaft, die es ihm zufolge wesentlich mit »Werken« zu tun habe, nicht aber mit Ereignissen oder Kontexten[14] – basiert auf der Annahme, dass von der »Entstehungszeit der Werke« im Rahmen eines ästhetischen Urteils niemals »abstrahiert« werden könne: »Musikalische Kritik, der es nicht genügt, das ›Ah und Oh des Gemüts‹, wie Hegel es nannte, zu paraphrasieren, kann auf Kategorien wie Neu und Epigonal, deren historische Implikationen unverkennbar sind, nicht verzichten, ohne sich selbst preiszugeben oder zur Schrumpfung zu verurteilen.«[15] Ein ästhetisches Gebilde muss demnach – auch – im Kontext der Wertvorstellungen und -maßstäbe seiner Entstehungszeit situiert werden, alles andere würde ihm nicht gerecht. Selbstverständlich wird es spätestens in dem Moment komplex, in dem die Entstehungszeit gleichsam mit der Lupe fokussiert wird: Denn wer setzt in einer historischen Situation die Maßstäbe, wer stellt die Kriterien der Beurteilung auf? Gibt es nicht – abgesehen vom rein Handwerklichen – auch innerhalb einer bestimmten, vermeintlich homogenen Kultur immer schon unterschiedliche, ja, sich ausschließende ästhetische Normen, etwa mit Blick auf unterschiedliche Milieus, Nationalitäten, Geschlechter? Auf das Thema der vorliegenden Ausgabe fokussiert: Inwieweit sehen sich künstlerisch tätige Frauen mit anderen Maßstäben konfrontiert als mit denjenigen, die männliche Künstler als selbstverständlich voraussetzen?

Die Qualitätsfrage im Sinne eines Werturteils kann demnach immer nur einen – in sich unabgeschlossenen – Suchprozess in Gang setzen: Es kann nicht darum gehen, einen neuen Kanon von ›Meisterwerken‹ zu ›propagieren‹, sondern darum, sich zum ästhetischen Phänomen sinnlich und begrifflich in Beziehung zu setzen; jedes Ergebnis ist vorläufig, der Prozess ist, mit Annegret Huber zu sprechen, »spiralig«.[16] Anders als Dahlhaus postulierte, lässt sich aus dem Zusammenspiel von historischer Situierung und subjektiver Durchdringung des ästhetischen Phänomens kein – und sei es noch so differenziertes – feststehendes Werturteil ableiten, da sich auf historischer Ebene niemals ein einheitlicher und zugleich ›wahrer‹ ästhetischer ›Zeitgeist‹ ausmachen lässt. Welcher historisch-ästhetische Maßstab für das (dann vorläufige) Werturteil gewählt wird, ist demnach genau zu begründen; was grundsätzlich bleibt, ist ein Rest an Zweifel. In ihrem gesamten Ausmaß verdankt sich diese Erkenntnis nicht zuletzt den Geschichts- und Kulturwissenschaften der vergangenen etwa 30 Jahre. Daraus jedoch abzuleiten, die Frage nach der Qualität gar nicht erst zu stellen, ist aus den oben dargelegten Gründen keine Option; ohne den subjektiven Faktor fehlt auch die Kunst. Was also tun?

2. Qualitätsdimensionen

Hilfreich ist es zunächst, die verschiedenen Ebenen eines (wertenden) Qualitätsurteils herauszuarbeiten; die entsprechenden Schichten finden sich jeweils auch gleichsam als historische Ablagerung. Tatsächlich trägt jede und jeder von uns einen inneren Qualitäts-Kompass mit sich herum, ob wir wollen oder nicht: Wir werten und bewerten immer, ob wir im Konzert sitzen, eine Ausstellung betrachten, eine musikwissenschaftliche Lehrveranstaltung planen oder uns mit Freunden über das jüngst gelesene Buch unterhalten. Eine zentrale Frage ist dabei: Wird angesichts eines ästhetischen Phänomens mittel- oder unmittelbar die Lebensqualität (einer Gruppe oder eines Individuums, in ethisch-moralischer, wissenschaftlich-erkenntnistheoretischer oder ästhetischer Hinsicht, auf physiologischer Ebene usw.) gesteigert, erscheint die Welt mithin – und sei es durch eine niederschmetternde, aber notwendige Erkenntnis – reicher als zuvor? Wird ein ›sinnlicher Reflexionsprozess‹ in Gang gesetzt, der dazu motiviert, ein Phänomen (und sei es in der Vorstellung) immer und immer wieder aufzusuchen?

Die Begründung des entsprechenden Urteils ist immer eine Herausforderung, denn zunächst muss Klarheit über die eigenen Kriterien und Maßstäbe sowie die Ebene, auf der argumentiert werden soll, gewonnen werden. Immanuel Kant zufolge, der den Zusammenhang in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) ausführlich darlegte, handelt es sich beim Angenehmen – im Gegensatz zum Schönen – um die niedrigste Form des ästhetischen Urteils.[17] Es beruht auf bloßer Sinnlichkeit (und damit Körperlichkeit), zielt auf subjektiven Genuss durch Reiz und Rührung ab und geht in der Regel von inhaltlichen sowie materiellen Eigenschaften des Objekts aus, an dessen Existenz zudem ein dezidiertes Interesse besteht. Einem solchen Urteil geht es nicht um Eigenschaften des Objekts, sondern um die bloße Beförderung eigenen Wohlbefindens. Im dualistischen Kategoriensystem, für das die Körper-Geist-Dichotomie zentral ist, ist das Angenehme im Gegensatz zum Schönen letztlich weiblich konnotiert. Was um 1790 unausgesprochen bleibt, findet sich beim ›vorkritischen‹ Kant explizit: In seiner Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) formuliert er das hier erörterte Gegensatzpaar (schön versus erhaben) ausführlich entlang des Geschlechtergegensatzes.[18] Während das Schöne hier noch analog zum später als angenehm Bezeichneten konzipiert ist und damit der weiblichen Sphäre zugezählt wird, ist das Erhabene (analog zum späteren Schönen) männlich. Der Philosoph schließt somit in seinem dritten kritischen Hauptwerk das ›bloß Körperliche‹ aus der Sphäre des Schönen, die im Deutschen Idealismus wenig später als jene der Kunst gilt, aus.[19]

Kant verfasste seine Kritik der Urteilskraft just in der Zeit, in der sich eine bürgerliche Öffentlichkeit formierte, die sich gegen die Aristokratie abgrenzte – und dazu gehörte es auch, in Geschmacksfragen ›vernünftig‹ zu argumentieren. Von nun an hatte, dem aufklärerischen Ethos gemäß, jeder Mensch qua Erkenntnisvermögen und Bildung die Chance, an der ästhetischen Sphäre des Schönen und des Geschmacks teilzuhaben. Bedingung dafür ist die Autonomie des Ästhetischen – das Geschmacksurteil kann, im Sinne Kants, nur autonom sein, wenn moralische, politische oder wissenschaftliche Interessen außen vor bleiben. (Dass die Konzeption eines derartigen ›Geschmacksurteils‹ ihrerseits zutiefst politisch motiviert war und entsprechende Folgen hatte, steht auf einem anderen Blatt.) Dieser Gedanke ist entscheidend für das Kunstverständnis des 19. und 20. Jahrhunderts, teilweise bis heute.

Gleichzeitig ist damit die Kunst-Nichtkunst-Dichotomie gesetzt.[20] Maßstab jeglichen Werturteils ist von nun an das, was – mit Kant gesprochen – »ohne Reiz und Rührung« allgemein gefällt, an dem man also ein »interesseloses Wohlgefallen« hat, was Verstand und Einbildungskraft in ein harmonisches, anregendes Spiel als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« versetzt und ein »reines Geschmacksurteil« über die Beschaffenheit eines Objekts ermöglicht.[21] Nicht der Inhalt oder materielle Eigenschaften eines Phänomens sind hier der zentrale Auslöser, sondern die Form. Ein Subjekt, das ein entsprechendes Urteil fällt, bleibt – ganz im Sinne des aufklärerischen Ideals – autonom von äußeren Zwecken oder inneren Begierden. Damit ist, in der Nachfolge Kants, die Sphäre der Kunst, jene des Schönen und Erhabenen, als vorwiegend geistige definiert, Sinnlichkeit und Gefühl hingegen sind peripher; noch ein halbes Jahrhundert später (1854) spricht Eduard Hanslick von der »verrotteten Gefühlsästhetik«,[22] von der es die Musik – ein »Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material«,[23] »tönend bewegte Formen«[24] – freizuhalten gelte. Die Polemik ist umso stärker, als Musik im Gegensatz zu den anderen Künsten seit jeher verdächtig war, vorwiegend die Sinne anzusprechen, d. h. als nicht kunst- und philosophiefähig galt.

Auch wenn jene diskursive Ebene von der empirischen strikt zu trennen ist, mithin jenes – in Abwandlung der zitierten Aussage Szymczyks formuliert – »Parlament der Geister« zunächst einmal jedem Subjekt offensteht, so sind bestimmte Sphären doch per se suspekter als andere. Dazu gehört nicht zuletzt jene des ›Weiblichen‹ (wahlweise auch des ›Französischen‹, ›Italienischen‹ oder, wie bei Hanslick, des ›Wilden‹[25]), das im dualistischen Kategoriensystem dem Körperlichen seit jeher nahesteht.[26] Dass Frauen tendenziell das für Kunst und Kunstkritik notwendige, unbefangene Urteil abgesprochen wird – mögen die Gründe im Rückenmark, in der Gebärmutter oder im Gehirn verortet werden[27] –, ist in zeitgenössischen Abhandlungen des 18. und 19. Jahrhunderts gängiger Topos und hat notwendig praktische Auswirkungen auf die Sphäre der Kunst. Gleiches gilt für den im späten 18. Jahrhundert aufkommenden, nicht zuletzt wiederum durch Kant forcierten Genie-Gedanken, der, wie mittlerweile auch in der Musikwissenschaft ausführlich diskutiert wurde,[28] gleichfalls – häufig explizit – männlich konnotiert ist und damit ausschließend wirkt.

Etwas wird auf elementarer Ebene gemocht, aber nicht geschätzt – mit der im Zuge der Aufklärung beginnenden Industrialisierung war dies ein in bildungsbürgerlichen Kreisen verbreiteter Rezeptionsmodus, etwa angesichts gut verkäuflicher Salonmusik, Trivialliteratur oder Operetten. Das im engeren Sinne ästhetische Urteil fällt dabei negativ aus. Im Begriff ›Kitsch‹ – ebenfalls geschlechtlich codiert[29] – wirkt die Abwertung des Sinnlichen bis heute nach. Dass das eigene Urteil in dem Augenblick, in dem es gefällt wird, als auf elementaren, als ›primitiv‹ empfundenen Reflexen basierend entlarvt wird, ist eine alltägliche Erfahrung: Die ebenso reflexhafte Distanzierung vom eigenen sinnlichen Wohlgefallen zeigt an, dass die Wirkung, die von einem ästhetischen Phänomen ausgeht, und die Wertschätzung desselben sich widersprechen. Offenbar hat man es mit ›Kitsch‹ zu tun, der nicht zufällig mit der beginnenden künstlerischen Moderne, um 1870, erstmals als solcher klassifiziert wurde.[30] Es handelt sich mithin um ein – so der stehende englische Ausdruck – guilty pleasure, das sich erst dann in reine, gleichsam innocent pleasure verwandeln lässt, wenn entweder der Anspruch des Künstlerischen als des per se Reflektierten, dem Geist Zugehörigen fallengelassen wird oder aber das eigene Wohlbehagen zum – reflektierten, gleichsam ironischen – ›Vergnügen zweiter Stufe‹ deklariert wird. Beide Auswege waren erst ab dem späteren 20. Jahrhundert, im Zeitalter der Postmoderne, gangbar, ohne sich aus dem entsprechenden (Kunst-)Diskurs hinauszukatapultieren. Ein dritter Ausweg wäre die (auch bei Schlagern häufig mögliche) Begründung des unmittelbaren Wohlgefallens am ästhetischen Objekt, bestenfalls durch »Entdeckung dessen, was dem Gefühlsurteil, wenn auch unausgesprochen, immer schon zugrunde lag […].«[31] Die entsprechenden Maßstäbe – etwa: Komplexität, Beziehungsreichtum, Vielschichtigkeit, Ambiguität – stammen aus dem Fundus des 19. und 20. Jahrhunderts und befördern das vermeintlich bloß ›Angenehme‹ in glücklichen Momenten zum ›Schönen‹. (Nicht zuletzt hierin dürfte der Reiz etwa von Schubert-Liedern begründet sein.)

Umgekehrt, im genauen Gegensatz zur guilty pleasure, lässt sich das Phänomen jener Kunstwerke beobachten, die zwar aus verschiedenen Gründen »geachtet«, letztlich aber – wie es Anne Shreffler mit Blick auf Kompositionen insbesondere der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts beschreibt – »nicht gemocht werden«.[32] Jene Musik taucht zwar immer wieder in Musikgeschichtsdarstellungen oder Seminaren auf, aber nur selten im Konzertsaal oder Radioprogramm: Sie wird allgemein als wichtig, relevant, bewahrenswert und wertvoll anerkannt, aber nicht als (sinnliches) Vergnügen wahrgenommen, für das man seine Lebenszeit opfern würde. Die Achtung vor dem ästhetischen Objekt kann wiederum, schematisch gesprochen, zwei Ursachen haben: die Annahme eines hohen ästhetischen Wertes aufgrund von Kriterien wie (handwerkliche) Meisterschaft, Authentizität oder Originalität, oder aber die Unterstellung historischer Relevanz. Etwas steht für etwas exemplarisch Neues, ja, begründet möglicherweise gar eine künstlerische Tradition, muss dabei aber nicht zwingend als Kunstwerk überzeugen. Beispiele hierfür wären etwa Beethovens Neunte Sinfonie in den Augen Richard Wagners, oder Olivier Messiaens vielzitiertes, historisch wegweisendes, aber selten gespieltes Klavierstück Mode de valeurs et d’intensités (1949). (Dass ein musikhistorisch für relevant befundenes ›Werk‹ jahrzehntelang zwar nicht aus dem Diskurs, aber aus der Praxis verschwand, um in jüngerer Zeit auf dieser Ebene eine späte Rehabilitation zu erfahren, beweisen die unzähligen Einspielungen von John Cages 4'33'' [1952] auf YouTube. Die Komposition musste erst noch ihr Medium finden.)

Ein Aspekt wurde bislang vernachlässigt: Werturteile haben es zwar mit einem bestimmten (ästhetischen) Objekt zu tun, doch ist der Blick hierbei immer zugleich auch, ob bewusst oder unbewusst, auf das soziale Umfeld gerichtet und von ihm geprägt. Kein ästhetisches Urteil ist, wie insbesondere Pierre Bourdieu im kritischen Bezug auf Kant ausführlich analysierte,[33] frei von gesellschaftlichen Kontexten. Demnach basiert die Berufung auf das vermeintlich rein Ästhetische letztlich auf sozialen und kulturellen Zugehörigkeiten – das pure Gefallen an etwas ist vorgeschoben: So trägt der (vermeintlich) individuelle Geschmack maßgeblich dazu bei, sich in einem bestimmten gesellschaftlichen Milieu zu verorten. Erst kommt die Milieuzugehörigkeit, dann der Geschmack. Dass letzterer entsprechend eine sehr ›eitle‹, auf die Anerkennung der Mitmenschen bauende Instanz sei, lässt der Wiener Philosoph Robert Pfaller einen Protagonisten seines Buches Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere (2012) behaupten. Demzufolge wolle der Geschmack von anderen bewundert werden, ja, der eigentliche Antrieb, an etwas Gefallen zu finden, sei, von der richtigen Peergroup gemocht zu werden, von den Personen, die man ursprünglich selbst begehrt: »Nur wenn ein Geschmack beim Gefallen an Objekten sich selbst gefällt (weil er sich vorstellt, dabei anderen, begehrten Geschmäcke[r]n zu gefallen), können ihm überhaupt Objekte gefallen. Sein Selbstgefallen ist eine Bedingung seines Objektgefallens.«[34]

3. Qualitätsmaßstäbe

Jede Zeit, jede Kultur hat ihre spezifischen Maßstäbe und Kriterien, mithilfe derer sie den Wert von Kunst bemisst – als wertvoll ›gesetzte‹ Instanzen setzen die Norm. Im 18. Jahrhundert war dies beispielsweise, in Abgrenzung zur aristokratischen Gekünsteltheit, die ›Natur‹. Mit Aufklärung, Industrialisierung und Geniebegriff kamen Originalität und Neuheit hinzu, sowie das für das gesamte 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) zentrale Kriterium des ›Organischen‹: Aus letzterem lassen sich zahlreiche weitere Merkmale ableiten, die ein Kunstwerk zum ästhetisch Hochstehenden, gleichsam zur zweiten Natur machen. Das Genie schafft, gottgleich, quasi-lebendige Geschöpfe, die ihre Existenz aus eigener Kraft sichern, die atmen, wachsen, gedeihen, möglicherweise gar aus einem Keim heraus, und verbirgt zugleich die ›Spuren des Herstellens‹.[35] Je höher ein organisches Gebilde, desto komplexer das Zusammenspiel seiner Einzelteile – hieraus ergeben sich Kriterien wie Beziehungsreichtum, Komplexität, Differenzierung und Mehrdeutigkeit, aber auch Symmetrie. Die entsprechenden analytischen Exempel wurden u. a. an Beethovens Sinfonien statuiert; das ›Beethoven-Paradigma‹[36] steht exemplarisch für ein umfassendes, nicht zuletzt auch moralisches Wertesystem, an dem die Analysepraktiken von Musikwissenschaft und Musiktheorie teilhaben. Ausgeschlossen wird dabei das Nicht-Organische: Was einer bloßen ›Mechanik‹ zu entspringen scheint, aber auch: was zu eindeutig der Reflexion, dem bloßen Gedanken, entspringt, was mühsam hergestellt erscheint und nicht aus dem Vollen naturhaft-organischer Kraft schöpft, ist dem Verdacht ausgesetzt, ästhetisch minderwertig zu sein. Aus dieser Perspektive haben es nicht nur jene Stücke schwer, die der (›mechanischen‹) Virtuosität huldigen, sondern auch Programmsinfonien. Aus Kants »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, für das Schöne grundlegend, ergibt sich zudem, dass ›Autonomie‹ – analog zum autonomen, nicht fremdbestimmten Ideal-Subjekt – ein entscheidender Wert ist: Wo immer es um fremde Zwecke, um das bloße Geschäft zu gehen scheint, schwebt der Vorwurf im Raum, nicht-kunstimmanenten Kriterien zu huldigen.

Diese seit etwa 1800 gesetzten Maßstäbe wirkten lange, teilweise bis heute nach. Hiervon zeugen insbesondere die Analysen Dahlhaus’, dessen Urteile, und seien sie noch so differenziert, aus heutiger Perspektive häufig schroff anmuten (auch dort, wo sie einem Komponisten – wie Franz Liszt – erstmals die Aufmerksamkeit der Musikwissenschaft einbrachten). So sei etwa Liszts Sinfonische Dichtung Prometheus »als ästhetisches Gebilde, das sich an ein Konzertpublikum wendet, […] tot und abgetan«[37] und gehöre mithin zum »Schutt der Überlieferung«,[38] da in ihm (avancierte, durchdachte) »Struktur« und (altertümliches) »Material nicht zusammenstimmen«. Die Fassade des Werks, so Dahlhaus, ist »schwer erträglich«.[39] Damit passt es weder in eine klassizistische Ästhetik noch in eine moderne »Antiästhetik«,[40] es gibt für seine Rezeption weder Modus noch Ort. Gleichwohl könne man es »zu den bedeutendsten Dokumenten der Kompositionsgeschichte des 19. Jahrhunderts zählen.«[41] Bemerkenswert ist, dass Dahlhaus jenseits von Klassizismus und Moderne keinerlei ›utopische‹ Perspektive aufzeigt; zu sehr ist er in beiden Traditionen befangen.

Ähnliches gilt für seinen ›Nachweis‹, dass es sich bei Charles Gounods berühmter Méditation bzw. dem Ave Maria, aber auch beim Andante von Pëtr Il’ič Čajkovskijs Sinfonie Nr. 5 um Kitsch handelt: Bei ersterem weist er – so »makellos«[42] die bekannte und beliebte Melodie sei – im Zusammenspiel mit Bachs Präludium satztechnische »Brüche und Unstimmigkeiten« nach, einige kompositorische Entscheidungen seien »nicht funktional begründet, sondern erwachsen aus der Suche nach dem Effekt«, es handele sich mithin um eine »ästhetisch […] leere Geste«.[43] Unausgesprochen vorausgesetzt wird, dass sich Gounods Komposition anhand der angelegten Maßstäbe überhaupt abschließend beurteilen lässt. Bei Čajkovskij hingegen wird die »Aufdringlichkeit des Selbstverständlichen« – hier etwa: das Zelebrieren der Auflösung des Dominantseptakkords in die Tonika durch »Vorhalte mit schweren Akzenten« – bemängelt. Die Rede ist außerdem von »Theaterpathos«, »[a]ufdringliche[m] Affekt«, »redseligen Tonwiederholungen« etc.[44]

Willkürlich scheint die Begründung des negativen Urteils auch im Fall von Thekla Bądarzewska-Baranowskas vielzitiertem Klavierstück La prière d’une vierge (1856): So suggerieren, Dahlhaus zufolge, die musikalischen »Requisiten« (u. a. Vorschläge, Arpeggi, Pausen, Sforzati) nur einen »Schein« von Bedeutung, »lassen aber die Dürftigkeit« der Komposition »nur um so peinlicher hervortreten. Indem das Simple sich maskiert und ebenso angestrengt wie vergeblich über sich hinausstrebt, verfällt es der Trivialität. Die pathetischen Akzente unterstreichen die Schäbigkeit, die sie verkleiden sollen.«[45] Wie bei Čajkovskij erblickt der Autor auch in diesem Fall den »triviale[n] Effekt« als »Parvenu unter den Kunstmitteln, daran kenntlich, daß er einem simplen Gebilde aufgeklebt ist, statt es zu durchdringen«.[46] Die Rede ist von Banalität. Zweifellos: Unter der Voraussetzung, dass ein ästhetisch gelungenes Gebilde nicht nur »Differenzierung, Originalität und Beziehungsreichtum«[47] aufweisen, sondern auch auf jeder Ebene ›vermittelt‹ sein soll, mithin keine Pause, kein Vorschlag ›zufällig‹ – nicht durch die Logik des Tonsatzes begründet – gesetzt sei,[48] versagt La prière d’une vierge als Komposition auf ganzer Linie. Doch wäre es nicht gerade bei einem Kassenschlager wie diesem viel ergiebiger, nach dessen Erfolgsrezept zu fragen, anstatt es an den Maßstäben einer Beethoven-Sinfonie zu messen? Dass Musikhören »nicht nur eine akustische, sondern immer auch zugleich eine taktile, kinetische und visuelle Erfahrung« ist, wie Peter Wicke ausführt,[49] lässt Dahlhaus völlig außer Acht; gerade bei diesem Beispiel aber wären Analysemethoden aus jenen sozialen und anthropologischen Voraussetzungen zu generieren, die der Autor jedoch, im Gefolge Kants, nicht einmal mit spitzen Fingern anfasst.

4. Qualitäten

Wie jedes ästhetische Urteil ist auch das Verdikt Dahlhaus’ und anderer gegenüber La prière d’une vierge nicht zuletzt moralisch motiviert. Allzu deutlich klingt hier die Zweideutigkeit des ›Gebets‹ an – im Musikalischen Conversations-Lexikon von Hermann Mendel ist entsprechend von einer »sogenannte[n] [!] ›Prière de la vierge‹«[50] die Rede: Was hier angesprochen wird, ist, wie Wicke ausführlich analysiert, der (hier: männlich-heterosexuelle) Trieb, der sich jedoch zugleich ›erwischt‹ fühlt. Bei diesem Stück handele es sich um

eine Symbiose aus Klang und Körper, im Wortsinn ›verkörperter Klang‹, der die geheimsten Begierden des männlichen Blicks wie in einem imaginären Spiegel in symbolischer Form reflektiert. Das hat sowohl etwas Demaskierendes, denn der Urheber dieses Blicks muss sich […] ertappt vorkommen, wie es andererseits […] ein ganz lustvolles Spiel sein kann, einen Körper Klang werden zu lassen, den man möglicherweise […] selbst gar nicht besitzt. […] Hier kodiert Klang nicht Sinn, sondern er ist das Medium, in dem sich die Gestik der Körperpräsentation entfalten kann.[51]

Der »Skandal« beruhe also nicht primär auf dem unverdienten Erfolg schlechter Musik, sondern darauf, dass – zudem von einer jungen Frau[52] – etwas ins Rampenlicht geholt wird, was der bürgerliche Anstand lieber im Verborgenen gehalten hätte. In Klänge gefasst werden hier demnach – wie auch etwa im Fall von Gitarrenrock,[53] Techno oder Spielarten von Kammermusik – nicht motivisch-thematische Strukturen, sondern Choreographien von Körpern.

Damit soll nicht einmal annähernd behauptet werden, dass Kompositionen von Frauen grundsätzlich hinsichtlich ihrer Körperlichkeit, nicht aber hinsichtlich ihrer Strukturqualitäten zu analysieren wären, sondern lediglich der Blick dafür geschärft werden, dass in jedem Einzelfall genau überlegt werden muss, welches Kategoriensystem bei der Beschreibung und Analyse eines ästhetischen Phänomens zum Einsatz kommt, welche Faktoren in einem gegebenen historischen und sozialen Kontext überhaupt relevant sind. Größte Aufmerksamkeit ist dabei gegenüber den eigenen, meist unreflektierten Vorannahmen angebracht: Wie stark der Genie-Diskurs des 19. Jahrhunderts auch heute noch nachwirkt, zeigt u. a. ein Blick in populärwissenschaftliche Portraits von Komponistinnen und Komponisten der letzten Jahre. Die Charakterisierung von Werk und Wirken vollzieht sich hier häufig implizit entlang des üblichen Geschlechterdualismus: Während sein Geist dem Schicksal etwas abringt, bringt sie es mit Fleiß zu etwas; während er einsam und aus innerer Notwendigkeit heraus schafft, ist ihr Komponieren Zeitvertreib und nicht selten pädagogisch oder religiös motiviert.[54] Entscheidend ist, bei welchem Geschlecht welcher Schwerpunkt gelegt wird, was jeweils der Erwähnung wert erscheint.

Derartige Diskurse, die maximale Autonomie nur der einen Seite zugestehen,[55] prägen den Rahmen und liefern die Kriterien, unter denen Werke analysiert, kritisiert und bewertet werden – vertrackterweise tragen sie, insbesondere im 19. und frühen 20. Jahrhundert, auch massiv zur Selbstverortung und -beschreibung von Komponistinnen bei. Wenn also beispielsweise Fanny Hensel in einem Brief an ihren Bruder davon spricht, dass, in Ermangelung eines »gewisse[n] Lebensprinzip[s]«, ihre »längeren Sachen« – gemeint sind Kompositionen – »in ihrer Jugend an Altersschwäche« stürben,[56] so ist diese Stellungnahme nicht nur umfassend zu kontextualisieren, sondern außerdem darf sie bei einer musikalischen Analyse ihrer Werke als Vorannahme keine Rolle spielen; sie ist, wie jede Äußerung von Komponistinnen und Komponisten, Teil des zu Analysierenden. Hingegen wäre eine mögliche Herangehensweise, um die spezifische – im neutralen Sinne – ›Qualität‹ von Fanny Hensels Kompositionen zu erfassen, beispielsweise die Annahme, dass es sich bei diesen grundsätzlich um kommunikative Akte handelt:[57] Mit einem – im Sinne des Klassizismus’ – abgeschlossenen musikalischen ›Organismus‹ hat dies wenig zu tun, der Blickwinkel der Analyse, die Fragen, die gestellt werden, wären entsprechend andere. Nicht zuletzt für die musikalische Interpretation hat dies Folgen.

In ähnlichem Sinne ist Clara Wiecks vielzitierter (und in Abwandlungen immer wieder getätigter) Seufzer, 1840 an den Verlobten Robert Schumann formuliert, dass sie des Komponierens nicht mächtig sei,[58] Teil eines umfassenden Diskurses, als dessen ›Agentin‹ sie hier – auch – spricht. Dass Frauen ›geistvoll‹ komponieren, ist im bürgerlichen Horizont der Zeit schlichtweg nicht vorgesehen; sich von entsprechenden Vorurteilen, Erwartungen, Denkhorizonten zu emanzipieren, wie es sicherlich einigen wenigen Individuen gelang, erforderte ein Höchstmaß an Souveränität, das – und hier haben sich die Zeiten nicht geändert – nur wenigen Menschen zur Verfügung stand.[59] Eine in gewisser Hinsicht ideale Rezeptionsform von Clara Schumanns Werken ist die, welche sich der anonyme Rezensent der »Zwölf Gesänge aus Rückerts Liebesfrühling für Gesang und Pianoforte von Robert und Clara Schumann« 1842 in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung zu eigen machten konnte – wusste er doch nicht, welche Lieder von Robert und welche von Clara Schumann stammen. Zwei der drei von ihr komponierten Lieder werden, entgegen der Selbsteinschätzung der Komponistin, ausnahmslos positiv bewertet: Insbesondere »Liebst du um Schönheit« sei, wie es heißt, »so rein, so wahr empfunden, bei allem Eigenthümlichen so fliessend, so vollendet in seiner Form, dass wir es den bessern Liedern an die Seite setzen«.[60] In »Er ist gekommen in Sturm und Regen« hingegen sei die Begleitung »schwülstig und schwer«, was den geschilderten Gefühlen des weiblichen lyrischen Ichs nicht gerecht werde (»So möchte wohl keine Mädchenbrust in ihrer entzückenden Beklemmung klopfen«).[61] Da der dominierende deutsche Lied-Diskurs um 1840 Einfachheit und Schlichtheit zum Ideal deklarierte,[62] hatten es virtuose oder ›dramatische‹ Lieder wie letztgenanntes schwer, angemessen gewürdigt zu werden. Dabei hätte man an ihm rühmen können, wie sehr es der Komponistin hier gelingt, Virtuosität, Ausdruck und Liedhaftigkeit ›wie aus einem Guss‹ zu verschmelzen, ja, dass sie die Gattung Lied substantiell neu füllt und erweitert – ganz abgesehen davon, dass auch eine ›Mädchenbrust‹ mitunter etwas ›schwer‹ auf sich lasten zu fühlen vermag.

Immer wieder ist versucht worden, aus Werken von Frauen eine weibliche ›Kontrasterzählung‹ zur männlich geprägten Kompositionsgeschichte herauszupräparieren: So vermeint Marcia Citron in Cécile Chaminades Klaviersonate op. 21 (1895) einen alternativen Umgang mit dem Themendualismus zu entdecken, den Adolph Bernhard Marx bekanntlich u. a. als Gegensatz zwischen »männlichem« und »weiblichem« Thema beschrieb.[63] Das traditionell ›weibliche‹ Thema entziehe sich hier, so Citron, seiner vermeintlich angestammten Rolle, indem es letztlich keine feste Gestalt annehme; damit handele es sich um eine »resistance to the hierarchical relationship between masculine and feminine as articulated in the gendered codes of sonata form and even more in the ideologies they represent.« Festgestellt wird ein »refusal to play by the rules laid out in ideology«.[64] Diese Annahme ist jedoch aus mehreren Gründen fragwürdig: Nicht nur ist die Marx’sche Zuschreibung, worauf u. a. Scott Burnham hinwies,[65] bloß metaphorisch und dient der (ergänzenden) Veranschaulichung; auch ohne das ›Gendering‹ wäre die Argumentation verständlich, der Geschlechtergegensatz ist nicht das zentrale Moment. Hinzu kommt, dass Citron keinerlei Kontextualisierung vornimmt; man erfährt schlichtweg nichts über die Marx-Rezeption im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts – weder als Diskurs noch als individuelle Rezeption Chaminades, eventuelle zeitgenössische Stellungnahmen zum diskutierten Werk oder zu Marx’ Metaphorik werden nicht herangezogen. Denkbar ist somit, dass das (zumal: ›deutsch‹ geprägte) ›Sonatenschema‹ für die Sonate op. 21 nur am Rande eine Rolle spielt, um an ihm die eigene kompositorische Fantasie zu entzünden, dass es mithin – womit auch die Marx’sche Zuschreibung letztlich irrelevant würde – gar nicht ›Thema‹ der Komposition ist. Und wer garantiert, dass das Schema nicht individuell neu besetzt wird? Der möglichen Gegensätze, anhand derer ein eventueller Themenkontrast beschrieben werden kann, gibt es viele, wenn nicht unzählige.[66]

So wichtig die jeweilige kulturhistorische, sozialgeschichtliche und diskursive Situiertheit eines Komponisten oder einer Komponistin ist,[67] so zentral ist es, davon abzusehen, wo es darum geht, dass der menschliche Geist, fantasiebegabt, innerhalb ›seiner‹ Welt neue Welten zu entwerfen vermag, und damit – Robert Schumann machte es vor – in diverse Kostüme, hinter unterschiedlichste Masken zu schlüpfen vermag. Die Vergewaltigung, die Susan McClary im ersten Satz von Beethovens Neunter Sinfonie musikalisch geschildert sah,[68] darf – unabhängig davon, ob man die Argumentation für plausibel hält oder nicht[69] – keinesfalls an das biologische Geschlecht des Komponisten (oder, analog dazu, an eventuelle biographische Erfahrungen) geknüpft sein,[70] denn das hieße, dem Menschen Einfühlungskraft und Fantasie abzusprechen. Grundsätzlich muss es möglich sein, einen solchen Interpretationsansatz auch, beispielsweise, für die schroffen Klaviersonaten Galina Ustvol’skajas zu wählen. Dass, anders als es McClary mit ihrem forciert ›subjektiven‹ Ansatz praktizierte, bei derartigen Ansätzen ein Höchstmaß an hermeneutischer, diskursanalytischer, generell: historischer Energie, Fantasie und Sensibilität aufgewendet werden muss, ist selbstverständlich.

Es gibt nur wenige Bereiche, die auf einem geschlechter-exklusiven Erfahrungshorizont beruhen – dazu zählen Schwangerschaft, Geburt, sexuelles körperliches Erleben und Empfinden, das auf hormonellen Einflüssen beruht. Die Idee, einen ›doppelten Herzschlag‹ zu komponieren, der bei einer Schwangerschaft spürbar ist, ist möglicherweise für eine Frau – in diesem Falle Kaija Saariaho – naheliegender.[71] Aber dass Phänomene dieser Art grundsätzlich nur von Frauen komponiert werden können, ist unsinnig. Mitgefühl, Miterleben, Einfühlungskraft und Fantasie zeugen von einem zweifellos auch autonomen menschlichen Geist, und so sollte prinzipiell nicht nur in Kompositionen von Frauen neben abstrakten Ideen immer auch nach Spuren von Körper- und Geschlechtlichkeit gesucht werden – freilich »unter Einbeziehung der sie komponierenden oder analysierenden Individuen und den sozialen Kontexten, in denen Prozesse der Sinngebung und -stiftung stattfinden«.[72]

5. Qualitäten ohne Maßstab?

Mit Beginn der Moderne, insbesondere mit dem Konzept von ›Avantgarde‹ um 1900, forciert noch nach 1950, ist der organizistische Ansatz mit seinen entsprechenden Analysemethoden obsolet. Der entsprechende Kriterienkatalog – Beziehungsreichtum, Komplexität, universelle Vermittlung etc. – spielt nun nicht mehr die entscheidende Rolle (bzw. wird auf andere Ebenen übertragen); was von nun an zählt, ist hingegen vor allem Neuheit und Originalität, außerdem Authentizität (heute auch: Metaauthentizität)[73] und Wahrhaftigkeit. Auf ›Materialebene‹ allein ist derlei schwerlich erkennbar.[74] Gleichzeitig gilt die von Kant aufgestellte Hierarchie nach wie vor, wenn auch von nun an das ›Erhabene‹ – das durch den überwältigenden sinnlichen Eindruck per se, gleichsam im dialektischen Umschlag, auf Geist und Reflexion verweist[75] – eine Vorrangstellung vor dem ›Schönen‹ genießt. Nicht mehr das Gefühl der Lust, das Wohlgefallen, bildet die Grundlage, sondern der ständige Wechsel zwischen Lust und Unlust, der gleichsam zu einem ›Wohlgefallen zweiter Stufe‹ wird. Erneut – sogar forciert – wird damit eine Sphäre nobilitiert, die traditionell männlich konnotiert ist: Nach wie vor ist die zentrale Instanz das Genie mit seinen notwendigen Eigenschaften Kühnheit, Einsamkeit, Authentizität, Abenteuerlust und Risikobereitschaft, sowie der Tendenz zum Ikonoklasmus. Es ist bemerkenswert, dass Künstlerinnen erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen haben, sich Dispositionen dieser Art (bewusst oder unbewusst) zu eigen zu machen; zuvor war die Identifikation mit diesen offenbar keine Option, weder in Form von Selbst-, noch von Fremdzuschreibungen. Entsprechend spielen Frauen in gängigen Fortschrittsgeschichtserzählungen der Musik des 20. Jahrhunderts keine (oder nur eine marginale) Rolle: Die Erwähnung etwa von Lili Boulanger, Ethel Smyth oder Rebecca Clarke, ganz zu schweigen von Helen Buchholtz oder Lou Koster, erfolgt daher in der Regel (selbst im Falle von Boulanger, die, als jung verstorbene Rompreisträgerin, immerhin schon von ihren Zeitgenossen als Komponistin hochgeschätzt wurde), wenn überhaupt, als eine Art Appendix, von dem Impuls geleitet, der Vollständigkeit halber auch nach ›den Frauen‹ zu fragen.

Ein eigenes, als solches wahrgenommenes ästhetisches ›Markenzeichen‹ hingegen scheinen Komponistinnen – insbesondere auch in der Musikgeschichtsschreibung – dort auszuprägen, wo ihnen gleichsam von Staats wegen der Status als ›Komponist‹ zugeschrieben wird: Sowohl Sofija Gubajdulina als auch Ustvol’skaja, Erstere bereits zu Lebzeiten, sind mittlerweile feste Bestandteile des (westlichen) Kanons; ihre Werke werden sowohl analysiert als auch gespielt, dabei stehen sie für eine sehr spezifische kompositorische Qualität. Von Vorteil ist, dass sie sich für klassische Analysen in Nachfolge des ›Beethoven-Paradigmas‹ eignen, sich also – zumindest im Fall Gubajdulinas – keinen expliziten Avantgarde-Gestus auf die Fahnen geschrieben haben. Das Violinkonzert Offertorium (1980/82/86), als eine von insgesamt drei Kompositionen (»Meilensteinen«) von Frauen zu den 111 Werke[n], die man kennen sollte (2008) zählend,[76] bietet eine nahezu idealtypische, fast schon klassizistische Verschränkung von durchdachter Struktur und sinnlich ansprechender Außenseite. Dass beide, Gubajdulina wie Ustvol’skaja, in ihrer religiösen Intonation (und Intention) zugleich einem im Kontext der Sowjetunion subversiven Impuls folgen, bringt ihnen zudem einen Vertrauensvorschuss seitens ›westlicher‹ Historiker*innen ein.

Der Bereich, in denen Frauen tatsächlich als Wegbereiterinnen gelten können, – die Performance Art, experimentelle Musik im weitesten Sinne – wird hingegen häufig, wie etwa bei Ulrich Dibelius, in einen bloßen Seitenstrang der Musikgeschichte verbannt.[77] Zwar ist Meredith Monk, Diamanda Galas und Annea Lockwood Neuheit, Originalität und Entdeckerfreude nicht abzusprechen, allerdings handelt es sich bei der von ihnen besetzten Sphäre um einen – in der europäischen Tradition – untergeordneten Bereich, da hier Stimme und Körper zentral sind und sich zudem (wie auch in der Klangkunst) die Grenzen der ›autonomen‹ Musik aufzulösen drohen. Dort, wo die Sinnlichkeit gegenüber dem Strukturellen eine übergeordnete Rolle spielt, fehlen nach wie vor die Bewertungskriterien bzw. Beurteilungsmaßstäbe; John Cage spielt entsprechend immer noch häufig – zumindest dort, wo sich seine Stücke nicht strukturanalytisch untersuchen lassen – die Rolle des Kuriosums oder des Narren; die in vielerlei Hinsicht ähnlich innovative Pauline Oliveros hingegen wurde zumeist gar nicht erst erwähnt.[78] Dass hingegen Frauen auch in der elektronischen Musik – einer Sphäre maximaler ›Körperlosigkeit‹ – seit jeher reüssierten, wird erst in jüngerer Zeit zur Kenntnis genommen.[79] Dabei ist sicherlich von Vorteil, dass sich der elektroakustische Bereich auch als gleichsam privater, nicht-öffentlicher, und damit ›weiblicher‹ Bereich des Bastelns und Ausprobierens, das im Stadium der Vorläufigkeit bleibt, interpretieren lässt; es muss kein Orchester angeleitet werden, sondern die technischen Mittel stehen prinzipiell jeder und jedem zur Verfügung, der bzw. die über ein Studio (heute: einen Computer) verfügt.

Jenseits der (hier unangebrachten) Maßstäbe des 19. und 20. Jahrhunderts – Organizität, Originalität, Neuheit – gibt es mit Blick auf musikalische Performance Art und elektronische Musik, aber auch für Konzeptmusik (ob alt oder neu), multimediale Ansätze bzw. Klangkunst bislang keine weithin anerkannten Analyse- und Qualitätskriterien. Nach wie vor ist es kaum möglich, hier einen »Triumph der Analyse«[80] im Sinne Dahlhaus’ zu feiern. Entsprechend schwer tun sich Musikkritiker*innen und Musikforscher*innen mit der ästhetischen und historischen Einordnung jener Phänomene; man stützt sich in der Regel beispielsweise auf breit und kontrovers Rezipiertes (häufig: ›Umstrittenes‹), wendet das Avantgarde-Kriterium schlechthin (›Neuheit‹) an, bezieht sich auf Umfragen und Ranking-Listen[81] oder fragt sich, ob ein Werk unabhängig vom Material etwas zu denken aufgibt. (Insbesondere Helmut Lachenmanns Accanto [1975/76] ist hierfür ein – sicherlich auch vom Komponisten selbst bewusst gesteuertes – Beispiel von ›Reflexionskunst‹. Welche Rolle hingegen sein Marche fatale [2017] in der Musikgeschichte spielen wird, wird sich erweisen.) Wo ein aktuelles multimediales Werk offensichtlich stark wirkt und breit rezipiert wird, wie etwa Johannes Kreidlers Fremdarbeit (2009), Stefan Prins’ Generation Kill (2012), Simon Steen-Andersens Piano Concerto (2014) oder einige Arbeiten von Jennifer Walshe, müssen die Analysemethoden in jedem Einzelfall neu erarbeitet und erprobt werden.[82] Musikforschung und Musikkritik werden zu Co-Kreativen, oder auch: Co-Schöpfern.

6. Gegenwartsqualitäten

Aus Sicht der unübersichtlichen, ja unerschöpflichen, im Sinne von Hans Ulrich Gumbrecht »breiten« Gegenwart,[83] die musikhistorisch seit jeher kaum zu fassen ist, lässt sich auch in Bezug auf Werke der Vergangenheit dafür sensibilisieren, wie prekär und vorläufig jeglicher Maßstab ist. Die von Kant und dem Deutschen Idealismus ausgehenden Kriterien, auf die Dahlhaus und mit ihm Generationen von Musikforscher*innen rekurrierten, die Frage nach Geist und Struktur, sind nicht nur mit Blick auf die heutige Zeit beschränkt. Sobald ein vergangener Zeitpunkt hypothetisch als gegenwärtiger aufgefasst wird, wie es Gumbrecht 2003 in seinem Buch 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit erprobte, vervielfältigen sich die Perspektiven und Kriterienkataloge. So müssen noch zahlreiche Musikgeschichten geschrieben werden, und zwar solche, in denen, neben Geist und Reflexion, die sprichwörtliche ›Farbe‹ ebenso zentral ist wie der Körper. Die New Musicology war ein Versuch; nun gilt es, sich nicht nur, gewissermaßen ungeschützt, dem Phänomen auszusetzen, sondern es zugleich anhand eines feinen Rasters zu kontextualisieren, und zwar sowohl mit Blick auf die Vergangenheit als auch auf die eigene Gegenwart, von der aus geurteilt wird. Kants »interesseloses Wohlgefallen« ist nur ein Wahrnehmungsmodus von vielen; damit aber ist Qualität alles andere als eine – im Sinne Szymczyks – »leere Kategorie«.

Anstelle der bloßen Forderung nach Erweiterung des vielzitierten ›Kanons‹, der Vervollständigung der Musikgeschichtsschreibung durch Inklusion bislang vernachlässigter Personen, Werke, musikalischer Phänomene und Kategorien, die häufig mit einer Distanzierung von der Qualitätsfrage (bei gleichzeitiger impliziter Voraussetzung derselben) einhergeht, ist dieser Beitrag ein Plädoyer für die – bewusste und reflektierte – Wiedereinführung des (Qualitäts-)Urteils:[84] Was ist so relevant an einer Musik, dass es lohnt, sie musikhistoriographisch in die Erzählung – oder einen Erzählstrang – zu integrieren? Was lässt sich heute an ihr lernen, an ihr zeigen, was berührt idiosynkratisch, wo gibt es ›schöne Stellen‹, ja, ein ›je ne sais quoi‹, wo langweilt das ästhetische Gebilde? Zugleich, anknüpfend an Annegret Huber:[85] Von welcher Position aus wird aktuell geurteilt bzw. gewertet? Wie lautete das Urteil einer früheren Zeit, und warum? Welche Stimmen äußerten sich, wer urteilt(e), unter welchen Voraussetzungen? Und schließlich: Wie lassen sich – heutige und damalige – Wertmaßstäbe und Kriterien rekonstruieren? Erst von hier aus – denn die Geschichte der Musik ist die Geschichte von Werturteilen – lässt sich nachhaltig und glaubwürdig Musikgeschichte erzählen, sowohl die der Vergangenheit als auch die der Gegenwart. Dass Historiker*innen sich und ihr persönliches Geschmacksurteil fast im selben Moment wieder zurücknehmen müssen, wo es um die Analyse historischer und gegenwärtiger gesellschaftlich-kultureller Kontexte geht, bleibt unbenommen. Fest steht: Das vollständige Bild wird erst dann sichtbar, wenn das schreibende Subjekt als ästhetisch wahrnehmendes und empfindendes erkennbar bleibt, auch wenn sich Ästhetik und Politik – siehe die Eingangsbemerkungen dieses Beitrags – dabei (zunächst) widersprechen.

Anmerkungen

1

Szymczyk in Thiele 2014.

2

Szymczyk 2017, 28 (Hervorhebung im Original).

3

Ebd., 29. Ob die Ausstellung diesem Anspruch gerecht geworden ist, ist nicht Thema des vorliegenden Beitrags.

4

Willems 2001, 237.

5

Parsons/Ravenscroft 2016, 1.

6

Annegret Huber gibt drei Jahre nach dem Call for Papers zu diesem (damals noch in Planung befindlichen) Band die Einschätzung ab, dass die Herausgeber*innen sich auf der sechsstufigen Skala, welche die Literaturwissenschaftlerinnen Susan Van Dyne und Marilyn Schuster 1984 mit Blick auf feministische und Gender-Studien entwickelten, »noch auf der zweiten Stufe« befänden, »wenn sie lediglich musikanalytische Informationen zur Musik von Frauen angehäuft haben wollen, ohne zu problematisieren, wie dieses Wissen erzeugt wird.« (Huber 2011, 40) Auf Stufe zwei werden die »vorherrschenden Sichtweisen« nicht in Frage gestellt, sondern lediglich Informationen (hier: über Frauen) hinzugefügt. Erst auf Stufe vier werden die »existierenden Paradigmen« aus einer Außenperspektive betrachtet, auf Stufe sechs schließlich auf erkenntnistheoretischer Grundlage verändert (ebd.). Vgl. hierzu Dyne/Schuster 1984.

7

Vgl. insbesondere Huber 2009 (vor allem 128 f.); Huber 2011.

8

Höchst aufschlussreich sind diesbezüglich die konträren Positionen von Frank Hentschel und Michael Walter, vgl. Hentschel 2013 und Walter 2013.

9

Hentschel 2013, 81.

10

»Wer denn sonst als Musikwissenschaftler wäre berufen, sich zur Qualität von Werken in einem begründeten Werturteil zu äußern?« (Walter 2013, 100)

11

Ein Beispiel hierfür ist Citron 2000.

12

Dass der vorliegende Beitrag in seiner Argumentation prominent auf die (kanonisierten) Autoren Immanuel Kant, Eduard Hanslick und, immer wieder, Carl Dahlhaus rekurriert, ist nicht zuletzt der eigenen Prägung durch eine bestimmte (musikwissenschaftliche wie philosophische) Tradition geschuldet. Der ›Meisterdiskurs‹ schlägt auch hier durch.

13

Dahlhaus 2001, 13.

14

Dahlhaus 2000. Die Kritik an dieser Prämisse ist mittlerweile innerhalb der Musikforschung common sense.

15

Dahlhaus 2001, 27.

16

Huber 2009, 139.

17

Kant 1990, insbesondere 39–43.

18

Kant 1764, 47–80 (»Driter [sic] Abschnitt. Von dem Unterschiede des Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältniß beyder Geschlechter.«).

19

Kant selbst bezieht sich in seiner Kritik der Urteilskraft in erster Linie auf das Naturschöne.

20

Ausführlich hierzu Sponheuer 1987.

21

Kant 1990, erster Teil, erster Abschnitt, erstes Buch: »Analytik des Schönen«.

22

Hanslick 1854, V.

23

Ebd., 35.

24

Ebd., 187.

25

Ebd., 74.

26

Vgl. u. a. Klinger 2005.

27

Vgl. Honegger 1991.

28

Vgl. u. a. Knaus/Kogler 2013.

29

Vgl. Noeske 2015.

30

Ausführlich zur Etymologie vgl. Kliche 2001.

31

Dahlhaus 2001, 12.

32

Shreffler 2013, 617.

33

Vgl. Bourdieu 2003, insbesondere 756–767.

34

Pfaller 2012, Kapitel »Mein Geschmack und ich«, Abschnitt 18.

35

»Das Prinzip, daß man die Mittel und Handgriffe verbergen müsse – das Korrelat der Verklärung des Künstlers zum Zauberer –, war eines der entscheidenden in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts.« (Dahlhaus 2003b, 760)

36

Goehr 2007, 205–242; hierzu u. a. Geck 2017, 36–44.

37

Dahlhaus 2003b, 761.

38

Ebd.

39

Ebd., 759.

40

Ebd., 760.

41

Ebd., 761.

42

Dahlhaus 2003a, 577.

43

Ebd., 557 f.

44

Dahlhaus 1967b, 67. Kritisch direkt hierzu äußert sich Helmut Loos: »Es kann nicht mit genügender Dringlichkeit darauf hingewiesen werden, daß eine musikalische Analyse keine zwingenden Argumente zu einem Werturteil über Musik liefern kann. […] Somit ist es Spiegelfechterei, wenn die technische Analyse als Stütze ästhetischer Urteile herbeigerufen wird. Die Gründe für musikalische Werturteile sitzen tiefer und an ganz anderer Stelle.« (Loos 1998, 69)

45

Dahlhaus 1967a, 25.

46

Ebd., 26.

47

Ebd., 25.

48

Wie dies allerdings zu erkennen sei, verrät Dahlhaus nicht.

49

Wicke 2001, 66. Der Autor zitiert an dieser Stelle Pierre Bourdieu als Gewährsmann.

50

»Ein frühzeitiger Tod, im J. 1862 zu Warschau, verhinderte sie, die Welt mit weiteren demoralisirenden Producten einer Aftermuse zu überschwemmen.« (Mendel 1870, 409)

51

Wicke 2001, 73.

52

»Nicht allein der phänomenale Erfolg, sondern wohl nicht minder die Tatsache, dass es sich um die Komposition einer Frau handelte, hat die sprachlichen Entgleisungen legitimiert.« (Wicke 2001, 70)

53

Wicke bezeichnet diese als »die in Klang fixierte Choreographie der Präsentation des maskulinen Körpers« (ebd., 74).

54

Vgl. Treydte 2016.

55

In den von Elisabeth Treydte geführten Komponist*inneninterviews beklagen einige der weiblichen Komponierenden, dass sie grundsätzlich – im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen – nicht als ›politisch‹, sondern höchstens als ›feministisch‹ wahrgenommen und beschrieben werden. Vgl. Treydte i. V.

56

Fanny Hensel an Felix Mendelssohn, 11.8.1835; ausführlich hierzu Huber 2016.

57

Vgl. Bartsch 2007. Dieses Konzept ist selbstverständlich auf alle Geschlechter übertragbar.

58

»Componiren aber kann ich nicht, es macht mich selbst zuweilen ganz unglücklich, aber es geht wahrhaftig nicht, ich habe kein Talent dazu. […] Und nun vollends ein Lied, das kann ich gar nicht; ein Lied zu componiren, einen Text ganz zu erfassen, dazu gehört Geist […].« (Clara Wieck an Robert Schumann, 14.3.1840, zit. nach Draheim 1990, 4.) Im Januar 1841 heißt es im Ehetagebuch: »[I]ch habe gar kein Talent zur Composition!«, Anfang Juni 1841 am selben Ort: »Mit dem Componieren will’s nun gar nicht gehen – ich möchte mich manchmal an meinen dummen Kopf schlagen!« (Nauhaus/Bodsch 2013, 56 und 81)

59

Entsprechend gilt es an jene Souveränität immer wieder zu appellieren.

60

Anonym 1842, 62.

61

Ebd., 61.

62

Vgl. u. a. Rentsch 2012.

63

Citron 2000, Kap. 4: »Music as Gendered Discourse«; Marx 1845, 273.

64

Citron 2000, 154.

65

Burnham 1996.

66

Vgl. zu Citrons Analyse auch Noeske 2010, 42–45; Huber diskutiert Marx’ Metaphorik kritisch mit Blick auf die Analysen Susan McClarys (Huber 2009, 138 f.).

67

Grundsätzlich hierzu auch Knaus (2002, 328), die einen »Mangel an sozialgeschichtlichen Forschungsansätzen« sowohl innerhalb der »feministischen musikwissenschaftlichen Forschung« als auch in der Critical Musicology generell konstatiert. Knaus bezieht sich mit ihrer Kritik insbesondere auf Lawrence Kramer und Susan McClary (zur Kritik an letzterer vgl. u. a. auch Huber 2011, 40).

68

Die ursprüngliche Interpretation McClarys im Rahmen ihres 1987 gehaltenen Vortrags, die später – im Band Feminine Endings (1991) – ausgelassen wurde, wird zitiert in Harper-Scott 2012, 243 sowie in Fink 2012, 121 f.

69

Robert Fink sucht in seinem Aufsatz »Beethoven Antihero« (2004) ausführlich nachzuweisen, dass McClary von ihren Kritikern, darunter Pieter van den Toorn, missverstanden wurde. Zwar vergleiche sie die Passage aus Beethovens Neunter tatsächlich mit einem »failed rape«, doch habe sie damit weder Beethoven angreifen noch einen »musicological gender war« eröffnen wollen (Fink 2004, 110). Vielmehr sei sie dem Phänomen des Erhabenen auf der Spur, das in Beethovens Werk – auch mit Blick auf die Rezeption – eine zentrale Rolle spiele. Das Subjekt jener Lust-Unlust-Empfindung indes sei nicht präzise lokalisierbar, letztlich seien es wir alle – ob Mann oder Frau: »We the listeners are both raped and rapists« (ebd., 130).

70

Dass McClary allerdings genau dies suggeriert, wird allein schon dadurch nahegelegt, dass Fink so ausführlich erklären muss, wie die Autorin es ihm zufolge eigentlich gemeint habe. Vgl. auch Huber 2011, 40 f.

71

Es handelt sich um die dritte Szene der Oper Adriana mater (2006) mit dem Titel »Deux cœurs«. Vgl. hierzu Henseler i. V.

72

Huber 2011, 28.

73

Reckwitz 2017, 139.

74

Vgl. hierzu mit Blick auf die bildende Kunst der Gegenwart u. a. Rebentisch 2013, 112. Dass Komplexität, Beziehungsreichtum etc. gleichwohl jenseits der Materialebene eine Rolle spielen kann, steht außer Frage.

75

Hierzu Kant 1790, § 23–29.

76

Leopold/Redepenning/Steinheuer 2008; außerdem genannt sind Hildegard von Bingen und Barbara Strozzi.

77

Christa Brüstle zitiert hierzu Dibelius’ Behauptung, wonach »das umfassende Exponieren der eigenen Physis dem weiblichen Naturell am sinnfälligsten entspricht und zugleich jede Konkurrenz im vorhinein [sic] ausschließt.« (Dibelius 1998, 509, vgl. Brüstle 2013, 200)

78

Auf der documenta 14 wurde hingegen (in Athen) eine Reihe von Arbeiten Oliveros’ gezeigt.

79

Zu nennen ist hier insbesondere das jährliche Berliner Festival Heroines of Sound (seit 2014), https://www.heroines-of-sound.com (8.4.2020); auf dem Luxemburger Rainy Days-Festival im Herbst 2018 gab es einen eigenen Abend, der als Hommage an die ›Elektropionierinnen‹ konzipiert war. Komponistinnen wie Éliane Radigue, Daphne Oram oder Else Marie Pade sind erst jüngst in den Fokus gerückt.

80

Dahlhaus 2005, 224.

81

Die italienische Zeitschrift Classic Voice beispielsweise veröffentlichte im Januar 2017 ein Ranking der »Top Composers«, eine Liste derjenigen Komponist*innen und ihrer Werke seit dem Jahr 2000, die von 100 ausgewählten Personen aus ganz Europa auf deren persönlicher »Top-10-Liste« am häufigsten genannt wurden. Die Liste ist mittlerweile nicht mehr online, ein Auszug daraus ist in der Zeitschrift positionen (H. 111 [Mai 2017], 63) abgedruckt.

82

Gordon Kampes im Mai 2016 auf dem Symposion Wirklichkeiten an der Musikhochschule Stuttgart gehaltener Vortrag über Kreidlers Fremdarbeit (»Versuch einer Analyse«), der bewusst naiv ausschließlich auf den Tonsatz rekurriert, könnte seinerseits als Objekt einer Analyse in den Fokus geraten.

83

Der Titel von Gumbrechts 2010 bei Suhrkamp erschienenem Buch lautet Unsere breite Gegenwart.

84

Welche Ebenen hier im Einzelnen untersucht werden können, hängt vom jeweiligen Untersuchungsgegenstand ab. Konrad Paul Ließmann (2010, 75) beispielsweise schlägt folgende vier Dimensionen vor: erstens die Frage danach, wie ein ästhetischer Reiz ›empfunden‹ wird; zweitens die Frage, ob das ästhetische Objekt ›gefällt‹; drittens jene nach Bedeutung und spezifischer Wahrheit eines ästhetischen Objekts; viertens die Frage danach, ob es sich um ein ›Kunstwerk‹ handelt.

85

»Die musikanalysierenden Subjekte und ihre Sprechhandlungen müssen ›mit-theoretisiert‹ werden […]«. (Huber 2011, 41)

Literatur

Anonym (1842), »Zwölf Gesänge aus Rückerts Liebesfrühling für Gesang und Pianoforte von Robert und Clara Schumann«, Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung 3, 61–63.

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