Semidissonanzen
Ein Beitrag zur Didaktik der Harmonielehre
Hans Aerts
Der Beitrag bietet Anregungen für eine Didaktik zur Einführung in die Organisation tonaler Mehrstimmigkeit, bei der das Umkehrungsprinzip nicht von Anbeginn als Postulat gesetzt, sondern im Lauf eines Kontrapunktlehrgangs begreiflich gemacht wird als eine Antwort auf theoretische und praktische Probleme, auf die Musiker spätestens im 18. Jahrhundert gestoßen sind. Hervorgehoben wird hier die Auseinandersetzung mit einer besonderen Art der Dissonanzbehandlung, die dazu führte, dass bestimmte dissonante Klänge als unmittelbare harmonische Entitäten herausgehoben wurden, u. a. als ›Dominantseptakkord‹. Andererseits wird hingewiesen auf Unterschiede in der Bedeutung von Tönen innerhalb von Klängen, die durch das Umkehrungsprinzip aus dem Blickfeld zu geraten drohen. Der Ansatz verfolgt somit das Ziel, Schüler*innen und Studierende erkennen zu lassen, dass das Umkehrungsdenken ältere Vorstellungen überlagert, aber nicht ausgelöscht hat, und dass sie beide Sichtweisen je nach satztechnischer und analytischer Fragestellung gleichermaßen einnehmen können.
This article offers suggestions for a teaching method that introduces students to the organization of tonal music without positing the inversion principle right from the start. Instead, this principle is introduced as an answer to theoretical and practical problems that preoccupied musicians by the early eighteenth century at the latest. One of these problems included the explanation of a particular kind of dissonance treatment. One solution was to single out certain dissonant sounds as immediate harmonic entities, for example the “dominant seventh chord.” Attention is drawn to differences in the meaning of tones within chords that tend to be obscured by the inversion principle. The pedagogical goals of this method are: (1) to allow students to realize that harmonic thinking based on the inversion principle has superimposed on, but not wiped out, older concepts; and (2) to enable students to adopt both perspectives, depending on the compositional and analytical questions on hand.
Musiktheoretischer Unterricht, der die Organisation von Mehrstimmigkeit in europäischer Musik, welche zwischen 1600 und 1900 entstanden ist, willentlich zusammenfasst und als eine statische common practice vermittelt, dürfte hierzulande zumindest auf Hochschulebene der Vergangenheit angehören. Der historic turn in der deutschsprachigen Musiktheorie wurde ja bereits seit den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts eingeleitet. Das Zeitkontingent, das für entsprechende Lehrangebote zur Verfügung steht, ist allerdings knapp. In wenigen Semestern sollen außer musikalischem Geschichtsbewusstsein auch stilübergreifende praktische Fertigkeiten in Satztechnik, Improvisation, Komposition und (Hör)Analyse vermittelt werden. Der Tendenz zur Differenzierung im Hinblick auf Stilistik und im Hinblick auf theoretische Konzepte, die für das musikalische Denken von Komponisten als relevant angenommen werden, sind im Unterrichtsalltag also Grenzen gesetzt. Eine Auswahl an Perspektiven muss getroffen werden.
Vor diesem Hintergrund mag es sinnvoll erscheinen, zwecks Hinführung zu einer Art von Musik, wie sie Beispiel 1 repräsentiert, auf eine pragmatische Mischung einiger vertrauter Konzepte aus Harmonielehren des 18. bis 20. Jahrhunderts zurückzugreifen, die Studierende oft bereits aus der Schule mitbringen. Aus einem solchen Blickwinkel erscheint das Beispiel vielleicht nicht einmal erwähnenswert: in den ersten vier Takten nichts als Tonika und Dominante, dabei der Dominantseptakkord einmal in erster Umkehrung, einmal in dritter Umkehrung, einmal in Grundstellung; zu Beginn von Takt 3 die Dominante als verkürzter Nonenakkord; in Takt 5 eine Ausweichung in die Paralleltonart, bestätigt durch zwei kadenzielle Wendungen mit jeweils einem Vorhaltsquartsextakkord:
Beispiel 1: Johann David Heinichen, Der General-Bass in der Composition[1]
Musiktheoretischer Unterricht, der bei der Einübung solcher Beschreibungsweisen haltmacht, greift allerdings zu kurz. Denn um dem besagten historic turn gerecht zu werden, müssen auch die Prämissen, auf denen eine solche Beschreibung aufbaut, sowie die Fragen und Probleme, die die Theoriebildung vorangetrieben haben, ans Licht geholt werden. Wie zwingend ist die Vorstellung, dass Zweiklänge, wie in diesem Beispiel, aus Dreiklängen und Septakkorden abgeleitet werden? Wieso sollen Akkorde einer Schichtung von Terzen entstammen, weshalb soll also ein Quintsextakkord als Umkehrung eines Septakkords gelten statt umgekehrt? Woher rührt die Sonderstellung des ›Dominantseptakkords‹, etwa im Gegensatz zu sogenannten ›Nebenseptakkorden‹? Wozu soll der verminderten Septime zu Beginn von Takt 3 ein ›Grundton‹ e hinzugedacht werden? Die Einsicht, dass nichts hiervon zwingend, geschweige denn naturgegeben ist, da auch im 18. Jahrhundert als Kernepoche der sogenannten dur-moll-tonalen Musik verschiedene satztechnische Praktiken und Arten, sie zu beschreiben und zu erklären, nebeneinander existierten, gehört meines Erachtens zu den Voraussetzungen dafür, dass Studierende (und zwar nicht nur solche mit Hauptfach Musiktheorie) nach Abschluss ihres Studiums in der Lage sind, das bisher Erlernte im Kontext ihrer weiteren musikalischen Tätigkeiten selbständig zu vertiefen, den aufgezeigten Richtungen zu folgen und sich weitere Wege, auch zu ganz anderen Arten von Musik, zu erschließen. Zudem fragt sich, inwiefern diese Vorstellungen zur Entwicklung satztechnischer Fertigkeiten beitragen. Was macht eine bestimmte Akkordumkehrung und eine bestimmte Akkordlage in einer gegebenen Situation besser als eine andere? Wieso klingt im nächsten Beispiel (Bsp. 2) manches falsch, wenn doch die Akkordfolge die ›gleiche‹ ist wie in Beispiel 1?
Beispiel 2: Modifikation von Beispiel 1 (d. Verf.)
Im Folgenden möchte ich auf Möglichkeiten hinweisen, die oben genannten scheinbaren Selbstverständlichkeiten im Unterricht aufzubrechen, und zwar nicht als Selbstzweck, sondern um der Heterogenität dur-moll-tonaler Musik und der sie umgebenden Diskurse bei ihrer Vermittlung gerecht zu werden und um Aspekte, die diese scheinbaren Selbstverständlichkeiten zu verdecken drohen, hervorzuheben und für die Satzlehre nutzbar zu machen. Die Quellen, auf die ich dabei verweise, sind in neuerer Literatur längst beschrieben und erforscht. Es geht mir hier also ausdrücklich nicht darum, die entsprechenden Einsichten als ›eigene‹ zu beanspruchen, sondern um die Herausforderung, den Transfer solcher Forschungserkenntnisse in die Lehre zu befördern.[2]
Bloß ein Gedankenspiel? Heinichens Anticipatio transitus
Mit dem eingangs zitierten Beispiel illustriert Johann David Heinichen in seinem Lehrbuch Der General-Bass in der Composition (1728) eine aus seiner Sicht bemerkenswerte Art der Dissonanzbehandlung. Was ihn beschäftigt, sind die verminderte Quinte zu Beginn von Takt 1, die übermäßige Quarte in Takt 2, die verminderte Septime in Takt 3, die kleine Septime in Takt 4 und die Quarten in den Takten 5 und 6: allesamt Intervalle, die nach traditioneller Kontrapunktlehre als dissonant gelten, hier aber auf eine Art und Weise verwendet werden, die sich von beiden Formen der Dissonanzbehandlung, die seit Johannes Tinctoris’ Liber de arte contrapuncti (1477) als regulär angesehen wurden, unterscheidet. Im Gegensatz zu dissonanten Intervallen, die durch ›transitorische‹ Dissonanzen wie Durchgangs-, Wechsel- und Nebennoten erzeugt werden, erklingen die meisten dieser Intervalle hier auf betonter Taktposition. Und anders als im Falle von Synkopendissonanzen, die dort ihren Ort haben, ist weder das obere noch das untere Ende dieser Intervalle der hintere Teil einer synkopierten Note, die daraufhin schrittweise abwärts geführt wird.[3] Heinichen registriert diese Art der Dissonanzbehandlung als das Ergebnis eines Stilwandels, über den die bisherige Satzlehre sich ausschweige, obwohl er außer im Kirchenstil allenthalben stattgefunden habe:
Indes ist nicht zu läugnen, daß der Stylus gravis nach seiner wahren Accuratesse dergleichen Freyheiten hasset, und allezeit seine Dissonantien [gemeint ist: solche auf betonter Taktposition] praepariret haben will. Also möchte man wenigstens aus Curiosität nach der Ursache fragen, warum alle andere styli von diesen fundament abgegangen? Meiner Meynung nach muß doch in der Natur einige raison vorhanden seyn, ohne welche die praxis schwerlich davon abgegangen, und ohne Grund gleichsam etwas unnatürliches in der Music eingeführet haben würde. Ich habe deswegen mit Fleiß in einigen Autoribus nachgesuchet, finde aber von dieser Materie weiter nichts als überall dergleichen Freyheits-Exempel nebst der stummen raison: sic volo, sic jubeo, daß diese Dissonantien nicht allezeit praepariret werden müssen.[4]
Letztere Bemerkung findet Bestätigung in zahlreichen Traktaten des frühen 18. Jahrhunderts, in denen schlicht festgehalten wird, dass Dissonanzen auf betonter Taktposition mitunter auch anders denn als Synkopendissonanzen verwendet werden. So erwähnt Francesco Gasparini, dass die verminderte Quinte und Septime als Synkopendissonanz (legata) oder auch ungebunden (sciolta bzw. assoluta[5]) verwendet werden können. Jacques Boyvin setzt solche Fälle pauschal durch den »rechten Gebrauch« und den »guten Geschmack« als bekannt voraus.[6] Und auch Jean-Philippe Rameau stellt im Traité de l’harmonie lediglich fest, dass die Regel, wonach Dissonanzen vorzubereiten seien, nicht allgemeingültig sei.[7] Heinichen genügt dies nicht:
Weil mir aber solches bey Ausarbeitung dieses Capitels keine Satisfaction giebt, so will ich hiervon meine eigene Gedancken tanquam lusum ingenii [gleichsam als Gedankenspiel] eröffnen, und jedweden die Freyheit lassen, ob er sie vor wahr annehmen, oder bessere raison davon an Tag zu geben weiß, welches mir sonderlich lieb seyn soll. So lange nun dieses nicht geschiehet, so lange will ich glauben, daß alle dergleichen ungebundene oder unpraeparirte Dissonantien nichts anders seynd, als lauter Anticipationes Transitus.[8]
Die »ungebundenen« oder »unpraeparirten« Dissonanzen, die ihn beschäftigen, erklärt Heinichen also vor dem Hintergrund des aus dem 16. Jahrhundert überkommenen stile antico als Vorausnahme einer Durchgangsnote, wodurch die Konsonanz, von der diese Durchgangsnote sich entfernt, ausgelassen wird:
Gleichwie man nun den antiquen stylum, und das Tractament seiner Dissonantien in vielen andern Stücken raffiniret, also hat man auch dieses nicht unnatürlich befunden, wenn man die mittlere per transitum durchpassirende Note mit Hinweglassung der ersten fundamental-Note so gleich anschlage, und also den transitum per ellipsin anticipire.[9]
Dies veranschaulicht Heinichen anhand der folgenden Beispiele (Bsp. 3):
Beispiel 3: Johann David Heinichen, Der General-Bass in der Composition, Erklärung »ungebundener« Dissonanzen als Anticipationes Transitus[10]
Reizvoll an dieser Erklärungsweise ist, dass sie eine ›neue‹ Form der Dissonanzbehandlung in einen überkommenen Rahmen ›kontrapunktischen‹ Denkens eingliedert. Obwohl ihm die von Gioseffo Zarlino geprägte Vorstellung einer in Gestalt des Dur- und Molldreiklangs gegebenen harmonischen Entität (Trias harmonica) nicht fremd war,[11] bezieht sich Heinichens satztechnisches Denken in der Regel auf (Simultan)Intervalle. Die ›Griffe‹, mit denen sich der Generalbassspieler auseinanderzusetzen hat und die ihm deshalb als jeweils unterschiedliche ›Akkorde‹ gelten, durchleuchtet Heinichen so, dass sie als hierarchisch strukturierte Intervallverbünde in Erscheinung treten.[12] Ein Sextakkord ist demnach zuvorderst eine Sexte (oder eine Oktaverweiterung davon), kombiniert mit einer Terz über deren tiefstem Ton (oder einer Oktaverweiterung davon) als ›Füllung‹ (denn jedes andere Intervall würde zur Bildung einer Dissonanz führen, die an satztechnische Bedingungen geknüpft wäre). Ein Septakkord ist eine Septime, zu der ebenfalls eine solche Füllterz und eventuell auch Füllquinte gesetzt bzw. gegriffen wird. Ein Sekundakkord besteht entweder aus der Synkopendissonanz einer unten gebundenen Sekunde mit einer Quarte und Sexte darüber (konsonante Intervalle zum oberen [konsonanten] Ende der unten gebundenen Sekunde) als deren »Hüllfs-« oder »Neben-Stimmen«, oder ergibt sich durch eine Durchgangsbewegung im Bass.[13] Quintsextakkorde können ebenfalls durch eine Durchgangsbewegung entstehen oder durch eine Synkopendissonanz, bei der sich die Quinte »in die Sclaverey neben der 6te begiebet«,[14] von dieser also zur Dissonanz gemacht wird, während erneut eine Terz als nachgeordnete Füllung hinzutreten kann. – Die Liste ließe sich fortsetzen und wird von Heinichen fortgesetzt: Auch an höchst avancierte Elemente spätbarocker Harmonik führt Heinichen heran, ohne auf die Idee zurückgreifen zu müssen, dass Akkorde aus der Schichtung von Terzen herrührten, und dass sie einen ›Grundton‹ besäßen, der sich aus dieser ›ursprünglichen‹ Terzenschichtung ermitteln lässt. Dass das Umkehrungsprinzip hier so gut wie keine Rolle spielt, geschieht nicht einmal in polemischer Absicht. Vielmehr versetzt uns eine Heinichen-Lektüre zurück in eine Welt, in der ein Glaube an die Unabdingbarkeit dieses Axioms einfach nicht vorhanden war.
Dass ein Sekundakkord D-e-gis-h und ein Quintsextakkord Gis-e-h-d1 etwas gemeinsam haben, ist in dieser Welt so selbstverständlich wie die Techniken des doppelten und mehrfachen Kontrapunkts der Oktave, bedeutet aber nicht, dass eine dieser Akkordformen grundsätzlich von der anderen oder beide von einer dritten Form abstammten. ›Verwechslung‹ zielt bei Heinichen, anders als ›Umkehrung‹ in Harmonielehren, die sich Jean-Philippe Rameaus Konzept des renversement zu eigen gemacht haben, auf eine Beziehung, die keine Akkordform prinzipiell als Grundform voraussetzt. Ob ein Quintsextakkord als Verwechslung des Sekundakkords gelten kann, oder ob ein Septakkord als Verwechslung eines Quintsextakkords verwendet wird, zeigt sich in der jeweiligen satztechnischen Situation.[15]
Ein heutiger Harmonielehreunterricht, der von den Prämissen des Umkehrungsprinzips ausgeht, verschweigt nicht nur, dass diese immer wieder Kritiker auf den Plan gerufen haben, sondern auch, dass es für deren Vorbehalte nachvollziehbare Gründe gibt. So warnt noch im späten 18. Jahrhundert Joseph Riepel, »dass den Versetzungen nicht zu trauen sey«.[16] Denn die »Versetzung« sei doch nur dann ein »lobenswürdiges System«, wenn »dabey alle Intervalle ohne Ausnahme wohl klingen« würden; tatsächlich aber seien »die systematischen Versetzungen nicht so gleichgültig anzusehen«.[17] So wehrt sich Riepel insbesondere gegen die ›Verwechslung‹ des Dominantseptakkords zum Terzquartakkord und gegen die Umkehrung der übermäßigen Sexte zur verminderten Terz.
Letzteres Intervall sei ihm zu »bitter« und rufe Ekel und Verwirrung hervor, wie ihn seine einmalige Verwendung in einer eigenen Komposition gelehrt habe.[18] Den übermäßigen Sextakkord lässt Riepel also gelten, nicht aber z. B. den Septakkord mit verminderter Terz, Quinte und Septime. Die Ableitung des übermäßigen Sextakkords aus einem Septakkord mit großer Terz, verminderter Quinte und kleiner Septime, die sich durch Zutun von Georg Andreas Sorge in der Harmonielehre verbreitet hat,[19] musste ihm deshalb absurd erscheinen: Ein höchstens sporadisch verwendetes Klangkonstrukt wird zum Ursprung einer gängigen Vokabel erklärt.[20]
Der Gebrauch von Terzquartakkorden wie in den Beispielen 4a und 4c sei ihm hingegen »verhaßt«, da der Bass hier »nur einer ausfüllenden Mittelstimme zu gleichen«[21] scheine:
Beispiel 4: Joseph Riepel, Baßschlüssel[22]
Mit dieser Begründung hebt Riepel genau solche Unterscheidungen hervor, die auch Heinichen wichtig waren und die aus der Perspektive des renversement aus dem Blickfeld zu geraten drohen: Gegen die Beispiele 4a und 4c spricht aus seiner Sicht, dass die Quarte im Terzquartakkord, der bei derartigen Bassfortschreitungen verwendet werden kann, für ihn ein bloßer Füllton ist, der gegenüber der Sexte und der Terz eine untergeordnete Rolle spielt und insofern in der Oberstimme auf solch prominenter Taktposition fehl am Platz ist.[23] In »meisterlichen Sätzen« finde man diese Quarte deshalb »nicht leicht oben, sondern in der Mitte (gleichsam verdeckt)« – auch wenn Riepel bekennt, dass er sie grundsätzlich nicht leiden könne und stattdessen eine Verdopplung der Terz oder Oktave bevorzuge.[24] Demgegenüber ist über einem Leitton und seinem Zielton die Folge Sexte-verminderte Quinte-Terz im 18. Jahrhundert die präferierte Fortschreitung, da sie sich eindeutig in einer Dur- oder Mollskala verorten lässt (insofern also zu ›tonaler‹ Klarheit beiträgt) und außerdem ohne vollkommene Konsonanzen auskommt, die im Außenstimmensatz zur Artikulation stärkerer Gliederungsmomente genutzt und ansonsten insbesondere auf betonter Taktposition tendenziell gemieden wurden:
Nous donnons chaque exemple sous toutes les positions; mais il faut remarquer que toutes ne sont pas également bonnes. La meilleure est, pour les accords consonants, celle où les parties supérieures sont en consonance imparfaite, et pour les accords dissonants, celle où ces mêmes parties sont formées par les dissonances.[25]
Das Prinzip, welches Alexandre Choron hier etwas verkürzt wiedergibt, hat Ludwig Holtmeier nach einer Formulierung von Emanuel Aloys Förster als das Prinzip der »besten Lage« bezeichnet.[26] Neben einem ökonomischen, gezielten Gebrauch von Oktaven und Quinten zwischen Bass und Oberstimme ist dabei außerdem wesentlich, dass allein schon der Außenstimmensatz die Klänge und Satzmodelle, die er umrahmt, möglichst eindeutig darstellt.
Im musikalischen Denken, das Heinichen und Riepel überliefern, besitzen die Töne in Klängen, die mittels Verwechslung aufeinander bezogen werden können, also nicht selten unterschiedliche Funktionen. In den Beispielen 4b und 4d ist der Außenstimmensatz zugleich der Gerüstsatz der Klangfortschreitungen, innerhalb dessen die Tonfolgen d-e bzw. a-g als ›ausfüllende Mittelstimme‹ fungieren. Im Terzquartakkord in Beispiel 4a ist das g hingegen ein deplatzierter Füllton. Eine wesentliche Voraussetzung zur Bestimmung solcher Funktionsunterschiede ist die grundlegende kontrapunktische Unterscheidung zwischen vollkommener und unvollkommener Konsonanz, also die Qualität von Zweiklängen. Aus der Sicht einer Harmonielehre, die dieses Denken ›vergessen‹ hat, ist das g hingegen in beiden Kontexten Akkordgrundton, so wie das h unabhängig von Akkordumkehrung und lage Akkordterz, das d Quinte und das f Septime bleibt. Der Akkord erscheint als unmittelbare Einheit, aus denen Zweiklänge gegebenenfalls abgeleitet werden können. Aussagen darüber, welche Töne in der Zweistimmigkeit bzw. für die Außenstimmen eines drei- oder mehrstimmigen Satzes auszuwählen sind, vermag eine solche Lehre aus sich heraus nicht zu treffen.
Einer Unterrichtsmethodik, die die Herausbildung von Anschauungsweisen bezüglich der Organisation mehrstimmiger Musik als historischen Prozess darstellen möchte, bietet Heinichens Anticipatio transitus also eine Erklärung für eine ›moderne‹ Form der Dissonanzbehandlung in einem musiktheoretischen Rahmen, der ohne das Umkehrungsprinzip auskommt und die geschilderten Differenzierungen somit nicht aufzugeben braucht. Problematisch an dieser Erklärung ist allerdings, dass sie offenlässt, in welchen Situationen eine solche Vorausnahme üblich war. Eine kleine Septime, begleitet von einer kleinen Terz und reinen Quinte etwa wird im 18. Jahrhundert nicht wie selbstverständlich per Sprung auf betonter Taktposition erreicht, obwohl sie ja auch in einem solchen Fall (so sie danach schrittweise abwärts geführt würde) als Anticipatio transitus verteidigt werden könnte. Als Handlungsanweisung bzw. satztechnische ›Regel‹ taugt dieser Begriff also nicht.
In den nun folgenden beiden Abschnitten präsentiere ich Aussagen von einigen weiteren deutsch-, italienisch- und französischsprachigen Musiktheoretikern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Sorge, Vallotti, Vogler, Catel, Choron, Fenaroli) als Antworten auf dieses Problem. Abschließend folgen Überlegungen zur Didaktik.
Die »fast consonirende« Septime, »anschlagende Nonen« und »Pseudoconsonanzen«
Georg Andreas Sorge greift im Vorgemach der musikalischen Composition (1745–47) Heinichens Begriff der »ungebundenen Dissonanzen« auf und bettet ihn ein in eine radikale Neuformulierung der Einteilung der Intervalle in die Kategorien Konsonanz und Dissonanz.[27] Mit einem Zitat von Johann Crüger verweist Sorge auf die traditionelle Lehre, wonach Dissonanzen »auf zweyerley Art gebraucht würden, nemlich 1.) im geschwinden Durchgange, und 2.) in der Bindung«, und fügt dann hinzu, dass »die Dissonanzen auch noch die dritte Art im Gebrauch zulassen, da sie nicht gebunden (syncopirt) erscheinen, jedoch aber eben so aufgelöset werden müssen, als die gebundenen«.[28]
Knapp zwanzig Jahre nach Heinichens Traktat stellt er dies als musiktheoretisches Neuland dar: »Davon wußten unsere musikalischen Groß-Väter nichts, und lehreten daher, die Dissonanzen müssen alle vorher liegen, und man dürffe also auf keine Dissonanz springen. Allein die Zeiten ändern sich.«[29] Heinichen nennt Sorge in diesem Zusammenhang nicht, obwohl er ihn an anderen Stellen rühmend hervorhebt und obwohl er Heinichens Erklärung dieser Art von Dissonanzbehandlung fast wortgleich übernimmt: »Es sind alle ungebundene Dissonanzen nichts anders als Anticipationes (Vorausnehmungen) des Transitus regularis, so wohl im Basse als in denen obern Stimmen.«[30] Dieser Erklärung schickt Sorge allerdings eine andere voraus, indem er »die kleine Septime mit der Triade perfecta«, also den heute sogenannten kleinen Dur- bzw. Dominantseptakkord auf den siebten Ton der Obertonreihe und auf die Zahlenprogression 4 : 5 : 6 : 7 bezieht und Zarlinos senario somit zu einem septenario ausweitet:
Dieser dissonirende Septenarius läßt sich auf Orgeln in denen 16- und 32 füßigen Bässen, sonderlich Posaunen, ja so gar auf 16. Fuß tönigen Saiten auf Pedalen, Claveçins, Cymbalen usw. nebst der Octav, Quint-Super-Octav und grossen Terz gar deutlich hören, und machet offt die Orgel- und Instrument-Stimmer irre, daß es ihnen schwer fällt, einen solchen tieffen Klang recht reine zu stimmen. Dieser Septenarius aber vereiniget sich mit denen vorhergehenden Zahlen 1:2:3:4:5:6, und verursachet keine widrige Tremores [d. h. Schwebungen], wie wohl andere Dissonanzen thun, weswegen diese fast consonirende Dissonanz vor die allerleidlichste paßiret.[31]
Dass die Naturseptime deutlich enger ist als die kleinen Septimen, die in der Praxis verwendet werden, stellt für Sorge kein grundsätzliches Problem dar. Die Natur selbst beweise, »daß die kleine Septime die erste Dissonanz sey«.[32] Und als »fast consonirende Dissonanz« führe sich die kleine Septime mit dem Dur-Dreiklang in der satztechnischen Praxis entsprechend »ganz frey und ungebunden, fast wie eine Consonanz« auf, brauche also keine besondere Art der Vorbereitung, obwohl sie »doch eben so resolvieren [müsse] wie die gebundenen«.[33] Gleiches müsse gelten für die Intervalle, die sich durch »Versetzung« dieses Akkords aus dieser Septime ableiten lassen, also die verminderte Quinte im Quintsext, die kleine Terz im Terzquart- und den Bass im Sekundakkord. Wie kaum ein Theoretiker vor ihm behauptet Sorge somit die Existenz eines dissonanten Akkords als selbständiger Einheit, worin bereits François-Joseph Fétis eins der wichtigsten Momente in der Geschichte der Harmonielehre erkannt hat.[34] Und da dieser Akkord auf der »Quinta Modi, so wohl majoris als minoris«, also auf der V. Stufe in Dur und Moll »eigentlich zu Hause« sei, erreicht Sorge auf diese Weise eine Bestimmung bereits einiger der Situationen, in denen Dissonanzen ›ungebunden‹ verwendet werden.
Die Bezugnahme auf die Naturseptime zur Begründung der Emanzipation des Dominantseptakkords lag selbstverständlich nahe. Andere Theoretiker des 18. Jahrhunderts zeigen hierbei aber etwas mehr Skrupel als Sorge, indem sie sich auf Ähnlichkeit statt auf Identität berufen. So weist auch Francesco Antonio Vallotti (1697–1780) im dritten Buch seiner Abhandlung Della scienza teorica e pratica darauf hin, dass die Septime über der V. Stufe nicht nur als Synkopendissonanz behandelt, sondern auch im Sprung erreicht wird, als Vorbereitung einer Dissonanz dienen und sich sogar aufwärts auflösen könne. Diese Septime entspricht für ihn aber der Proportion 9 : 16, und jene privilegi genieße sie deshalb, weil sie der Septime 4 : 7 qua Verhältnis und Konstruktion »sehr analog« sei. Diese sei nämlich weder eine Konsonanz, noch eine wirkliche Dissonanz, sondern ihrer Natur nach eine »Amphibie«.[35] Ganz ähnlich argumentiert Vallottis Schüler Abbé Vogler: Die Praxis müsse sich mit der kleinen Septime 1/9 : 1/16 »behelfen«, da die »Unterhaltungssiebente« 1/4 : 1/7 »in unserer Tonleiter nicht anzutreffen« sei. Diese »dienet zur Unterhaltung, und vergnügt das Gehör [kann somit voraussetzungslos eintreten], sie stellet es aber nicht zufrieden; denn es erwartet noch ganz unruhig die Bewegung, und Auflösung in einen Wohlklang«. »Alle Freiheiten der Unterhaltungssiebenten«[36] gebührten aufgrund von Analogien und Ähnlichkeiten aber sowohl der Septime auf der V. Stufe und jener auf der VII. Stufe in Dur als auch der verminderten Septime auf dem Leitton in Moll.
Zur Begründung der verminderten Septime als »ungebundene Dissonanz« behauptet Sorge außerdem die Existenz »anschlagender Nonen«. Diese kämen zum Durdreiklang der V. Stufe zusätzlich zur kleinen Septime hinzu, wonach der »Grund-Klang« des Dreiklangs »weggethan«[37] würde. Auch alle Umkehrungen des verminderten Septakkords könnten aus diesem Grund frei eintreten. Gleiches gelte für den Septakkord der VII. Stufe in Dur und seine Umkehrungen. Einen weiteren »Sitz« habe die verminderte Septime auf dem Semitonio Quintae Modi,[38] also auf dem Leitton zur V. Stufe; den Septakkord über dem chromatisch erhöhten 4. Skalenton in Dur lässt Sorge im Vorgemach hingegen nur im Durchgang auf unbetonter Taktposition gelten.[39]
Die Existenz »anschlagender Nonen« setzt Sorge in dieser Schrift lediglich voraus und geht erst fünfzehn Jahre später im Compendium näher darauf ein. In Abgrenzung zu Rameau und Marpurg besteht er dort darauf, dass Nonen die Oberterz von Septimen seien und keineswegs durch »Unterschieben«[40] einer Terz unter den Grundton eines Septakkords entstünden. Das Beispiel, mit dem Sorge die Existenz der »freyen ungebundenen None« nachzuweisen versucht (Bsp. 5a), zeigt allerdings, dass der Nonenakkord um die Mitte des 18. Jahrhunderts doch noch nicht so emanzipiert war, wie er es im Rahmen seiner Akkordlehre gern hätte. Die Nonen erklingen dort im Zuge bestimmter Diminutionsmanieren. Dass man solche Nonen dem »Generalbaßisten […] selten vorzuschreiben«[41] pflegt, wie Sorge eingesteht, ist eine verlegene Untertreibung, wie etwa Beispiel 5b illustriert.
Beispiel 5a: Carl Heinrich Graun, Angelica e Medoro (1749), »Dimmi una volta addio«, T. 10–11 als Zitat in Sorge 1760 (Tab. VI)
Beispiel 5b: Graun, Angelica e Medoro, »Dimmi una volta addio«, T. 10–11 in einer Notenausgabe von 1773[42]
Der Septakkord über dem erhöhten 4. Skalenton in Dur und seine Umkehrungen unterliegen im Compendium bis auf die Auflösungspflicht der Septime und ihrer Entsprechungen keinen Einschränkungen mehr, womit weitere vier Fälle »ungebundener Dissonanzen«[43] definiert sind.
Im Hinblick auf alle weiteren Fälle, in denen Intervalle, die traditionell als Dissonanzen gelten, ›ungebunden‹ verwendet werden, geht Sorge schließlich einen anderen Weg. Alle Intervalle, aus denen die in Dur und Moll leitereigenen Dreiklänge und ihre Umkehrungen bestehen, erklärt er zu Konsonanzen, genauer: zu »Pseudo-Consonantiae (Zwitter)«, welche »doch aber von den eigentlichen Dissonantiis zu unterscheiden«[44] seien. Dies betrifft zunächst die Quarte als Umkehrung der Quinte von Dur- und Molldreiklängen sowie darüber hinaus:
die verminderte Quinte / übermäßige Quarte in den Dreiklängen der VII. Stufe in Dur und der II. Stufe in Moll,
die übermäßige Quinte / verminderte Quarte in der III. Stufe in Moll,
die verminderte Terz / übermäßige Sexte in den Dreiklängen mit großer Terz und verminderter Quinte der II. und V. Stufe in Moll.
Als leitereigen betrachtet Sorge in Moll also außer dem Semitonium modi u. a. auch die erhöhte 4. Stufe als Leitton zur 5., sowie die tiefalterierte (›phrygische‹) 2. Stufe.[45] Den übermäßigen Terzquart- und Quintsextakkord leitet er aus den genannten Dreiklängen mit großer Terz und verminderter Quinte ab und zählt sie zu den »anschlagenden ungebundenen Dissonanzen«.[46]
Mit der Kategorie ›Pseudokonsonanz‹ trägt Sorge u. a. der Tatsache Rechnung, dass die verminderte Quinte in den Dreiklängen auf der VII. Stufe in Dur und der II. Stufe in Moll in einigen Sequenzmodellen, wie der Quintfallsequenz, als Konsonanz behandelt wird. Dass und weshalb sie in anderen Modellen, wie der Quintanstiegssequenz, hingegen gemieden wird, thematisiert er jedoch nicht.[47] Anders als Heinichen und Riepel lässt er bis auf wenige Ausnahmen auch noch so ungewöhnliche Klangstrukturen und fortschreitungen, die sich durch Umkehrung aus gängigen Akkorden und Wendungen generieren lassen, als brauchbares musikalisches Material gelten.[48] Insofern eröffnet Sorges Vorgemach eine Reihe ›moderner‹ Harmonielehren, die mittels Deduktion und Analogiedenken neues musikalisches Material erschließen, anstatt ›nur‹ handwerkliche und stilistische Gepflogenheiten zu überliefern (als berühmtestes Beispiel sei die Harmonielehre Arnold Schönbergs [1911] genannt).[49]
Eine bemerkenswerte Parallele finden Sorges »Pseudoconsonanzen« übrigens bei Vallotti, der die übermäßige und verminderte Quinte, die verminderte Terz und die Umkehrungen dieser Intervalle zu consonanze dissonanti erklärt, da sie ihrer Natur nach dissonant seien, in der Praxis aber trotzdem wie Konsonanzen behandelt würden. Im Falle des verminderten Dreiklangs begründet er dies ähnlich wie Sorge damit, dass dieser Klang der diatonischen Skala angehört. Nur als base di tono modale, also als I. Stufe einer Tonart, kämen diese consonanze dissonanti nicht in Frage.[50]
Harmonies simples ou naturels und accords quasi-consonants
Auch in der französischen Musiktheorie des 19. Jahrhunderts lässt sich nachweisen, dass Heinichens »ungebundene Dissonanzen« eines der zentralen Probleme darstellten, um das die Akkordlehre kreiste. So entfaltet Charles-Simon Catel seine Akkordlehre ausgehend von der Unterscheidung zwischen harmonie simple ou naturelle und harmonie composée ou artificielle.[51] Letztere entstehe durch die prolongation von einem oder mehreren Tönen des vorhergehenden Akkords, also durch Synkopendissonanzen und Aufhaltungen. Erstere werde erzeugt von Akkorden, die keine besondere Form der Vorbereitung bedürften. Das sind laut Catel der Dur- und Moll-Dreiklang, der verminderte Dreiklang, der Dominantseptakkord, der Septakkord der VII. Stufe in Dur (l’accord de septième de sensible), der verminderte Septakkord sowie die Nonenakkorde der V. Stufe in Dur und Moll (l’accord de neuvième majeure dominante, l’accord de neuvième mineure dominante). Alle diese Akkorde findet er im Klang, gebildet aus den ersten neun Tönen der Naturtonreihe, plus dem 17. Naturton für die Dominantnone in Moll: ein weiterer Schritt verglichen mit Zarlinos senario und Sorges Septenarius.
Offen gesteht Catel allerdings ein, dass bestimmte Umkehrungen und Lagen dieser Akkorde in der Praxis selten oder nie, und wenn, dann mit Vorbereitung der Dissonanz, genutzt würden. Die None dürfe in diesen Akkorden nicht umgekehrt werden.[52] Die erste und zweite Umkehrung des Septakkords der VII. Stufe in Dur sollten eine Septime und keine Sekunde enthalten; der Basston der dritten Umkehrung dieses Akkords werde in der Regel vorbereitet.[53] Andererseits fügt Catel hinzu, dass auch der Septakkord auf der II. Stufe in Moll in bestimmten Fällen ohne Vorbereitung verwendet würde. Sein Beispiel (Bsp. 6) zeigt, dass ihm hierbei Verwechslungs- und Wechselakkorde vorschwebten: Die Terzquartakkorde in Takt 3 und 4 sind Verwechslungen des regulär vorbereiteten Quintsextakkords in Takt 2, der sich erst in Takt 5 auflöst; die Dur-Dreiklänge dienen dort als Durchgangsakkorde.
Beispiel 6: Charles-Simon Catel, Traité d’harmonie, »Emploi de la septième de seconde du mode mineur sans préparation«[54]
Die übermäßige Sexte, die übermäßige Quinte und ihre Umkehrungen erklärt Catel anders als Sorge nicht aus einer Terzenschichtung und vor dem Hintergrund einer Skala, sondern als das Ergebnis von Alterationen. Generell könne man einen oder mehrere Töne eines Akkords alterieren, um sie näher an ihr Ziel heranzuführen. Solche Alterationen könnten auch stattfinden, ohne dass der nichtalterierte Ton vorangehe.[55] Diese Art einer Anticipatio transitus ist nach Catel also nicht an bestimmte Skalenstufen gebunden. Dementsprechend lässt er z. B. den übermäßigen Terzquartakkord auch über einer Fortschreitung von der 4. zur 3. Bassstufe in Dur entstehen (Bsp. 7). Auf solche Weise werden Akkorde von ihrem herkömmlichen ›Sitz‹ losgelöst und insofern in neuen Funktionen verwendet: Der übermäßige Terzquartakkord im oberen System von Beispiel 7 funktioniert nicht länger als Prädominante. Derartige Funktionswechsel sowie das Spiel mit der Mehrdeutigkeit von Fortschreitungen, das dadurch stärker als zuvor ermöglicht wird, ist eine der Haupttendenzen ›romantischer Harmonik‹.
Beispiel 7: Charles-Simon Catel, Traité d’harmonie (1802, 60). Die Fußnote zu (1) lautet: »Cet accord est connu sous le nom de Sixte superflue avec Triton.«
Alexandre Choron, der seine Akkordtheorie in der Auseinandersetzung mit französisch-, italienisch- und deutschsprachigen Traktaten in einem Zeitraum von drei Jahrzehnten mehrfach revidiert hat, unterscheidet in Principes d’accompagnement des écoles d’Italie (1804) zunächst in enger Anlehnung an Catel zwischen accords primitifs, ou accords naturels, die ohne besondere Form der Vorbereitung verwendet werden, und accords secondaires ou artificiels (Bsp. 8).[56] Zur ersten Kategorie zählt er dieselben Akkorde wie Catel und zusätzlich die beiden Nonenakkorde der V. Stufe ohne Septime. Auch er widerspricht sich offen, indem er den Septakkord der VII. Stufe in Dur und die Nonenakkorde unter der Überschrift Des accords primitifs ou naturels behandelt und trotzdem bemerkt, dass nicht alle deren Umkehrungen (dérivés bzw. renversements[57]) ohne Vorbereitung verwendet würden. Und ebenfalls wie Catel erklärt er übermäßige Sexten als Ergebnis einer Alteration, die er allerdings (anders als Catel) auf die 4. Stufe der Mollskala beschränkt sehen will. Ausdrücklich verortet er dementsprechend den Septakkord mit verminderter Terz, Quinte und Septime auf der erhöhten IV. Stufe in Moll und den Septakkord mit großer Terz, verminderter Quinte und kleiner Septime auf der II. Stufe (vor einer V.) in Moll.[58]
Beispiel 8: Alexandre Choron / Vincenzo Fiocchi, Principes d’accompagnement des écoles d’Italie, a): »Cet accord se pratique en mineur sur la 4e élevée d’un demi ton.«, b): »Cet accord se place sur la 2e du ton mineur, allant à la 5e.«[59]
In Principes de composition des écoles d’Italie (1808) benennt Choron die Kategorie accords primitifs in accords simples[60] um und zählt dazu nun auch den Dreiklang mit verminderter Terz und Quinte sowie die letztgenannten Akkorde, obwohl er zugleich darauf hinweist, dass sie und ihre Umkehrungen, sofern sie eine verminderte Terz über dem Bass enthalten, »selten« oder »kaum« ohne Vorbereitung verwendet würden. An späterer Stelle im Buch führt er für diese Akkorde deshalb die Kategorie accords mixtes[61] ein. Den übermäßigen Dreiklang betrachtet er hingegen als accord artificiel;[62] er könne demnach nicht ohne Vorbereitung eintreten.
Im postum veröffentlichten Manuel complet de musique vocale et instrumentale (1838) ändert Choron schließlich ein weiteres Mal die Benennung seiner accords primitifs bzw. accords simples: Akkorde, die wegen ihrer »angenehmen« Qualität keiner besonderen Vorbereitung bedürfen, seien deshalb schlichtweg »konsonant«. Wenn keiner ihrer Töne zudem eine Strebewirkung ausübe, seien sie accords consonnants libres, ansonsten accords consonnants appellatifs.[63] Indem er den verminderten Dreiklang der VII. Stufe in Dur pauschal letzterer Kategorie zuordnet, übergeht Choron in dieser Schrift, dass dessen Quinte (wie Sorge hervorgehoben hatte) in einigen Sequenzen auch in ihrer Fortführung wie eine Konsonanz behandelt wird, ihre Fortführung also allenfalls durch die Sequenzstruktur, nicht aber durch eine Tendenz des 7. und 4. Skalentons eingeschränkt ist. Akkorde mit verminderter Terz und übermäßiger Sexte bezieht er diesmal auf einen mode mixte,[64] eine mollare Skala mit kleiner Sekunde und großer Septime, die auf der Dominante in Moll ihren Ort habe.
›Dissonant‹ sind für Choron jetzt also nur noch Akkorde, die einer besonderen Form der Vorbereitung bedürfen. Diese Umdeutung kündigt sich bereits in den Principes d’accompagnement an, wo Choron unter Berufung auf Fedele Fenaroli festhält, dass die kleine Septime und verminderte Quinte (über dem 5. bzw. 7. Skalenton) »wahre Konsonanzen« seien, da sie keiner Vorbereitung, sondern nur einer Auflösung bedürften.[65] Tatsächlich schreibt Fenaroli in seinen Regole (1775) unter der bemerkenswerten Überschrift Assiomi Musicali vor, dass über der 5. Skalenstufe vor einer 1. eine kleine Septime, über der ansteigenden 7. Stufe eine verminderte Quinte, über der absteigenden 6. Stufe in Moll eine übermäßige Sexte und über der absteigenden 4. und 1. Stufe eine übermäßige Quarte gegriffen werden solle. Wie diese Klänge jeweils erreicht werden, spielt dabei für ihn offenbar keine Rolle. Außerdem bezeichnet er sämtliche Klänge der Oktavregel als Consonanze, also auch die Terzquartakkorde über der 2. und fallenden 6. Skalenstufe, die Quintsextakkorde über der steigenden 4. und 7. Stufe und den Sekundakkord über der fallenden 4. Stufe; den Begriff Dissonanze[66] reserviert er für alle anderen Synkopendissonanzen.
›Semidissonanzen‹ im Unterricht
Die Darstellung von Versuchen, »ungebundene Dissonanzen« in ein System einzubetten, könnte fortgesetzt werden. Der Hinweis auf die genannten Quellen dürfte aber ausreichen, um daran zu erinnern, dass
das Umkehrungsprinzip und die Annahme weggelassener Grundtöne in Theorien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht nur, aber in erheblichem Maße auch dazu da waren, diese Dissonanzen systematisch zu bündeln und zu erklären,
sich dabei stets gewisse Ungereimtheiten nachweisen lassen,
es auch Ansätze gegeben hat, diese Art von Dissonanzbehandlung auf andere Weise zu begründen,
Versuche, Veränderungen in der satztechnischen Praxis theoretisch gerecht zu werden, zur Erschließung neuer satztechnischer Möglichkeiten und kompositorischer Spielräume anregen und somit von sich aus stilistische Entwicklungen befeuern konnten.
All dies kann im Rahmen einer Einführung in die Prinzipien abendländischer Mehrstimmigkeit anhand von Ausschnitten aus den erwähnten Texten thematisiert werden. Nachhaltiger dürfte das Verständnis der Lernenden allerdings ausfallen, wenn eine solche Einführung vor allem auf einer Reihe von Erfindungsaufgaben basiert, die von Lektüre- und Analyseaufgaben und daran anknüpfenden Unterrichtsgesprächen begleitet werden.
Soll eine solche Reihe die Vor- und Nachteile des Umkehrungsprinzips nachvollziehbar machen, müssen solche Aufgaben zunächst Stile thematisieren, in deren Rahmen Dissonanzen im Sinne Crügers (siehe oben) im Wesentlichen entweder »im geschwinden Durchgange« oder »in der Bindung« verwendet werden: Übungen in Stilen des 16. Jahrhunderts also zum Beispiel, und seien es Lückentextaufgaben zu einfachen Chansons, Hymnen, Lamentationen usw. Besonders die Erfahrung, dass sich durch schlichte Addition von Stimmen zu einer Synkopendissonanz zahlreiche Klänge erzeugen lassen,[67] die aus der Sicht von Harmonielehren mitunter ›schwierig‹ sind, steigert meiner Erfahrung nach die Motivation von Studierenden, sich auf die für sie in der Regel neue, ›kontrapunktische‹ Perspektive auf Mehrstimmigkeit einzulassen.
Auf dieser Grundlage können dann bestimmte »ungebundene Dissonanzen« Stück für Stück eingeführt werden: die verminderte Quinte über dem Leitton, die Septime über dem Leitton, die übermäßige Quarte und die große Sekunde über der absteigenden 4. Stufe usw. Gegenüber den meisten Harmonielehren, die als erste dissonante Klänge den Dominantseptakkord und seine Ableitungen einführen und später dann die sogenannten ›Nebenseptakkorde‹, wird also in umgekehrter Reihenfolge vorgegangen: Die Synkopendissonanz ist der Hintergrund, von dem sich die »ungebundenen Dissonanzen« oder ›Semidissonanzen‹, wie ich sie im Unterricht nenne, abheben. Der Begriff ›Semidissonanz‹ hat meines Wissens keine historischen Vorbilder, erscheint mir aber prägnanter als ›ungebundene‹ oder ›anschlagende‹ Dissonanz. Zudem markiert er einen deutlichen Unterschied zu Sorges Begriff der »Pseudoconsonanzen«, die auch in ihrer Fortsetzung frei sind.
Als einfachste Aufgaben hierzu eignen sich kurze Generalbassübungen, die drei- und vierstimmig am Klavier realisiert und dann (eventuell transponiert) notiert werden sollen und die jeden dieser Fälle zunächst gesondert thematisieren, ehe sie sie kombinieren. Mit dem von mir entwickelten Lernkartenset Kartimento I können solche Übungen auf vielfältige Art spielerisch gestaltet werden.[68] Bei unbezifferten Bässen können Vorgaben gemacht werden, welche Semidissonanzen bei der Realisierung wie oft untergebracht werden sollen. Außerdem können solche Sätzchen nach ähnlichen Vorgaben von den Studierenden selbst entwickelt werden. Doch auch anhand jeder anderen Aufgabe in einem Idiom des 17. bis 19. Jahrhunderts lassen sich Semidissonanzen thematisieren, indem sie neben der Synkopendissonanz und dem Transitus als Möglichkeit der Dissonanzbehandlung peu à peu mit einbezogen werden: in zweistimmigen Fugensätzen im stile antico, in Suiten- und Triosonatensätzen, die auf der Grundlage eines unbezifferten Basses erstellt werden sollen, in Choral(außenstimmen)sätzen, Entwürfen von (Sonaten)Themen, Liedsätzen usw.
Planlos braucht diese schrittweise Einführung von Semidissonanzen ohne Zuhilfenahme des Umkehrungsprinzips zudem nicht zu sein. Vor dem Hintergrund einer zuvor eingeführten Kadenzlehre, die kadenzielle Fortschreitungen als Kombinationen von Klauseln erklärt, lassen sich zumindest einige dieser Fälle auseinander ableiten (Bsp. 9).
Beispiel 9: ›Erste‹ Semidissonanzen
Ausgangspunkt ist hierbei
a) die verminderte Quinte über einer ansteigenden 7. Stufe als Resultat einer vorweggenommenen Durchgangsnote in einer Ergänzungsstimme (›Terzfall-Altklausel‹) zu dieser diskantisierenden kadenziellen Fortschreitung im Bass. Sie sei also die ›erste‹ Semidissonanz.[69] Als Füllton kann gleichzeitig die Sexte erklingen (›Liegeton-Altklausel‹). Wenn im Sinne des Prinzips der ›besten Lage‹ im Folgeklang eine vollkommene Konsonanz zwischen den Außenstimmen vermieden werden soll, muss die verminderte Quinte über dem ersten Basston in der Oberstimme liegen. Danach folgen
b) die Septime über dem Leitton, die die Sexte als deren obere Nebennote ersetzt, sodass eine Fortschreitung in parallelen Terzen oder Sexten zum Abstieg der verminderten Quinte entsteht,
c) die Septime über der 5. Stufe als Intervall zwischen der Penultima der Bassklausel, die der diskantisierenden Wendung unterlegt werden kann, und der vorweggenommenen Durchgangsnote oder als Verwechslung des Quintsextakkords aus a),
d) die Quarte über der absteigenden 4. Stufe als Verwechslung der verminderten Quinte aus a), mit einer Sekunde als Füllton (›Liegeton-Altklausel‹).
Die Deutungen, die in dieser und den folgenden Aufzählungen nach dem Vorbild von Heinichen, Riepel u. a. vorgenommen werden, müssen sich in Analysen und in der musikalisch-praktischen Arbeit bewähren: Inwiefern finde ich die Angaben zur ›besten Lage‹ eines Akkords in konkreten Stücken bestätigt? Wie beeinflussen sie meine innere Hörvorstellung? Wie ändert sich mein ›Zugriff‹ auf diese Klänge beim Improvisieren, wenn ich sie anders denn als Umkehrungen denke? Was nützt mir die Unterscheidung zwischen Gerüstintervallen und Fülltönen beim Partiturspiel, beim Arrangieren und Variieren, beim Instrumentieren, in der Probenarbeit mit einem Ensemble? Studierende, die von sich aus auf solchen Fragen insistieren, haben bereits eine wichtige Kompetenz erworben, indem sie hierdurch zeigen, dass sie die Inhalte des Musiktheorieunterrichts mit ihrer Musizierpraxis verknüpfen. Alle anderen sollten bei jedem geeigneten Anlass mit solchen Fragen konfrontiert werden.
Die Kombination von Quarte und Terz über der absteigenden 4. Stufe erscheint ohne Bindung je nach Kontext und Außenstimmensatz
als Verwechslung eines Septakkords über der 7. Stufe, eines Sekundakkords über der 6. Stufe oder eines Quintsextakkords über der 2. Stufe (Bsp. 10a),
als Resultat einer Antizipation der Quarte als Durchgangs- oder Wechselnote (Bsp. 10b und 10c) im Rahmen eines Gerüsts aus absteigenden Dezimen,
als alternative Ausfüllung der Quarte als Gerüstintervall (statt der Sekunde, siehe oben) zugunsten einer Parallelbewegung zum Bass (Bsp. 10d).
Beispiel 10: Terz und Quarte über der absteigenden 4. Stufe
Beispiel 11 zeigt eine kurze Generalbassübung, die einige dieser Situationen in den Fokus rückt. Das obere System deutet hier die aus meiner Sicht beste Lage an; Alternativlösungen wären mit den Studierenden zu diskutieren:
Beispiel 11: Generalbassübung (d. Verf.), die insbesondere den Terzquartakkord über der 4. Bassstufe thematisiert
Die semidissonante Sekunde über der absteigenden 6. Stufe und die Quarte als ihr Begleitton entstehen
durch Verwechslung eines Terzquartakkords über der 4., eines Septakkords über dem 7. oder eines Quintsextakkords über der 2. Stufe (Bsp. 12a),
durch eine betonte Durchgangsnote im Bass (Bsp. 12b).
Beispiel 12: Die semidissonante Sekunde über der absteigenden 6. Stufe
Außerdem beschreibt Heinichen Fortschreitungen, bei denen der Basston des Sekundakkords im vorherigen Akkord in einer anderen Stimme und gegebenenfalls auch in einer anderen Oktave als Terz vorhanden ist (Bsp. 12c).[70] Hier kann der Sekundakkord somit als Verwechslung eines Klangs mit Synkopendissonanz betrachtet werden (Bsp. 12d). Zudem weist Heinichen auf die Möglichkeit hin, eine phrygische Kadenz mit Liegetönen als Füllstimmen zu realisieren (Bsp. 12e).[71]
Die Quinte neben der Sexte über der 2. Stufe schließlich (sofern sie ebenfalls als Semidissonanz, also nicht als gebundene Quinte behandelt wird) zieht bei ihrer Ein- und Weiterführung unter Umständen Quintparallelen nach sich. Bezeichnenderweise stand Riepel auch diesem Klang ablehnend gegenüber.[72] Außer als Verwechslung wird er (wenn auch nicht sehr oft) in Moll als alternative Ausfüllung der Sexte als Gerüstintervall (statt der weiter oben diskutierten Quarte) verwendet (Bsp. 13a und 13b). Die Quinte ist dann also ein Begleitton zur Terz, die der primäre Füllton dieser Sexte ist. In Dur wird diese seltene Quinte hingegen allenfalls in der Oberstimme verwendet, zugunsten der Weitung eines Außenstimmensatzes 8-10-8 zu 10-12-10 (Bsp. 13c).
Beispiel 13: Quinte und Sexte über der 2. Stufe
Als nächster Ausgangspunkt bietet sich der Fall der verminderten Quinte über der aufwärts alterierten 4. Stufe an. Insbesondere in Moll kann diese Stufe nicht grundsätzlich als Indiz einer Ausweichung in die Tonart der V. Stufe, also nicht als ein Semitonium modi betrachtet werden. Wäre dies der Fall, würde man in Moll nach dieser Stufe eher einen Molldreiklang (als Tonika dieser Tonart der V. Stufe) denn einen Durdreiklang erwarten. Trotzdem können sich zu dieser Quinte dieselben Semidissonanzen gesellen wie zur Quinte über dem Semitonium modi (so ›als sei sie‹ eine 7. Stufe in der Tonart der V. Stufe), und es lassen sich daraufhin per Analogie alle bisherigen Formen ableiten, nun bezogen auf die aufwärts alterierte 4. Stufe.
Die übermäßige Sexte bzw. verminderte Terz lässt sich in aller Regel erklären als das Ergebnis einer Hochalteration der vorletzten Note einer Diskantklausel zu einer Tenorklausel, die als absteigende 6. Stufe in Moll vorliegt. Eine reizvolle Aufgabe kann allerdings darin bestehen, angeregt durch Sorge (siehe oben) ein überzeugendes Sätzchen zu erfinden, das eine übermäßige Sexte stattdessen zwischen dem Semitonium modi und der tiefalterierten (›phrygischen‹) 2. Stufe als Semidissonanz enthält.
Die übermäßige Quinte schließlich erscheint in ihrer ›französischen‹ Art, wie Rameau gezeigt hat, als Resultat einer Unterterzung der 5. Stufe in Moll, die eine Synkopendissonanz trägt (Bsp. 14).[73] Die None über dieser Unterterz gehört also nicht zu den Semidissonanzen, und auch die Septime über ihr (Füllquinte im Rahmen der Septime über der 5. Stufe) muss als Synkopendissonanz eingeführt werden. Die übermäßige Quinte hingegen wird wie eine zu groß geratene reine Quinte behandelt, bedingt durch das Semitonium modi, und ist somit eine Pseudokonsonanz im Sinne Sorges.
Beispiel 14: Die übermäßige Quinte in einem accord par supposition im Sinne Rameaus
Jenseits dieses Spezialfalls lässt sich die übermäßige Quinte wie bei Catel als (vorweggenommene) Alteration erklären, die nicht grundsätzlich an eine bestimmte Skalenstufe geknüpft ist. Der Akkord mit großer Terz und kleiner Sexte über der 5. Stufe in Moll besteht in einem bassbezogenen Denken aus Konsonanzen (wie auch der Sextakkord über der 2. Stufe) und stellt somit aus dieser Perspektive kein Problem dar.
Semidissonanz oder Akkorddissonanz? Verwechslung oder Umkehrung? Akkordgrundtonbestimmung, ja oder nein? – Sinnvoller als die Ablehnung einer Sichtweise zugunsten einer anderen ist natürlich die Reflexion darüber, inwiefern dieses oder jenes Konzept mit einem Zugewinn oder Verlust an Differenzierung einhergeht, wo sein spekulativer Gehalt, seine praktischen Vorzüge, seine systematischen Stärken, seine Systemzwänge liegen. Gerade im 18. Jahrhundert wechselten Musiker je nach Fragestellung wie selbstverständlich die theoretische Perspektive.[74] Klar ist, dass ein solcher Reflexionsprozess nach den wenigen Semestern musiktheoretischen Unterrichts, die Studierende hierzulande geboten bekommen, erst angebahnt sein kann. Dass er bis dahin angebahnt worden ist, ist aber ein Anspruch, für den sich, wird er offen kommuniziert und anhand abwechslungsreicher Aufgaben verfolgt, das Gros der Studierenden gewinnen lassen dürfte.
Anmerkungen
Heinichen 1728, 602f. | |
Wichtig sind mir in diesem Kontext insbesondere die Dissertationen von Nathalie Meidhof (2016) und Ludwig Holtmeier (2017). | |
Die Begriffe ›oberes Ende‹ / ›unteres Ende‹ eines (dissonanten) Intervalls werden hier in Anlehnung an Friedrich Wilhelm Marpurgs Unterscheidung »oberer Terminus« / »unterer Terminus« eines Simultanintervalls verwendet (das gegebenenfalls Teil eines mehrstimmigen Klangs sein kann); siehe z. B. Marpurg 1760, 145. So wäre in einem Akkord g-h-d1-f1 der Ton h das ›untere Ende‹ der verminderten Quinte h-f1. | |
Heinichen 1728, 602 (Hervorhebungen von Fremdwörtern original; so auch im Folgenden bei weiteren Quellenzitaten). Vollständig lautet der Vers Juvenals (Satiren VI): »Hoc volo, sic jubeo, sit pro ratione voluntas.« (»Dies will ich, so befehle ich es, als Grund genüge mein Wille.«) | |
Gasparini 1722, 39 und 46. | |
»Quoyque l’usage ordinaire demande que la Dissonance soit précédée d’une Consonnance, on ne laisse pas de se dispenser quelquefois de cette Regle, & on en fait qui ne sont point précedées; cela se connoît par le bon usage, & par le bon gout.« (Boyvin 1705, 2f.) | |
»[…] donc la Regle [sic] de preparer [sic] les dissonances ne doit point être generale […].« (Rameau 1722, 81f.) Vgl. auch: »Progression fondamentale d’une 3. en montant, où la Dissonance […] ne peut estre preparée [sic].« (Ebd., 419) | |
Heinichen 1728, 602. | |
Ebd., 604. | |
Ebd., 603–605. | |
Vgl. z. B. ebd., 119f. und 140–143. | |
Vgl. dazu ausführlich Holtmeier 2007 und Holtmeier 2017, 134–144. | |
Vgl. ebd., 160–171 (Zitate: 171). Vgl. dazu auch Diergarten 2010. | |
Heinichen 1728, 107. | |
Vgl. ebd., 622f. | |
Riepel 1786, 34. | |
Ebd., 33f. und 55f. | |
Vgl. ebd., 33f. | |
Vgl. Sorge 1745–47, 21 sowie dazu Holtmeier 2017, 205–212. | |
Für Beispiele der Verwendung der verminderten Terz in Musik seit 1650 vgl. Ellis 2010. | |
Riepel 1786, 55. | |
Ebd., 54f. | |
Für eine Darstellung weiterer Arten von Terzquartakkorden, die für die Musik des 18. Jahrhunderts relevant sind, vgl. Holtmeier/Menke/Diergarten 2013, 196–205. | |
Vgl. Riepel 1786, 55. | |
Choron 1804, 9. »Jedes Beispiel geben wir in allen Lagen; doch es muss angemerkt werden, dass nicht alle gleich gut sind. Für alle konsonanten Akkorde ist diejenige die beste, bei der die Außenstimmen eine unvollkommene Konsonanz bilden, und für die dissonanten Akkorde diejenige, bei der diese Stimmen Dissonanzen bilden.« (Übers. d. Verf.) | |
Holtmeier/Menke/Diergarten 2013, 102, 208, 234 und 272. | |
Für eine detaillierte Darstellung von Sorges Beiträgen zur Harmonielehre, ihren Vorbildern und ihrer tragischen Rezeptionsgeschichte vgl. Holtmeier 2017, 184–318. | |
Sorge 1745–47, 337f. | |
Ebd., 337. | |
Ebd., 362f. | |
Ebd., 341. | |
Ebd., 342. | |
Ebd., 359f. | |
»Remarquons bien ceci; car nous voici arrivés à l’un des faits les plus importants de l’histoire de l’harmonie […]. Pour la première fois, il est établi par lui qu’un accord dissonant existe par lui-même« (Fétis 1840, 124). | |
»Frattanto dirò che questa tal 7a gode tanti privilegi soltanto per essere molto analoga nel suo rapporto e costruzione alla 7a armonica di 4 a 7, la quale è di natura anfibia, cioè: non consonanza, nè perfetta e vera dissonanza.« (Vallotti 1950, 347.) Zu Vallottis Lebzeiten wurde nur das erste Buch seines magnum opus gedruckt (1779). Die Bücher 2 bis 4 sind erst 1950 im Druck veröffentlicht worden. Zum möglichen Einfluss der Paduanischen Musiktheorie auf die deutsche vgl. Holtmeier 2017, 321f. | |
Vogler 1776, 14f. | |
Sorge 1745–47, 346. | |
Ebd., 363. | |
Vgl. ebd. Auch den Akkord mit verminderter Septime, verminderter Quinte und verminderter Terz über der erhöhten 4. Stufe beschreibt Sorge als Durchgangsakkord (vgl. ebd). | |
Sorge 1760, 24f. | |
Ebd., 25. | |
Graun 1773, 144. | |
Sorge 1760, 25. | |
Sorge 1745–47, 125. | |
Vgl. ebd., 27–33. | |
Ebd., 366 und 377. | |
Als Erklärung hierzu lässt sich anführen, dass die Quintfallsequenz mit Terzquintklängen eine reduzierte Form der Quintfallsequenz mit gebundenen Septimen ist. Die Quintfälle sind Diminutionen eines Gerüstsatzes, der aus einer Synkopendissonanzkette besteht. Hier sind die Quinten in den einzelnen Akkorden somit nachgeordnete Fülltöne, die erst ab der Vierstimmigkeit hinzugenommen und dabei der herrschenden Tonleiter angepasst werden. In der Quintanstiegssequenz hingegen sind sämtliche Stationen zunächst ›Toniken‹ im Sinne Rameaus: konsonante Klänge, die keinerlei Fortsetzungszwang unterliegen, sondern willkürlich fortgesetzt werden können (bis ihnen z. B. eine Sexte hinzugefügt wird). In solchen Toniken haben verminderte und übermäßige Intervalle grundsätzlich keinen Platz. | |
Keine Versetzungen ertrage z. B. die »große ungebundene Septime, welche bey liegenden Basse über sich in die Octav auflösen muß.« (Ebd., 369) | |
Vgl. auch Holtmeier 2017, 169 und 209. | |
Vallotti 1950, 255f. | |
Catel 1802, 9. Vgl. dazu ausführlich Meidhof 2016, 157–162. In den folgenden Ausführungen zu Catel und Choron fasse ich Informationen aus Meidhofs Dissertation zusammen, die für das Thema dieses Aufsatzes relevant sind (insbesondere aus dem dortigen Kap. 2.3), ergänzt um Beobachtungen aus meiner eigenen Lektüre dieser Autoren. | |
Vgl. Catel 1802, 17f. | |
Vgl. ebd., 13f. | |
Ebd., 15. | |
»On peut altérer une ou plusieurs notes d’un accord, quand cette altération conduit la note à son but. […] Tous les accords sont susceptibles de recevoir une ou plusieurs altérations. […] L’altération se fait également dans les renversemens [sic].« (Ebd., 58) »L’altération peut être faite sans être précédée de la note naturelle.« (Ebd., 60) | |
Choron/Fiocchi 1804, XXII. | |
Ebd., XXVI. Die Ableitung der Septakkorde über dem Leitton in Dur und Moll als verkürzte Nonenakkorde bewertet Choron als belanglos: »Il faut remarquer aussi que plusieurs Auteurs ne regardent pas ces deux accords comme fondamentaux et primitifs, mais comme des accords de Neuvième sur la Cinquième du ton, desquels on retranche la fondamentale. Nous ne nous arrêtons pas à ces considérations indifférentes.« (Ebd., XXVII) | |
Vgl. ebd., XVI und XXVIII. | |
Ebd., XVI. | |
Choron 1808, Buch 1, 15. Zwischen den oberen Stimmen dieser Akkorde soll laut Choron außerdem entweder eine übermäßige Sexte oder verminderte Dezime (also keine verminderte Terz) liegen. | |
Ebd., Buch 1, 74f. | |
Ebd., Buch 1, 73. | |
Choron/La Fage 1836, 142f. | |
Ebd., 146 und 149. | |
»La Septième Mineure et la fausse-Quinte sont de vraies Consonances, puisqu’elles n’ont pas besoin de séparation, mais seulement d’une résolution qui s’opère en les faisant descendre d’un degré. (Fenaroli.)« (Choron/Fiocchi 1804, 3) | |
Vgl. Fenaroli 1775, 6 und 9. | |
Nach der Maßgabe, dass zur Sekunde über bzw. Septime unter der Synkope konsonante Intervalle gesetzt werden und diese entsprechenden Töne auch unter sich konsonante Intervalle bilden. | |
Vgl. https://glarean.mh-freiburg.de/kartimento (15.12.2019). | |
Der verminderten Quinte wurde bereits im 16. Jahrhundert eine Zwischenstellung in der Zweiteilung Konsonanz–Dissonanz zuerkannt. Vgl. Zarlino 1558, Bd. 3, 180. | |
Vgl. Heinichen 1728, 237. | |
Ebd. | |
»Weißt du was? Den Accord No. 2. [ein Quintsextakkord H-d-f-gis] habe ich in meinem Leben weder leiden können, noch jemals gesetzet; denn er hat, ich weiß nicht was, immer widerwärtiges in sich.« (Riepel 1757, 40) | |
Vgl. Holtmeier 2017, 252f. | |
So z. B. Johann Georg Albrechtsberger; vgl. Aerts 2017. |
Literatur
Aerts, Hans (2017), »J. G. Albrechtsberger, Gründliche Anweisung zur Composition«, in: Musiktheorie von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Ullrich Scheideler und Felix Wörner, Kassel: Bärenreiter / Stuttgart: Metzler, 14–16.
Boyvin, Jacques (1705), Traité abrégé de l'accompagnement pour lʼorgue et pour le clavecin, 2. Auflage, Paris: Ballard.
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Choron, Alexandre (1808), Principes de composition des écoles d’Italie, Paris: Le Duc.
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Choron, Alexandre / Adrien de La Fage (1838), Manuel complet de musique vocale et instrumentale, ou Encyclopédie musicale, Bd. 2, Paris: Roret.
Diergarten, Felix (2010), »Ancilla Secundae: Akkord und Stimmführung in der Generalbasslehre«, in: Musik und ihre Theorien. Clemens Kühn zum 65. Geburtstag, hg. von Felix Diergarten, Ludwig Holtmeier, John Leigh und Edith Metzner, Dresden: Sandstein, 132–148.
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Gasparini, Francesco (1722), L’armonico pratico al cimbalo [1708], 4. Auflage, Bologna: Silvani.
Graun, Carl Heinrich (1773), Duetti, Terzetti, Quintetti, Sestetti, ed alcuni Chori […], Bd. 1, Berlin: Decker und Hartung.
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Marpurg, Friedrich Wilhelm (1760), Herrn Georg Andreas Sorgens Anleitung zum Generalbass und zur Composition. Mit Anmerkungen von Friedrich Wilhelm Marpurg, Berlin: Lange.
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Rameau, Jean-Philippe (1722), Traité de l’Harmonie, Paris: Ballard.
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Hochschule für Musik Freiburg [Freiburg University of Music]
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