Handlungsraum oder Hürde?
Gedanken zur Operativität der Notenschrift in tempopolyphoner Musik
Philippe Kocher
ABSTRACT: Durch die räumliche Anordnung von Symbolen stellt die Notenschrift zeitliche Verläufe dar. Sie ermöglicht dadurch, die Ordnung dessen, was in der Zeit abläuft, nicht nur überblicken, sondern auch manipulieren zu können. Es wäre also anzunehmen, dass diese bildliche Eigenschaft der Schrift, die das Nacheinander in der Zeit zu einem Nebeneinander im Raum werden lässt, gerade bei komplexen Tempostrukturen zu Übersichtlichkeit und Verständlichkeit beiträgt und so ein operatives Potenzial entfaltet. Tatsächlich ist die Partiturdarstellung von tempopolyphoner Musik aber oft eine grafische Herausforderung. Die Festlegung der räumlichen Anordnung der Symbole ist bei der Gleichzeitigkeit verschiedener Tempi nicht trivial und oft mit einem erheblichen (rechnerischen) Mehraufwand verbunden. Dieser Beitrag möchte, unter Bezugnahme auf den aktuellen Diskurs zur Schriftbildlichkeit, Überlegungen dazu anstellen, wie die Notenschrift beim Komponieren von tempopolyphoner Musik ihre Funktion als Denk- und Handlungsraum entfaltet. Dazu werden Erkenntnisse aus einem laufenden Forschungsprojekt beigezogen, die sich auf Beobachtungen, Analysen und Interviews mit den beteiligten Komponist*innen stützen.
Musical notation represents the progress of time through the spatial arrangement of symbols. It thus provides not only an overview of the temporal arrangement of events but also the possibility to manipulate it. One would therefore assume that this graphical property of musical notation, which turns the succession in time into a juxtaposition in space, would contribute to clarity and comprehensibility, especially in complex tempo structures, and thus develop an operative potential. In reality, however, the representation of polytempic music in a score often presents a graphical challenge. Determining the symbols’ positions is not trivial when different tempos are played simultaneously, often requiring considerable additional (mathematical) effort. Regarding the current discourse on ‘notational iconicity’, this article reflects on how when composing polytempic music, notation unfolds its function as a space for thinking and acting. For this purpose, the author refers to findings from an ongoing research project, based on observations, analyses and interviews with the involved composers.
Zürcher Hochschule der Künste [Zurich University of the Arts]
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