August Reißmanns Hauptmann-Lektüre
Über einen entlegenen Beitrag zur frühen Hauptmann-Rezeption
Kilian Sprau
Der Musikschriftsteller August Reißmann (1825–1903) profilierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als sprachgewandter und engagierter Vertreter einer konservativ ausgerichteten, anti-neudeutschen Musikbetrachtung. U.a. trat er als Vertreter einer historisch ausgerichteten Formenlehre auf und setzte sich für die Verbreitung der Schriften Moritz Hauptmanns ein. So stellt etwa seine Studie Das deutsche Lied in seiner historischen Entwicklung (Reißmann 1861) nicht nur einen wichtigen Beitrag zur historischen Liedforschung, sondern auch ein interessantes Dokument der Hauptmann-Rezeption dar. Propagiert wird darin, mit Bezug auf Hauptmanns dialektische Deutung der Dur-Moll-Tonalität, die Auffassung, erst das »moderne Tonsystem« habe der Musik zur »Formvollendung« verholfen. Anders als die kirchentonale Moduslehre erlaube es einen »natürlich freien« »Formationsprozess«, der die Integration von »einheitlich geschlossenen« Teilabschnitten in übergeordnete Formkonzeptionen ermögliche. Nach Reißmanns Darstellung hat sich dieses Potenzial zunächst im Volkslied entwickelt und von dort aus Eingang in die Kunstmusik gefunden, eine These, die er mithilfe zahlreicher musikalischer Analysen stützt. Seinem noch heute lesenswerten Buch geht eine kurze Zusammenfassung wichtiger Elemente aus Hauptmanns Tonalitätslehre voran. Der Beitrag stellt Reißmanns Liedgeschichte als Dokument der Rezeption von Hauptmanns zentralem Werk Die Natur der Harmonik und Metrik (1853) dar. An Originalzitaten wird Reißmanns Intention einer popularisierenden Vermittlung komplexer Theoriebildung verdeutlicht; vorgestellt werden auch ausgewählte Beispiele seiner um Anschaulichkeit bemühten musikalischen Analysen.
The music writer August Reißmann (1825-1903) made a name for himself in the second half of the 19th century as an eloquent and committed representative of a conservative, anti-New German approach to music. Among other things, he advocated a historically orientated theory of form and campaigned for the dissemination of Moritz Hauptmann's writings. His study Das deutsche Lied in seiner historischen Entwicklung (Reißmann 1861), for example, is not only an important contribution to historical song research, but also an interesting document of Hauptmann's reception. With reference to Hauptmann's dialectical interpretation of major-minor tonality, it propagates the view that it was only the »modern tonal system« that helped music achieve »perfection of form«. In contrast to the church tonal mode theory, it allows a »naturally free« »formation process« that enables the integration of »uniformly closed« sections into superordinate formal concepts. According to Reißmann, this potential first developed in folk song and from there found its way into art music, a thesis that he supports with the help of numerous musical analyses. His book, which is still worth reading today, is preceded by a brief summary of important elements from Hauptmann's theory of tonality. The article presents Reißmann's Liedgeschichte as a document of the reception of Hauptmann's central work Die Natur der Harmonik und Metrik (1853). Original quotations are used to illustrate Reißmann's intention of popularising complex theories; selected examples of his vivid musical analyses are also presented.
Universität der Künste Berlin [Université des arts de Berlin]
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