Zwischen Federkiel und digitaler Codierung
Musikalische Schrift als mediales Spannungsfeld
Stefan Münnich
ABSTRACT: Digitale musikschriftliche Codierungen fordern heraus: Sie zwingen dazu, den Begriff von musikalischer Schrift und Notation, der die Musikgeschichtsschreibung im lateinisch-westlichen Kulturraum seit ihren Anfängen mitgeprägt hat, zu hinterfragen, zu überdenken, neu zu verhandeln. Wie können digitale Formen musikalischer Schrift in einen Schriftbegriff integriert und theoretisch aufgefangen werden? Sind Schrift und Notation gleichzusetzen? Worin liegen die Gemeinsamkeiten, worin die Unterschiede historischer und gegenwärtiger musikschriftlicher Aufzeichnungsformen? Nach einer terminologischen Präzisierung der maßgeblichen Begrifflichkeiten will sich der Beitrag den hier angedeuteten Fragestellungen aus einer zeichentheoretischen Perspektive nähern, indem die (nicht musikspezifischen) Notationsmodelle von Nelson Goodman und Roy Harris einander gegenübergestellt und auf ihre Tauglichkeit als mögliches Beschreibungsmodell im Zusammenhang mit Musiknotationen untersucht werden. Mit dem daraus entwickelten Begriff musikalischer Schrift wird abschließend ein kurzer Blick auf heute gängige Musikcodierungsformate (MEI, Lilypond, und MusicOWL) geworfen. Letztlich sollen die aufgeworfenen Fragen einen Teilbereich jenes medialen Spannungsbereiches ausleuchten, den die Verschriftlichung von Musik in vielfältiger Weise noch immer und immer wieder eröffnet.
Digital music writing encodings pose challenges: They force us to question, rethink and renegotiate the concept of musical writing and notation which has shaped the historiography of music in the Latin-Western cultural sphere since its beginnings. How can digital forms of musical writing be integrated into and theoretically addressed by a concept of writing? Are writing and notation the same? What are the similarities, what the differences between historical and contemporary forms of music writing? Following a terminological clarification of the relevant concepts, this paper will approach these questions from a sign-theoretical perspective by contrasting the (non-music-specific) notation models of Nelson Goodman and Roy Harris and examining their suitability as possible descriptive models in connection with musical notation. Finally, with the concept of musical notation developed from this model, some nowadays commonly used music encoding formats (MEI, Lilypond, and MusicOWL) will briefly be considered. Ultimately, the questions raised are intended to illuminate a sub-area of that medial area of tension which the notation of music still opens up in various ways, time and again.
Universität Basel [University of Basel]
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