Notation und Analyse von Tonhöhenverläufen in Sprechmelodien
Manuel Durão
ABSTRACT: Neuere Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Musikpsychologie zeigen, dass die subjektive Beurteilung, ob jemand spricht oder singt, nicht nur von Eigenschaften des empfangenen akustischen Signals abhängt. Obwohl die Tonhöhe beim Sprechen anders moduliert wird als beim Singen, kann der Tonhöhenverlauf einer gesprochenen Äußerung vom Rezipienten als eine musikalische Tonfolge wahrgenommen werden. Dieser Eindruck brachte Musikschaffende und Sprachwissenschaftler bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts dazu, Sprechmelodien in Form musikalischer Notenschrift aufzuzeichnen. Im aktuellen Diskurs der Linguistik setzte sich diese Art von Notation nicht durch. Für die Beschreibung der grammatikalisch relevanten Eigenschaften der Sprechmelodie in Intonationssprachen wie Deutsch und Englisch werden schematische Darstellungen eingesetzt, in denen es im Wesentlichen auf die binäre Unterscheidung zwischen Hoch- und Tieftönen ankommt. Um die Sprechmelodie aus musiktheoretischer Sicht zu betrachten, kann sich jedoch die Transkription in musikalische Notenschrift als ein wertvolles Werkzeug erweisen. Durch die Notation wird die Vielfalt der intervallischen Strukturen von Sprechmelodien erfassbar und eine Grundlage für deren musikalische Analyse geschaffen. In diesem Artikel wird zunächst ein methodischer Ansatz zur gehörmäßigen Erfassung von Sprechmelodien erprobt. Der Vergleich zwischen der exemplarisch transkribierten Sprechmelodie und den Messwerten der Grundfrequenz des Sprachsignals deutet darauf hin, dass das Gehör die verfügbare Tonhöheninformation selektiert, um daraus die Vorstellung einer musikalischen Tonfolge zu konstruieren. Im Bereich von Tonhöhenakzenten orientiert sich die Wahrnehmung scheinbar nach dem lokalen Maximum der Grundfrequenzfunktion, während sich in den übrigen Silben deren Mittelwert als auschlaggebend herausstellt. Anhand der Transkription werden mögliche analytische Ansätze dargelegt, die strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen sprachlichen und musikalischen Melodien veranschaulichen.
Recent research results from the field of music psychology show that the subjective assessment of whether someone speaks or sings does not only depend on the characteristics of the received acoustic signal. Although the pitch is modulated differently when speaking than when singing, the recipient can perceive the pitch of a spoken utterance as a musical tone sequence. This impression has since the end of the 18th century led musicians and linguists to record speech melodies in the form of musical notation. In the current discourse of linguistics, this kind of notation has not prevailed. For the description of the grammatically relevant characteristics of the speech melody in intonation languages such as German and English, schematic representations are used in which the main focus lies on the binary distinction between high and low tones. However, to approach speech melody from the perspective of music theory, the transcription in musical notation can be a useful tool. Notation allows to capture the variety of intervallic structures of speech melodies and provides a basis for their musical analysis. This paper introduces a methodical approach to the aural recording of speech melodies. The comparison between the transcribed speech melody and the measured values of the fundamental frequency of the speech signal suggests that the auditory system selects the available pitch information in order to construct the representation of a musical tone sequence. In the area of pitch accents, the perception seems to be driven by the local maximum of the fundamental frequency function, while in the remaining syllables, its mean value appears to be determinant. Based on the transcription, possible analytical approaches are presented, illustrating structural similarities between linguistic and musical melodies.
Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim, Staatliche Hochschule für Musik Trossingen [University of music and performing arts Mannheim, University of Music Trossingen]
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