Jenseits des ›Contrapunctus‹
Zu einer These von Hugo Riemann und Klaus-Jürgen Sachs
Felix Diergarten
Wo immer heute von den satztechnischen Grundlagen und theoriegeschichtlichen Kontexten des französischsprachigen Liedsatzes im 14. Jahrhundert die Rede ist, fällt früher oder später der Begriff ›Contrapunctus‹. Seit den Schriften von Hugo Riemann und Klaus-Jürgen Sachs werden unter diesem Begriff üblicherweise die ab den 1330er Jahren entstandenen Lehrschriften zur Mehrstimmigkeit und deren Inhalte zusammengefasst. Dort zeigt sich – so die allgemeine Auffassung – nicht nur ein begriffsgeschichtlicher Wandel, sondern auch ein Wandel der Lehre selbst, der wiederum auf einen Wandel der Kompositionsgeschichte beziehbar ist. Diese Auffassung vom Begriff ›Contrapunctus‹ ist mittlerweile zu einem derart selbstverständlichen Teil des musikhistorischen und musiktheoretischen Diskurses geworden, dass es sich lohnt, einige fragwürdige Punkte, ja das ursprünglich ganz Hypothesenhafte dieses Problemkomplexes in Erinnerung zu rufen. Das betrifft erstens die unterstellte Verbindung der Begriffsgeschichte mit einer Entwicklung in der Praxis der Kompositionslehre. Das betrifft zweitens die unterstellte Verbindung zwischen Kompositionslehre und Kompositionsgeschichte. Das betrifft schließlich auch das dahinterstehende Geschichtsbild einer Herausbildung des ›eigentlichen‹ und ›geregelten‹ Kontrapunkts in der frühen Neuzeit und einer durch rationale Regeln charakterisierten ›abendländischen‹ Kunstmusik. Es lassen sich in der Auseinandersetzung mit der Theorie- und Kompositionsgeschichte des 14. Jahrhunderts jedoch einige Dinge besser und vielschichtiger begreifen, wenn die genannten Aspekte isoliert voneinander betrachtet werden.
Sooner or later, the term ›contrapunctus‹ is mentioned wherever the technical foundations and theoretical-historical contexts of French-language song writing in the 14th century are discussed. Since the writings of Hugo Riemann and Klaus-Jürgen Sachs, this term has usually been used to summarise the treatises on polyphony and their contents written from the 1330s onwards. The general view is that this not only shows a change in the history of the term, but also a change in the doctrine itself, which in turn can be related to a change in the history of composition. This view of the term ›contrapunctus‹ has now become such a self-evident part of the discourse on music history and music theory that it is worth recalling some questionable points, indeed the originally entirely hypothetical nature of this complex of problems. Firstly, this concerns the assumed connection between the history of concepts and a development in the practice of composition teaching. Secondly, this concerns the assumed connection between composition teaching and composition history. Finally, this also concerns the underlying historical image of the development of ›proper‹ and ›ruled‹ counterpoint in the early modern period and of ›occidental‹ art music characterised by rational rules. However, when analysing the history of theory and composition in the 14th century, some things can be better and more complexly understood if the aforementioned aspects are considered in isolation from one another.
Hochschule Luzern [Haute école de Lucerne]
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