Formfunktionen der Sonatenform
Ein Beitrag zur Sonatentheorie auf der Grundlage einer Kritik an William E. Caplins Verständnis von Formfunktionen[1]
Ulrich Kaiser
Der Beitrag setzt sich kritisch mit einem derzeit häufig rezipierten Verständnis des Begriffs ›Formfunktion‹ (formal function) auseinander, das im Anschluss u.a. an die Formenlehre von Erwin Ratz im nordamerikanischen Diskurs entwickelt wurde. Ausgehend von dieser Kritik legt der Beitrag anhand der Formfunktionen ›Hauptsatz‹ (main theme), ›Überleitung‹ (transition), ›Seitensatz‹ (subordinate theme) und ›Schlussgruppe‹ (closing section) eine alternative Auffassung für die musikalische Analyse von Sonatenhauptsätzen dar, die an Sonatenkompositionen aus der zweiten Hälfte des 18. sowie des frühen 19. Jahrhunderts veranschaulicht wird.
This essay offers a critical view of a frequently adopted understanding of the term ›formal function‹, which had been established in North America in response to the theories of Erwin Ratz. Applying this critical view to the formal functions ›main theme‹, ›transition‹, ›subordinate theme‹, and ›closing section‹, an alternative concept for the musical analysis of sonata form is developed and illustrated with compositions from the second half of the eighteenth century and the early nineteenth century.
Erwin Ratz veröffentlichte 1951 im Österreichischen Bundesverlag eine Einführung in die musikalische Formenlehre[2], in der er ›Periode‹ und ›Satz‹ als Formstrukturen bzw. Gestaltungsweisen für den Themenbau klassischer Sonaten sowie als »eindeutig bestimmbare Grenzfälle entgegengesetzten Charakters«[3] deklarierte. Er adaptierte hierbei den ›Liedtypus‹ und ›Fortspinnungstypus‹ von Wilhelm Fischer[4] für seine Modelle Periode und Satz[5]; William E. Caplin bezeichnet diese Modelle als »theme-types«[6] (period und sentence). Unter ›types‹ werden im englischsprachigen Diskurs zur Sonatenform traditionelle Modelle der Formenlehre verstanden, die einerseits durch Eigenschaften beschreibbar sind[7] und denen andererseits eine Bestimmung fehlt, in welcher zeitlichen Position eines musikalischen Werks sie auftreten[8].
Als konzeptioneller Gegenbegriff zum type findet sich in nordamerikanischen Publikationen der Begriff ›formal function‹ (Formfunktion).[9] Am Anfang und Ende von Classical Form skizziert Caplin ein allgemeines Verständnis für diesen Begriff:
[…] formal function of the group that is, the more definite role that the group plays in the formal organization of a work.[10]
formal function[:] The specific role played by a particular musical passage in the formal organization of a work.[11]
Caplin sieht in formal functions eine Möglichkeit, die Zeiterfahrung bei der Wahrnehmung von musikalischen types zu beschreiben.[12] Für die Analyse dürfte der Wert eines solchen Verständnisses von Funktionalität unbestritten sein:
More formally, analysis may be said to include the interpretation of structures in music, together with their resolution into relatively simpler constituent elements, and the investigation of the relevant functions of those elements.[13]
Im allgemeinen Sinn bezeichnen Formfunktionen also die Bedeutung eines Elements für den musikalischen Zusammenhang. Caplins Begriff der Formfunktion ist jedoch äquivok, weil er nicht nur in diesem allgemeinen, sondern auch in einem wesentlich konkreteren Sinn verstanden wird:
It generally expresses a temporal sense of beginning, middle, end, before-the-beginning, or after-the-end.[14]
Caplin schränkt die Anzahl möglicher Funktionen auf fünf (temporale) Formfunktionen ein. Diese lassen sich als Erweiterung des »beginning-middle-end paradigm«[15] um »framing functions«[16] bzw. als modifizierte Adaption eines musiktheoretischen Diskurses verstehen, dessen Wurzeln im 16. Jahrhundert liegen dürften:
Dressler (1563) alluded to a formal organization of music that would adopt the divisions of an oration into exordium (›opening‹), medium and finis.[17]
Den drei Formfunktionen Anfang, Mitte und Ende entsprechen im Satz (sentence) bzw. auf der Ebene der theme-types die Formfunktionen ›presentation‹ (Anfang), ›continuation‹ (Mitte) und ›cadential‹ (Ende).[18] Der Periode (period) fehlt die Formfunktion Mitte, sie besteht aus ›antecedent‹ (Anfang) und ›consequent‹ (Ende).[19] Caplin vermag diese Formfunktionen in einem musikalischen Werk wie folgt zu erkennen:
Let me now […] briefly review the criteria used to identify formal functions. Here we must distinguish among hierarchical levels, for the criteria change depending upon whether the formal unit in question resides near the foreground or else embraces a larger stretch of time. At lower Ievels, the primary criterion is the kind of harmonic progression supporting the passage, in particular, whether the harmony is prolongational, sequential, or cadential.[20]
Die Harmonik ist für Caplin »primary criterion« zur Identifizierung einer spezifischen Formfunktion auf Ebene der theme-types. Im Hinblick auf den Satz (sentence) verweist eine »prolongational«-Harmonik auf die Formfunktion presentation (Anfang), eine »sequential«-Harmonik auf die Formfunktion continuation (Mitte) und eine »cadential«-Harmonik auf die Formfunktion cadential (Ende):
In general, prolongational progressions engender a sense of formal initiation, sequential ones express medial functions, and cadential progressions create formal closure. Working closely together with harmony are important processes of grouping structure, especially that of fragmentation, in which units become increasingly smaller in relation to prior sounding units. Such fragmentation is highly expressive of medial functionality, especially in the case of the continuation function of the sentence.[21]
Das Konzept, wonach die »harmonischen Vorgänge […] ein wesentliches Element hinsichtlich der formalen Funktion darstellen«[22], scheint Caplin von Ratz übernommen zu haben. Caplins Kopplung von Formfunktion und Harmonik ist dabei so fest, dass einem Seitensatz (subordinate theme) die Formfunktion Anfang ›fehlt‹, wenn er mit einer sequential-Harmonik beginnt.[23] Dass eine bestimmte Harmoniestruktur (sequential) eine bestimmte Funktion bewirkt, oder negativ gesagt: dass der Anfang einer Taktgruppe aufgrund seiner materiellen Beschaffenheit nicht mit der Funktion Anfang (presentation) identifiziert werden darf, lässt den Schluss zu, dass Caplins formal functions ›bewirkte Wirkungen‹ sind bzw. dass sein Funktionalismus, geht man ihm wissenschaftstheoretisch nach, kausalwissenschaftlich fundiert ist. Ein alternatives Verständnis für Funktionen legt der Soziologe und konstruktivistische Systemtheoretiker Niklas Luhmann dar:
Die Funktion ist keine zu bewirkende Wirkung, sondern ein regulatives Sinnschema, das einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen organisiert. Sie bezeichnet einen speziellen Standpunkt, von dem aus verschiedene Möglichkeiten in einem einheitlichen Aspekt erfaßt werden können. In diesem Blickwinkel erscheinen die einzelnen Leistungen dann als gleichwertig, gegeneinander austauschbar, fungibel, während sie als konkrete Vorgänge unvergleichbar verschieden sind.[24]
Es wäre allerdings ein Missverständnis zu glauben, Luhmann würde kausale Wirkungen in Frage stellen:
Luhmann fordert die Ablösung des kausalwissenschaftlichen durch einen vergleichenden Funktionalismus, er leugnet aber nicht die Bedeutung kausaler Analysen […]. Im Gegenteil: Kausale Analysen sind inhärenter und unabdingbarer Bestandteil einer jeden funktionalen, vergleichenden Analyse […].[25]
Doch mündet Luhmanns Revision vom Kausal- zum vergleichenden oder Äquivalenzfunktionalismus
in eine Inversion des Verhältnisses von Funktion und Kausalität: Funktionen sind nicht als kausale Beziehungen zu betrachten, sondern kausale Relationen sind kontingente, auch anders mögliche Anwendungsfälle von funktionalen Bestimmungen […].[26]
Eine Funktion in diesem Sinne würde aus der Perspektive ›Ist-Anfang-der-Taktgruppe‹ (Formfunktion Anfang) einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen ›organisieren‹ und es gegebenenfalls ermöglichen, eine initiale prolongational-Harmonik oder sequential-Harmonik als »gleichwertig, gegeneinander austauschbar, fungibel« anzusehen. Nur ein solcher Funktionalismus wäre in der Lage, Formfunktionen unabhängig von types zu erfassen, die kausalwissenschaftliche Argumentation dagegen versteht Funktionen als Wirkungen einer spezifischen Harmonik. Um Caplins Formfunktionen äquivalenzfunktional brauchbar zu machen, ist es notwendig, auf die Kopplung von Funktion und spezifischer Satztechnik zu verzichten. Und das gilt nicht nur für die Kopplung von Formfunktionen und Harmonik auf einem ›lower level‹[27], sondern auch für die von main theme (Funktion) und ›tight-knit‹ (satztechnische Eigenschaft) sowie subordinate theme (Funktion) und ›loose‹ (satztechnische Eigenschaft) auf höherer Ebene:
For these thematic functions are also distinguished by a host of compositional processes that Schoenberg generalized under the notion of ›tight-knit‹ (fest) versus ›loose‹ (locker) formal organization.[28]
Von Arnold Schönberg hatte bereits Ratz diese Kopplung übernommen, indem er als das Charakteristische des Hauptsatzes (Formfunktion) das ›fester Gefügte‹[29] (achttaktige Periode[30], achttaktiger Satz[31] und dreiteiliges Lied[32]) sowie des Seitensatzes und des ›Stehens auf der Dominante‹ das ›locker Gefügte‹[33] deklarierte. Das Ineinander von Funktionen, die durch satztechnische Strukturen (types) bewirkt werden, sowie types, die aus Funktionen gebildet werden, haben Steven Vande Moortele, Julie Pedneault-Deslauriers und Nathan J. Martin anschaulich beschrieben:
But the intermediate structures at each Ievel are functions in relation to their supervening types, types in relation to their constituent functions. A presentation, for instance, is a type if viewed as a concatenation of basic ideas, but as the first half of a sentence, it is a function. The same holds, mutatis mutandis, on the interthematic Ievel. Consider, for example, an exposition: it is a type consisting of a main theme, transition, and subordinate theme, but is the first formal function in a sonata form as a whole. […] Because of this interpenetration of function and type, functions themselves come to be colored with implicit content.[34]
Das hier beschriebene Theoriedesign gleicht somit einer Pyramide, in der sich Schichten aus types und formal functions abwechseln Abb. 1).
Abbildung 1: Theoriedesign der types und formal functions nach William E. Caplin
In seiner Rezension zu Caplins Classical Form hat Warren Darcy kritisiert, dass die »taxonomical machinery was clearly designed with good intentions, but at a certain point it simply spins out of control, classifying and categorizing everything in sight.«[35] Die feste Assoziation von Typen und Funktionen bzw. die fehlende Abstraktion des Funktionsbegriffs führt bei Caplin dazu, dass für Abweichungen von Typisierungen neue types gebildet werden müssen (z.B. ›hybrid themes‹[36] und ›compound themes‹[37]). Und mit Sicherheit wären weitere types zu entwerfen, würden nicht nur hochartifiziell designte Meisterwerke von »Haydn, Mozart, and Beethoven« in den Blick genommen, sondern auch weniger anspruchsvolle Kompositionen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Gemessen an der Perspektive des Äquivalenzfunktionalismus ist die Reichweite von Caplins »own theory of formal functions«[38] bescheiden, seine Theorie ist unflexibel und wirkt in den Beschränkungen dogmatisch.[39]
Caplins Dogmatik hat ihre Wurzeln in einer unkritischen Rezeption einer an Erwin Ratz orientierten deutschsprachigen Formenlehre-Tradition. Die formanalytischen Auffassungen des österreichischen Musikwissenschaftlers sind durchdrungen von einer holistischen, anthroposophisch-esoterischen Weltanschauung[40] sowie Ideen aus der Morphologie J.W. von Goethes.[41] Dieser ideologische Hintergrund der Formenlehre hat bisher weder in der deutschen noch in der nordamerikanischen Rezeption zu einer kritischen Distanz geführt, sondern prägt den Formenlehrediskurs dies- und jenseits des Atlantiks gleichermaßen. Doch um das in der Pyramide veranschaulichte Schichtenmodell aus types und functions konstruieren zu können, hat Caplin eine über die Auffassungen von Ratz noch hinausgehende Formalisierung vorgenommen. Diese wird deutlich, wenn man die Analysen des Hauptthemas (main theme) aus der Klaviersonate f-Moll op. 2/1 von Ludwig van Beethoven (sentence/Satz) von Caplin und Ratz vergleicht (Bsp. 1 und 2).[42]
Beispiel 1: Satz (sentence) nach William E. Caplin[43]
Beispiel 2: Satz (sentence) nach Erwin Ratz[44]
Audiobeispiel 1 und 2: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate f-Moll op. 2/1, T. 1–8
(Beethoven. The Piano Sonatas, Vladimir Ashkenazy, Decca London 443 707-2, 1995, Track 1, 0:00–0:09)
Caplin geht bei diesem Thema von einer achttaktigen Einheit aus, die in zweimal vier Takte gegliedert ist, wobei der zweite Viertakter eine Teilung in 1+1+2 Takte aufweist. Für eine derartige Unterteilung lässt sich weder bei Ratz noch bei Schönberg eine Entsprechung finden.[45] Ratz interpretiert (vergleichbar mit Schönberg) den zweiten Viertakter als ungeteilte Entwicklung, für die ein Abspaltungsprozess mit Beschleunigungseffekt charakteristisch ist (Entwicklung: 1+1+½+½+¼+¼).[46] Eine Zusammenfassung der kleingliedrigen Abschnitte ½+½+¼+¼ (Ratz) zu einer zweitaktigen Einheit (Caplin) verschleiert den Abspaltungsprozess. Dafür, dass dies beabsichtigt ist, spricht die Benennung: Die letzten zwei Takte bezeichnet Caplin als »cadential idea«, wodurch in Länge und Begriffswahl eine Entsprechung zur »basic idea«[47] erzeugt wird. Durch die Einführung der ›cadential idea‹ (type) schafft Caplin eine Entsprechung zur ›cadential function‹ (formal function), die substanzieller Bestandteil der ›continuation phrase‹ des ›sentence‹ (theme-type) ist. Auf höherer Ebene ist der sentence (›loose‹) wiederum assoziiert mit dem subordinate theme (formal function) und dieses muss im Verständnis Caplins mit einem Ganzschluss enden.[48] Die cadential idea steigt also wie eine Blase von der untersten Ebene bis zur höchsten Ebene der Exposition auf, was erst jene fraktale Verwendung des sentence-Begriffs erlaubt, die von Karl Braunschweig als »Expanding the Sentence«[49] bezeichnet worden ist und die sich im deutschsprachigen Diskurs bereits in den Analysen von Wilhelm Fischer zum Fortspinnungstypus nachweisen lässt.
Typ und Formfunktion in unterschiedlichen Verwendungsweisen
Bisher wurden in diesem Beitrag und im Anschluss an Caplin Einheiten als Typ (type) bezeichnet, die sich über satztechnische Eigenschaften beschreiben lassen. Der Begriff ›Formfunktion‹ (formal function) hingegen wurde demgegenüber neu definiert: Im Anschluss an Luhmann steht er für »ein regulatives Sinnschema, das einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen organisiert«. Dies könnte so verstanden werden, als solle hier die von Caplin behauptete, jedoch nicht eingelöste Differenz von type und function durch eine Neudefinition des Begriffs ›Formfunktion‹ gerettet werden. Doch das ist nicht der Fall. Denn auch ein Typ lässt sich wie eine Formfunktion als regulatives Sinnschema verstehen, das ›einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen organisiert‹. Dieser Sachverhalt wird im Folgenden anhand des Begriffs ›Periode‹ veranschaulicht.
Eine idealtypische Periode könnte eine Länge von acht Takten, im Vordersatz ein charakteristisches Motiv, eine strukturelle Oberstimmenbewegung – sowie einen Halbschluss, im Nachsatz eine Wiederaufnahme des Motivs, eine strukturelle Oberstimmenbewegung – sowie einen Ganzschluss am Ende aufweisen. Ein vielzitiertes Beispiel zur Veranschaulichung dieses Periodenmodells ist das Thema des Kopfsatzes der Klaviersonate A-Dur KV 331 (300i) von W.A. Mozart. Das Periodenmodell kann nun prinzipiell in zweifacher Weise im Rahmen einer musikalischen Analyse verwendet werden:[50]
Das Modell wird als Idealtypus im Sinne Max Webers eingesetzt[51], und in der Differenz von Idealtypus und musikalischer Gestaltung lässt sich das Individuelle einer musikalischen Komposition beschreiben (im Hinblick auf ein achttaktiges Periodenmodell mit mittigem Halbschluss z.B. eine innere Erweiterung des Nachsatzes oder eine Öffnung des Vordersatzes durch einen unvollkommenen Ganzschluss etc.). Eine solche Verwendung des Idealtypus bzw. Modells[52] ist für eine hermeneutische Perspektive charakteristisch, die auf ein Verständnis der Individualität des Analysegegenstands zielt. Eine hermeneutische Perspektive ist durch eine 1:1-Beziehung zwischen Modell und referenziertem Objekt gekennzeichnet.
Das Modell dient als konstanter Vergleichsgesichtspunkt und ermöglicht es, funktional äquivalente Gestaltungen zu erkennen. Zum Beispiel lassen sich im Hinblick auf ein Periodenmodell mit variabler Taktlänge[53] die Takte 1–7 und 17–24 im Kopfsatz der Klaviersonate D-Dur KV 311 (284c) von W.A. Mozart sowie die Takte 35–50 im ersten Satz der Klaviersonate C-Dur op. 53 von Beethoven als funktional äquivalent erkennen, das heißt als Taktgruppen, denen die Aufgabe zukommt, eine symmetrische, in sich geschlossene musikalische Einheit mit spezifischer innerer Dynamik (öffnend-schließend) zu bilden.[54] Da diese Verwendungsweise von der individuellen Gestaltung der konkreten Erscheinungen abhebt, wird sie als funktional bezeichnet. Für die funktionale Perspektive ist eine 1:n-Beziehung zwischen Modell und referenzierten Objekten kennzeichnend.
Aus der Perspektive hermeneutischer oder funktionaler Verwendungsweisen ist eine kategoriale Unterscheidung zwischen satztechnischen Modellen (types) und formfunktionalen Modellen (formal functions) überflüssig. Denn so, wie das Modell der ›Periode‹ um formfunktionale Eigenschaften erweitert werden kann (z.B. als Seitensatzperioden wie die oben genannten Perioden in KV 311 [284c], T. 17–24, und in op. 53, T. 35–50), lassen sich Formfunktionen mit satztechnischen Eigenschaften ausstatten (z.B. satzartige Überleitungen wie im Kopfsatz der Klaviersonate B-Dur KV 281 [189f], T. 9–17 von Mozart). Der Unterschied zwischen satztechnischen und formfunktionalen Modellen lässt sich darauf reduzieren, dass die Bestimmung formfunktionaler Modelle auch extrinsisch, also ausschließlich über den Kontext möglich ist, während eine Bestimmung satztechnischer Modelle nicht ohne intrinsische Eigenschaften auskommt (die Bestimmung einer Überleitung ist gegebenenfalls nur über den Kontext, z.B. als Verbindung von Haupt- und Seitensatz möglich, die Identifizierung einer Periode gelingt auf vergleichbare Weise nicht). Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass tendenziell eine höhere Anzahl von definierten Eigenschaften (bzw. eine höhere Konkretisierung) musiktheoretische Modelle für die hermeneutische Perspektive qualifiziert, wohingegen eine geringere Zahl von Eigenschaften (bzw. eine höhere Abstraktion) die Reichweite eines Modells für funktionale Vergleiche im Rahmen empirischer Forschungen erhöht.[55]
Das im Vorangegangenen Gesagte wirft die Frage auf, wie sich um satztechnische Eigenschaften reduzierte bzw. nur über den Kontext definierte Formfunktionen innerhalb eines Werks bestimmen lassen. Die Antwort ist unbequem: Das Erkennen abstrakter Formfunktionen ist kontingent[56]. An die Stelle fester Korrelationen zwischen Ursache (satztechnische Struktur) und Wirkung (Formfunktion) tritt ein Beobachter (die analysierende Person), der eine Formfunktion als eine kontingente Realisation aus musikalischen Parametern interpretiert. Das heißt, von verschiedenen Personen kann dieselbe Formfunktion in ein und demselben musikalischen Werk unterschiedlich erkannt werden, ohne dass sich in diesem Werk satztechnische Gegebenheiten benennen ließen, die für sich genommen bereits eine bestimmte Interpretation als die tragfähigste ausweisen könnten. Die Tragfähigkeit einer Interpretation erweist sich erst in der empirischen Arbeit. Denn in intertextuellen Vergleichen dienen Formfunktionen als konstante Vergleichsgesichtspunkte, die es ermöglichen, strukturell unterschiedliche musikalische Realisationen (Ursachen) in verschiedenen Werken hinsichtlich ihrer Formfunktion (Wirkung) als äquivalent erkennen zu können. Der höhere Erkenntniswert im Hinblick auf das jeweils gewählte Forschungsziel rechtfertigt dabei rückwirkend die Art der Bestimmung einer Formfunktion.
Abbildung 2: Alternatives Theoriedesign bzw. kontingente Formfunktionen und ihre Reichweite
Im Folgenden wird an zahlreichen Beispielen eine Auffassung der traditionellen Formfunktionen einer Exposition (›Hauptsatz‹, ›Überleitung‹, ›Seitensatz‹ und ›Schlussgruppe‹) veranschaulicht, die zum Teil von einer Verwendungsweise der Termini nach Ratz und Caplin erheblich abweicht. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass die hier vorgeschlagenen, alternativen Bestimmungen von Formfunktionen primär an harmonisch-kadenziellen Prozessen orientiert sind, während für Ratz und Caplin motivisch-thematische Gestaltung eine dominierende Rolle zu spielen scheint. Die Plausibilität der hier vorgeschlagenen Bestimmung von Formfunktionen ergibt sich dabei insbesondere durch vergleichende Analysen bzw. die Einbeziehung eines Repertoires, das üblicherweise nicht zu den ›Meisterwerken‹ gezählt wird und dessen Werke nicht durch ein hochartifizielles motivisch-thematisches Design geprägt sind (z.B. frühe Sonatenkompositionen von Mozart und Haydn).
Die Formfunktion Hauptsatz (main theme)
Eine Erklärung des Begriffs ›Hauptsatz‹ findet sich bei Heinrich Christoph Koch:
Unter den verschiedenen Absätzen eine [sic!] Melodie enthält gemeiniglich der erste derselben den Hauptgedanken, das ist denjenigen, der gleichsam die Empfindung bestimmt, welche das Ganze erwecken soll, und dieser wird das Thema oder der Hauptsatz genennet […].[57]
Nach Koch ist der erste Absatz der Hauptsatz; seine Formfunktion ist es, den Anfang einer Sonatenkomposition sowie die Ausgangstonart darzustellen. Als Beispiel für eine Periode als Hauptsatz führt Caplin die Takte 1–8 des zweiten Satzes der Klaviersonate D-Dur KV 311 (284c) von W.A. Mozart an (Bsp. 3).
Beispiel 3: W.A. Mozart, Klaviersonate D-Dur KV 311 (284c), zweiter Satz, T. 1–8, Periode[58]
Audiobeispiel 3: W.A. Mozart, Klaviersonate D-Dur KV 311 (284c), zweiter Satz, T. 1–10
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque, Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8682, 1990, Track 8, 0:00–0:26)
Sowohl aus historischer als auch aus systematischer Sicht ist dieses Beispiel im Hinblick auf die Bestimmung als Formfunktion ›Hauptsatz‹ unproblematisch: aus historischer Sicht, weil die Taktgruppe den Satzanfang bildet und mit einem Grundabsatz in der Haupttonart[59] endet, aus systematischer, weil sie sich als Periode am Satzanfang[60] beschreiben lässt. Der Vordersatz (antecedent) beginnt mit einer Phrase (b.i. = basic idea), die sich als Prolongation der ersten Stufe (tonic prolongational), als I-x-V-I-Initialformel[61] oder als ›Schema‹[62] (im Sinne Gjerdingens) verstehen lässt. Die zweite Phrase (c.i. = contrasting idea) beginnt mit einer Prolongation der IV. Stufe (Stimmtausch) als Anfang einer IV-I-V-I-Pendelharmonik[63] bzw. eines ›Prinner‹[64], der bzw. dem eine metrisch schwere Dominante als Halbschluss folgt (weak cadence). Periodentypisch wird im Nachsatz (consequent) die erste Phrase wiederholt (basic idea repetition) und die zweite mit einer stärkeren Kadenz abgeschlossen (stronger cadence).
Mit den folgenden Beispielen werden Hauptsatzgestaltungen anhand von gängigen Generalbassmodellen veranschaulicht, wobei Gestaltungen als Periode oder Satz mögliche, keineswegs jedoch zwingende motivisch-thematische Ausarbeitung zeigen.
W.A. Mozart hatte bereits im Alter von acht Jahren gelernt, Generalbassmodelle zu Perioden auszuarbeiten, was sich aus der begleiteten Klaviersonate G-Dur KV 9 (1764) schließen lässt. Für den ersten Satz wählte Mozart eine standardisierte Klangfolge, die er über das ›Nannerl-Notenbuch‹ kennengelernt haben könnte[65] und für die Warren Kirkendale die Bezeichnungen »L’Aria di Fiorenza«[66] vorgeschlagen hat. Während hier das Modell in einer einfachen Ausarbeitung erklingt (Bsp. 4a), hat Mozart es im zweiten Satz durch Wiederholung der Anfangsphrase und eine spezifische Anordnung der Taktgruppen zur Periode ausgearbeitet (Bsp. 4b).
Beispiel 4: W.A. Mozart, Sonate für Klavier und Violine G-Dur KV 9, Ausarbeitungen des ›L’Aria di Fiorenza‹-Generalbassmodells als Hauptsatz a. des ersten Satzes (T. 1–6) b. des zweiten Satzes (T. 1–8; periodische Ausarbeitung)
Audiobeispiel 4: W.A. Mozart, Sonate für Klavier und Violine G-Dur KV 9, erster Satz, T. 1–6 und zweiter Satz, T. 1–8
(Wolfgang Amadeus Mozart. Complete Works, Pieter-Jan Belder/Rémy Baudet, Brilliant Classics 92628/8, o.J., Aufnahme 2001, Track 11, 0:00–0:10 und Track 12, 0:00–0:19)
Das ›L’Aria di Fiorenza‹-Modell im periodischen Design findet sich nicht nur in Mozarts frühesten Kompositionen, sondern auch in späteren Werken wie z.B. im zweiten Satz der Klaviersonate a-Moll KV 310 (300d), Takte 1–8.[67]
Mit einer anderen Möglichkeit der Periodenausarbeitung war Mozart ebenfalls bereits 1764 vertraut. Die I-IV-I-V-I-Pendelharmonik, die er mehrfach in seinen frühesten Kompositionen zur Gestaltung von Satzanfängen verwendet hat[68], arrangierte er im langsamen Satz der begleiteten Klaviersonate B-Dur KV 8 erstmalig mithilfe einer Halb- und Ganzschlusskadenz zu einer Periode (Bsp. 5).
Beispiel 5: W.A. Mozart, Sonate für Klavier und Violine B-Dur KV 8, zweiter Satz, T. 1–8, periodische Ausarbeitung des I-IV-I-V-I-Generalbassmodells
Audiobeispiel 5: W.A. Mozart, Sonate für Klavier und Violine B-Dur KV 8, zweiter Satz, T. 1–8
(Wolfgang Amadeus Mozart. Complete Works, Pieter-Jan Belder/Rémy Baudet, Brilliant Classics 92628/8, o.J., Aufnahme 2001, Track 9, 0:00–0:52)
Abbildung 3 zeigt schematisch die harmonische Struktur der Perioden-Halbsätze, wobei die Kadenzen für eine periodische Wirkung abgestuft gedacht werden müssen (öffnend–schließend / weak–stronger).
Abbildung 3: Struktur von Perioden-Halbsätzen
Perioden dieses Typs lassen sich auch in späteren Kompositionen Mozarts nachweisen, z.B. im zweiten Satz der Klaviersonate C-Dur KV 545 (T. 1–16) sowie im dritten Satz der Klaviersonate C-Dur KV 309 (284b) (T. 1–19; Bsp. 6).
Beispiel 6: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 309 (284b), dritter Satz, T. 1–19, harmonische Variation im Hauptsatz
Audiobeispiel 6: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 309 (284b), dritter Satz, T. 1–23
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8682, 1990, Track 6, 0:00–0:32)
Interessant ist in der letztgenannten Periode die Gestaltung des Nachsatzes: Unter Beibehaltung der syntaktischen Funktion der Melodie (Kadenzvorbereitung) wird der Abschluss (= I-V-I) der I-IV-I-V-I-Harmoniefolge zur ›Fonte‹-Sequenz (= VI#-ii-V-I) variiert und durch Wiederholung innerlich erweitert. I-V-I-Harmoniefolge und ›Fonte‹-Sequenz lassen sich daher als funktional äquivalente Harmonisierungen des entsprechenden Melodieabschnitts bezeichnen (Bsp. 7).
Beispiel 7: Harmonische Variation durch funktional äquivalente Harmoniefolgen
Audiobeispiel 7: Harmonische Variation durch funktional äquivalente Harmoniefolgen
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8682, 1990, Track 6, 0:00–0:32)
Die I-IV-I-V-I-Harmoniefolge in der Formfunktion Hauptsatz hat Mozart auch in seinen Sonaten für Klavier solo noch ohne periodisches Design verwendet; umgekehrt tritt die periodische Ausarbeitung bereits in den frühen Werken auf (siehe Bsp. 5b), sodass die entwicklungsgeschichtliche Annahme problematisch wäre, nicht-periodische Generalbassausarbeitungen seien das ›Einfache‹ und fänden sich nur im frühen Werk, periodische Gestaltungen hingegen wären das ›Kunstvolle‹ und charakteristisch für spätere Kompositionen. Der Hauptsatz im ersten Satz der 1775 komponierten Klaviersonate F-Dur KV 280 (189f) etwa ist durch das Abreißen der Kadenz in Takt 10 sowie den darauffolgenden Rücksprung zum Takt 7 keineswegs einfach, sondern syntaktisch komplex (Bsp. 8).[69]
Beispiel 8: W.A. Mozart, Klaviersonate F-Dur KV 280 (189e), erster Satz, T. 1–13, Hauptsatz
Audiobeispiel 8: W.A. Mozart, Klaviersonate F-Dur KV 280 (189e), erster Satz, T. 1–16
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8681, 1990, Track 4, 0:00–0:20)
Eine weitere Gestaltungsmöglichkeit für die I-IV-I-V-I-Harmoniefolge ergibt sich, wenn die erste Harmonie prolongiert und der Ausarbeitung der ersten Phrase vorbehalten bleibt, während die übrigen Harmonien sowie die abschließende Kadenz in der zweiten Phrase verwendet werden (Abb. 4).
Abbildung 4: Struktur von Perioden-Halbsätzen mit Prolongation der einleitenden I. Stufe
Durch Wiederholung der Taktgruppe sowie Abstufung der Kadenzen lässt sich auch auf diese Weise ein periodisches Design herstellen. Dieses Modell ist hilfreich zum Verständnis vieler Gestaltungen im Werk Mozarts, wie zum Beispiel der eingangs zitierten Periode des zweiten Satzes der Klaviersonate D-Dur KV 311 (284c), Takte 1–8 (Bsp. 3). Im Hinblick auf die Oberstimmenstruktur dürfte für diese und entsprechende Perioden das Modell der Unterbrechungsperiode (…-|…-) adäquat sein. Eine Variante des Modells entsteht, wenn im Vordersatz die Kadenz in die IV-I-V-I-Harmoniefolge integriert[70] und im Nachsatz die Harmoniefolge durch eine Kadenz ersetzt wird. Ein Beispiel hierfür wäre der Hauptsatz der Klaviersonate B-Dur KV 281 (189f), für den sich ein durchgehender Zug (…-) als Oberstimmenstruktur konstruieren lässt (Bsp. 9).
Beispiel 9: W.A. Mozart, Klaviersonate B-Dur KV 281 (189f), erster Satz, T. 1–8, Periode am Satzbeginn
Audiobeispiel 9a: W.A. Mozart, Klaviersonate B-Dur KV 281 (189f), erster Satz, T. 1–10
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8681, 1990, Track 7, 0:00–0:17)
Audiobeispiel 9b: W.A. Mozart, Klaviersonate B-Dur KV 281 (189f), erster Satz, T. 1–10 mit Zug vom sechsten bis zum ersten Ton
Die I-IV-I-V-I-Harmoniefolge mit oder ohne Prolongation der ersten Stufe kann jedoch nicht nur zu einer Periode, sondern auch zu einem Satz (sentence) augearbeitet werden. Caplin zitiert in Classical Form den Beginn der Klaviersonate C-Dur KV 330 (300h) als Beispiel für die Möglichkeit der exakten Wiederholung der Takte 1–2 (Bsp. 10).[71] Aus der hier dargelegten Perspektive lässt sich der Beginn der Sonate als Variante des Modells mit einer in die I-IV-I-V-I-Harmoniefolge integrierten Kadenz verstehen (Bsp. 10; vgl. Abb. 4).
Beispiel 10: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 330 (300h), erster Satz, T. 1–8, Satz (sentence) am Satzbeginn
(die variierte Wiederholung der continuation mit der abschließenden Kadenz T. 9–12 fehlt auch bei Caplin)
Audiobeispiel 10: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 330 (300h), erster Satz, T. 1–13
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8683, 1990, Track 4, 0:00–0:22)
Ein weiteres Beispiel findet sich im Kopfsatz der Klaviersonate G-Dur KV 283 (189h). Der Beginn lässt sich in den ersten vier Takten als I-x-V-I-Folge oder ›Schema‹ im Sinne Gjerdingens bestimmen, dem eine Ausarbeitung der IV-I-V-I-Harmoniefolge sowie einer Ganzschlusskadenz in der Ausgangstonart folgt. Durch die Hemiole in den Takten 8–9 wird der Nachsatz innerlich auf sechs Takte erweitert, eine äußere Erweiterung durch Wiederholung des Nachsatzes dehnt den Hauptsatz auf eine Länge von 16 Takten (Bsp. 11).
Beispiel 11: W.A. Mozart, Klaviersonate G-Dur KV 283 (189h), erster Satz, T. 1–16, Satz (sentence) am Satzbeginn
Audiobeispiel 11: W.A. Mozart, Klaviersonate G-Dur KV 283 (189h), erster Satz, T. 1–20
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8681, 1990, Track 13, 0:00–0:25)
Im Vorangegangenen wurden Gestaltungen untersucht, deren Interpretation als Formfunktion Hauptsatz aufgrund des Abschlusses mit einem Grundabsatz der Ausgangstonart unstrittig sein dürfte. Harmonische Grundlage dieser Gestaltungen waren die gebräuchlichen Generalbassmodelle ›L’Aria di Fiorenza‹ und die I-IV-I-V-I-Harmoniefolge, wobei es der Lernweg des jungen Komponisten nahelegt, Periode (period) und Satz (sentence) als Möglichkeiten des Gestaltens bzw. als spezifische Designs von Generalbassmodellen zu verstehen. Mozarts Umgang mit den Generalbassmodellen zeigt zudem, dass eine periodische und satzartige Ausarbeitung mithilfe von korrespondierenden Kadenzen und der Wiederholung von Taktgruppen relativ unabhängig von einer harmonischen Vorgabe möglich ist. Und Hauptsätze wie die der Kopfsätze der begleiteten Klaviersonate G-Dur KV 9 und der Klaviersonate F-Dur KV 280 (189e) geben darüber hinaus die Auskunft, dass die Formfunktion Hauptsatz weder an eine periodische noch an eine satzartige Gestaltung gekoppelt ist.
Die Formfunktion Überleitung (transition)
In Sonatenkompositionen lässt sich die Formfunktion Überleitung in der Regel genau dann unstrittig bestimmen, wenn der Hauptsatz eines Sonatensatzes mit einer deutlichen Zäsur bzw. einem Grundabsatz in der Ausgangstonart endet (1. Absatz nach Koch) und ein Quintabsatz vor dem Seitensatz, also eine Halbschlusskadenz in der Ausgangs- (2. Absatz nach Koch) oder Nebentonart (3. Absatz nach Koch) vorhanden ist. In diesen Fällen wird üblicherweise die Gestaltung zwischen Grund- und Quintabsatz als Überleitung identifiziert.
2007 habe ich den Formteil Überleitung im Rahmen meiner Mozart-Monographie untersucht[72], 2009 das IV-I-V-I-Pendelmodell[73] sowie das Oberquintmodell[74] für eine weiterführende Forschung generalisiert und als konstanten Vergleichsgesichtspunkt für funktionale Analysen verwendet.[75] Hierzu habe ich alle satztechnischen Eigenschaften von diesem Modell gelöst und es zu einer gedachten Tonleiterstruktur abstrahiert. Diese Struktur wird in der folgenden Abbildung durch die schwarz notierten Töne f-e-d-c repräsentiert. Sie erlaubt es – wie ein Idealtyp im Sinne Webers – alle in Beispiel 12 angeführten Wendungen (a–h) zu referenzieren.
Beispiel 12: Modell zur Referenzierung von Harmoniefolgen in Überleitungen
Audiobeispiel 12: Modell zur Referenzierung von Harmoniefolgen in Überleitungen
Tabelle 1 gibt für jeden der in Beispiel 12 gezeigten Fälle ein Werk an, in dem der jeweils skizzierte harmonische Verlauf im Rahmen der Formfunktion Überleitung erklingt.
Harmoniefolge | Werk | Takte | Audio |
a) | W.A. Mozart, Klavierkonzert D-Dur KV 175, 1. Satz | 48–59 | |
b) | J. Haydn, Klaviersonate B-Dur Hob. XVI:18, 2. Satz | 11–13 | |
c) | W.A. Mozart, begleitete Klaviersonate F-Dur KV 13, 1. Satz | 16–20 | |
d) | W.A. Mozart, begleitete Klaviersonate C-Dur KV 6, 4. Satz | 9–15 | |
e) | W.A. Mozart, Violinsonate B-Dur KV 454, 2. Satz | 21–25 | |
f) | W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 330, 3. Satz | 29–31 | |
g) | J. Haydn, Klaviersonate F-Dur Hob. XVI:23, 1. Satz | 13–18 | |
h) | W.A. Mozart, Violinsonate Es-Dur KV 481, 1. Satz | 25–36 |
Tabelle 1: Referenzen für die in Beispiel 12 genannten Harmoniewendungen
Quellenangaben:
a) Wolfgang Amadeus Mozart. Complete Works, Derek Han/Philharmonia Orchestra Paul Freeman, Brilliant Classics 92626/6, o.J., Aufnahme 1992, Track 4, 01:22–01:47
b) Joseph Haydn 1732–1809. Die Klaviersonaten, Christine Schornsheim, Capriccio/WDR3 49414, 2005, Track 14, 00:16–00:22
c) Wolfgang Amadeus Mozart. Complete Works, Marc Grauwels/Guy Penson/Jan Sciffer, Brilliant Classics 92628/7, o.J., Aufnahme 1989, Track 8, 00:24–00:30
d) Wolfgang Amadeus Mozart. Complete Works, Pieter-Jan Belder/Rémy Baudet, Brilliant Classics 92626/8, o.J., Aufnahme 2001, Track 4, 00:05–00:13
e) Wolfgang Amadeus Mozart. Complete Works, Salvatore Acardo/Bruno Canino, Brilliant Classics 92628/15, Aufnahme 1985, Track 2, 01:12–01:53
f) Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E 8683, 1990, Track 6, 00:26–00:44
g) Joseph Haydn 1732–1809. Die Klaviersonaten, Christine Schornsheim, Capriccio/WDR3 49409, 2005, Track 1, 00:18–00:37
h) Wolfgang Amadeus Mozart. Complete Works, Salvatore Acardo/Bruno Canino, Brilliant Classics 92628/13, Aufnahme 1989, Track 1, 00:25–00:50
Um die Reichweite des Modells zu erhöhen und weitere funktional äquivalente Gestaltungen referenzieren zu können, lassen sich Länge und Struktur des Skalenmodells variabel auffassen. Der Ausschnitt f-e-d-c (Bsp. 12) besteht beispielsweise aus vier Tönen mit der Struktur fa-mi-re-ut. Dieses Modell, das ich als ›4–1(fa–ut)-Modell‹ bezeichnet habe[76], lässt sich von anderen Skalenausschnitten unterscheiden. Eine Überleitung, die sich über einen sechs Töne langen Skalenausschnitt mit der Struktur la–ut (›6–1[la–ut]-Modell‹) adäquat beschreiben lässt, prägt beispielsweise die Überleitung des Kopfsatzes der Klaviersonate a-Moll KV 310 (300d) von W.A. Mozart (Bsp. 13).
Beispiel 13: W.A. Mozart, Klaviersonate a-Moll KV 310 (300d), erster Satz, T. 9–16, Überleitung ›6–1(la–ut)-Modell‹
Audiobeispiel 13: W.A. Mozart, Klaviersonate a-Moll KV 310 (300d), erster Satz, T. 9–23
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8683, 1990, Track 1, 0:14–0:41)
In einer Internetdatenbank sind derzeit ca. 190 Einträge zu Überleitungen von Haydn, Mozart und Beethoven[77] einsehbar, deren harmonischer Verlauf sich über eine skalare Struktur im oben dargelegten Sinne verstehen lässt.
Zeitgleich mit meiner Mozartmonographie (2007) ist Robert O. Gjerdingens Buch Music in the Galant Style[78] erschienen. Diese Publikation ist in Deutschland als amerikanische Rezeption der »Satztypen und -formeln des 15. und 16. Jahrhunderts«[79] von Carl Dahlhaus angesehen und kritisch aufgenommen worden.[80] Gjerdingens ›Prinner‹ ist seither ein häufiger rezipiertes Modell[81], es entspricht in seiner Grundform (bis auf eine Synkope im Tenor) den weißen Noten in Beispiel 12b. Der ›Prinner‹ dürfte seine Attraktivität nicht nur seinem griffigen Namen[82] verdanken, sondern auch dem Umstand, dass er einem herkömmlichen, an Satzmodellen und Generalbasssätzen geschulten Denken keine Widerstände entgegensetzt. Markus Neuwirth hat darauf hingewiesen, dass die 6-5-4-3-Oberstimme substanzieller Bestandteil des ›Prinner‹ zu sein scheint, Gjerdingen weiß diesen anhand dieser Struktur selbst dann noch zu identifizieren, wenn zu ihr der typische Bass einer Ganzschlusskadenz erklingt (4-5-1).[83] Damit fehlt dem ›Prinner‹ jene Abstraktion, die es erlauben würde, Überleitungen wie die in den Kopfsätzen der Klaviersonaten F-Dur KV 332 (300k) und C-Dur KV 545 über dasselbe Modell zu referenzieren (Bsp. 14).
Beispiel 14: W.A. Mozart, Klaviersonaten C-Dur KV 545 Facile, erster Satz, T. 5–8, und F-Dur KV 332 (300k), erster Satz, T. 22–31,
Ausprägungen des ›4–1(fa–ut)-Modells‹; der sich jeweils anschließende Halbschluss ist nicht abgebildet
Audiobeispiel 14a: W.A. Mozart, Klaviersonaten C-Dur KV 545 Facile, erster Satz, T. 5–9, und F-Dur KV 332 (300k), erster Satz, T. 22–34
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8685, 1990, Track 4, 0:08–0:14 und Auvidis-Astrée E8684, 1990, Track 1, 0:26–0:41)
Audiobeispiel 14b: W.A. Mozart, Klaviersonaten C-Dur KV 545 Facile, erster Satz, T. 5–8, und F-Dur KV 332 (300k), erster Satz, T. 22–34, Ausprägungen des ›4–1(fa–ut)-Modells‹
Die bisherigen Beispiele zeigen, dass eine modulierende oder nicht-modulierende Wirkung sich nicht nur spezifischen Eigenschaften im Tonsatz verdankt, sondern auch kontextabhängig ist. Die Überleitung der Facile-Sonate, die mit einem (hier nicht abgebildeten) Quintabsatz der Ausgangstonart endet, wirkt nicht-modulierend, die mit einem Halbschluss der Nebentonart endende Überleitung in der Sonate F-Dur KV 332 (300k) dagegen modulierend. Ob Komponisten im 18. Jahrhundert den Wechsel einer Tonart als einen allmählichen Übergang oder vielmehr als punktuelles Ereignis erlebt haben – das heißt als Wechsel der Oktavregel an einer bestimmten Stelle des musikalischen Verlaufs –, ist fraglich. Die Struktur f-e-d-c lässt sich als oberes Tetrachord der Oktavregel in F-Dur (und damit modulierend) oder als unteres Tetrachord der Oktavregel in C-Dur (und damit nicht modulierend) auffassen, sodass sich unter Vernachlässigung des Kontexts nicht ohne Willkür entscheiden lässt, ob eine entsprechende Gestaltung in die Oberquinte moduliert oder in die Ausgangstonart zurückführt. Fasst man die Kategorie ›Modulation‹ als eine Kategorie der Auffassung und des beziehenden Denkens auf, ist es sinnvoll, sie im Hinblick auf das Theoriedesign des ›4–1(fa–ut)-Modells‹[84] zu vernachlässigen, um die Reichweite des Modells im Rahmen empirischer Forschung zur Formfunktion Überleitung zu erhöhen.
Differenzen
William E. Caplin und Nathan Martin identifizieren die Takte 19–36 des Kopfsatzes der Klaviersonate F-Dur op. 10/2 von Ludwig van Beethoven als Seitensatz (subordinate theme)[85] (Bsp. 15).
Beispiel 15: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate F-Dur op. 10/2, erster Satz, T. 10–41, Analysen
Audiobeispiel 15: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate F-Dur op. 10/2, erster Satz, T. 9–43
(Beethoven. The Piano Sonatas, Vladimir Ashkenazy, Decca London 443 708-2, 1995, Track 8, 0:14–1:00)
Die Autoren erkennen in der einsetzenden C-Dur-Melodie (T. 19) eine basic idea, der eine basic idea repetition folgt (T. 23). Dieser presentation schließen sich in ihrer Deutung eine continuation (T. 27) sowie ein Halbschluss (T. 30) mit dominantischem Orgelpunkt (standing on the dominant) an. Da ein Seitensatz (subordinate theme) den Autoren zufolge nicht mit einem Halbschluss enden darf, werden an den ›inneren‹ Halbschluss (»internal half cadence«[86]) weitere Fortführungen (continuations) angeschlossen (ab T. 38), bis der Seitensatz in Takt 55 mit einem Ganzschluss in der Nebentonart endet. Die Analyse von Caplin und Martin ist in erster Linie an der motivisch-thematischen Struktur orientiert, die als Satz (sentence) verstanden wird. Und aufgrund der auf Ratz zurückgehenden Kopplung von Struktur und Formfunktion werden von den Autoren die Takte 19–36 als Seitensatz deklariert, der in den folgenden (hier nicht abgebildeten) Takten stark erweitert wird.
Es wurde bereits erwähnt, dass die Bereiche zwischen dem Ganzschluss in der Ausgangstonart und dem Halbschluss der Nebentonart üblicherweise als Überleitung bezeichnet werden. Aus diesem Grund interpretiere ich die Takte 13–36 als Überleitung.[87] Ein weiteres Indiz für diese Formfunktion zeigt sich in der Harmonik, die sich über das ›4–1(fa–ut)-Modell‹ referenzieren lässt (Bsp. 16).
Beispiel 16: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate F-Dur op. 10/2, erster Satz, Harmonik in der Formfunktion Überleitung
Audiobeispiel 16: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate F-Dur op. 10/2, erster Satz, Harmonik in der Formfunktion Überleitung
Die Interpretation der Takte 13–36 als Überleitung ist in erster Linie den umrahmenden Kadenzen (Grundabsatz in der Ausgangstonart und Quintabsatz in der Nebentonart) sowie der Harmonik (›4–1[fa–ut]-Modell‹) verpflichtet, die motivisch-thematische Gestaltung in Form eines Satzes hat demgegenüber akzidentielle Bedeutung und wird auf derselben Ebene gesehen wie die periodische oder satzartige Gestaltung von Generalbassmodellen im Rahmen der Formfunktion Hauptsatz.
Es wurde veranschaulicht (Abb. 2), dass die Zuweisung von Formfunktionen kontingent ist, weshalb sich keine der beiden Analysen, die jeweils unterschiedlichen Details der Komposition verpflichtet sind, als objektiv ›falsch‹ qualifizieren lässt. Die hermeneutischen Implikationen der sich widersprechenden Interpretationen sind allerdings grundverschieden. Caplin und Martin bewerten ihre Analyseergebnisse wie folgt:
Beethoven begins this subordinate theme directly in the new key with a lyrical melody that forms itself into a compound presentation, a standard initiating function of the compound-sentence theme type. The presentation seems to be repeated at bar 27 but quickly becomes continuational, leading to an HC [half cadence] at bar 30 followed by seven bars of standing on the dominant. Such a concluding function is too weak to end a subordinate theme, which requires a closing PAC [perfect authentic cadence] to fully confirm the subordinate key. Therefore the theme is extended at bar 38 with a new continuation and a variety of cadential diversions until an expanded cadential progression finally achieves the requisite PAC at bar 55.[88]
Die Autoren sehen in der Exposition des Kopfsatzes der Beethoven’schen Sonate op. 10/2 daher einen Schlüssel zum Verständnis des Phänomens der »continuous expositions«[89].
In der hier angebotenen Interpretation der Takte 13–36 als Überleitung erscheinen demgegenüber weder der Hauptsatz noch die Überleitung ab Takt 19 als ungewöhnlich. Der Hauptsatz lässt sich als Prolongation der I. Stufe sowie Ausarbeitung einer aufwärtsführenden Tonleiter verstehen und ist in dieser Hinsicht beispielsweise dem Hauptsatz der beinahe zeitgleich entstandenen Klaviersonate Es-Dur op. 7 (erster Satz) verwandt. Die Überleitung ab Takt 19 ist motivisch-thematisch satzartig gestaltet und damit strukturell den Überleitungen in den Kopfsätzen der zuletzt genannten Sonate[90] sowie der Klaviersonaten B-Dur KV 281 (189f)[91] und c-Moll KV 457[92] von W.A. Mozart ähnlich. Auch sind weder Charakter noch Ausdehnung des Halbschlusses[93] auffällig. Das einzige, was demnach aus kompositionsgeschichtlicher Sicht innovativ ist – und zwar so innovativ, dass alles Vertraute dadurch irritierend wirkt –, ist der Halbschluss in den Takten 17–18. Dieser ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich (z.B. in Bezug auf die Zieltonart, Proportionen etc.) und erweist sich auf vergleichbare Weise als ›falsch‹ wie wenig später die ›Reprise‹ (ab T. 118).[94]
Die Interpretation der Takte 13–36 als Überleitung eröffnet Perspektiven auf mögliche Vorbilder wie die bereits erwähnte Überleitung des Kopfsatzes der Mozart’schen Klaviersonate c-Moll KV 457. Die Überleitung in der Klaviersonate F-Dur KV 332 (300k) (Bsp. 14) wurde in der Mozartforschung gegenüber traditionellen Gestaltungen für die dramatische Steigerung des Ausdrucks gepriesen[95], die Überleitung in op. 10/2 könnte dagegen geradezu als Demontage des Traditionellen angesehen werden. Die Überleitung im Kopfsatz der zeitgleich entstandenen Klaviersonate D-Dur op. 10/3[96] zeigt zudem, dass Beethoven sich in den Jahren 1796–1798 eingehend mit den Möglichkeiten der Deformation spezifischer Formfunktionen beschäftigt hat. Wie weit das Spiel mit Hörerwartungen gehen kann, ohne dass die Wirkungen traditioneller Formfunktionen gänzlich aufgelöst würden, lässt sich im Kopfsatz der 1816 entstandenen Klaviersonate A-Dur op. 101 studieren.
Wie William E. Caplin setzen auch James Hepokoski und Warren Darcy das Modell des sentence auf einem höheren hierarchischen Level ein. Während Caplin jedoch nur den zweiten Teil der Exposition des Kopfsatzes der Facile-Sonate als sentence analysiert hat[97], wird in der 2006 erschienenen Publikation Elements of Sonata Theory auch der Beginn dieser Sonate als sentence beschrieben[98].
Beispiel 17: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 545 Facile, erster Satz, T. 1–12
Audiobeispiel 17: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 545 Facile, erster Satz, T. 1–12
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8685, 1990, Track 4, 0:00–0:23)
Oberhalb der durchgezogenen Linien (Bsp. 17) befindet sich die Analyse von Hepokoski und Darcy, die davon ausgehen, dass die Takte 1–12 (Hauptsatz) eine »single phrase«[99] darstellen, in der Hauptsatz (›primary theme-zone‹) und Überleitung (transition) verschmolzen seien. Eine Entkopplung von motivisch-thematischer Struktur und Formfunktionen hätte es den Autoren ermöglicht, diese Takte als satzartig[100] zu beschreiben, gleichzeitig jedoch zwei distinkte Formfunktionen zu beobachten. Geht man von zwei getrennten Formfunktionen aus, kommt den Takten 1–4 (presentation in Bsp. 17) die Formfunktion Hauptsatz zu, den Takten 5–12 die Formfunktion Überleitung (continuation und conclusion). Die Chiffrierung dieser Auffassung findet sich in Beispiel 17 unterhalb der durchgezogenen Linien.
Die Interpretation der Takte 1–4 als Formfunktion Hauptsatz eröffnet interessante intertextuelle Vergleiche. Das Diagramm in Abbildung 5 zeigt eine Modellierung des Hauptsatzes.
Abbildung 5: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 545 Facile, erster Satz, Struktur der Formfunktion Hauptsatz
Dieses Modell zeigt eine Nähe zu dem Modell, das bereits im Zusammenhang mit Periodenbildungen in der Formfunktion Hauptsatz erörtert worden ist.[101] In diesem Zusammenhang wurde die Periode (Hauptsatz) der Klaviersonate B-Dur KV 281 (189f) besprochen, die mit einem Ganzschluss der Ausgangstonart endet (Bsp. 9). Wird die feste Kopplung von Struktur und Funktion aufgegeben, bildet der Ganzschluss in der Ausgangstonart jedoch nur eine Möglichkeit, die Abgrenzung von Hauptsatz und Überleitung sinnfällig zu gestalten. Ein weiterer Hinweis auf distinkte Formfunktionen kann der Wechsel des Satzbilds sein oder etwas genauer: ein Wechsel der Inszenierungsweise.[102] Der Umschlag vom ›singenden Gefälligen‹ zum ›Rauschenden‹[103] ereignet sich in der Sonata facile von Takt 4 zu Takt 5, und aus harmonischer Perspektive lassen sich die Takte 5–8 als ein harmonischer Standard für Überleitungsgestaltungen verstehen.[104] Werden die Takte 1–4 in KV 545 als Hauptsatz und die Takte 5–12 als Überleitung interpretiert, können im Lichte dieser Formfunktionen die strukturellen Gemeinsamkeiten der Expositionen der Sonaten KV 281 (189f) und KV 545 beobachtet werden (Bsp. 18).
Beispiel 18: W.A. Mozart, Klaviersonaten B-Dur KV 281 (189f), erster Satz, T. 1–17, und C-Dur KV 545 Facile, erster Satz, T. 1–12, synoptischer Vergleich
Audiobeispiel 18: W.A. Mozart, Klaviersonaten B-Dur KV 281 (189f), erster Satz, T. 1–17, und C-Dur KV 545 Facile, erster Satz, T. 1–12
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8685, 1990, Track 4, 0:00–0:23 und Auvidis-Astrée E8681, 1990, Track 7, 0:00–0:30)
Die dem Modell (Bsp. 18 oben) entsprechenden Takte bilden in KV 545 eine einfache Taktgruppe, während sie in KV 281 (189f) zur Periode ausgearbeitet sind. Im Anschluss an die jeweilige Gestaltung ändert sich die Inszenierungsweise und es folgt eine weitere IV-I-V-I-Pendelbewegung, die sich über das ›4–1(fa–ut)-Modell‹ referenzieren lässt. Dieser Gestaltung schließt sich ein diskantisierender Halbschluss in der Ausgangstonart an. Abbildung 6 zeigt ein Modell dieser Expositionsverläufe bis zur Mittelzäsur.
Abbildung 6: Strukturmodell für die Formfunktionen Hauptsatz und Überleitung
Der mögliche Einwand, dass die Takte 1–4 der Sonata facile für die Formfunktion Hauptsatz zu kurz seien, lässt sich durch einen Blick auf die Proportionen entkräften: Mit 14% der Expositionslänge ist der Hauptsatz der Facile-Sonate zwar der kürzeste unter den Klaviersonaten Mozarts, der acht Takte lange Hauptsatz in der Klaviersonate D-Dur KV 284 ist jedoch mit 16% nur unwesentlich länger. Im gleichen Verhältnis wie in der Facile-Sonate (14%) steht der 13 Takte lange Hauptsatz zur Expositionslänge in der Klaviersonate C-Dur op. 2/3 von Ludwig van Beethoven, der Hauptsatz seiner Klaviersonate D-Dur op. 10/3 ist sogar noch etwas kürzer (13%). Weder die fehlende Kadenz noch die Länge sind daher geeignete Kriterien, die Takte 1–4 der Facile-Sonate für die Formfunktion Hauptsatz zu disqualifizieren.
Nimmt man die hier dargelegte Perspektive als Ausgangspunkt für empirische Untersuchungen, kann im Falle fehlender Kadenzen in der Haupttonart das Aufeinandertreffen der zweimaligen IV-I-V-I-Harmoniefolge – ggf. verbunden mit einem Wechsel des Satzbilds bzw. der Inszenierungsweise – einen Hinweis auf den Abschluss des Hauptsatzes sowie den Beginn der Überleitung geben. Diese Perspektive ermöglicht interessante Beobachtungen in den frühen Klaviersonaten von Joseph Haydn.
Beispiel 19: Joseph Haydn, Klaviersonate G-Dur Hob. XVI:8, erster Satz, T. 1–8, Formfunktionen Hauptsatz und Überleitung
Audiobeispiel 19: Joseph Haydn, Klaviersonate G-Dur Hob. XVI:8, erster Satz, T. 1–8
(Joseph Haydn 1732–1809. Die Klaviersonaten, Christine Schornsheim, Capriccio/WDR3 49405, 2005, Track 1, 0:00–0:11)
Selbstverständlich wäre es möglich, die lediglich 32 Takte lange Exposition im ersten Satz der Klaviersonate G-Dur Hob. XVI:8 als Periode zu beschreiben und die in Beispiel 19 abgebildeten Takte 1–8 als Periodenvordersatz zu klassifizieren. Im Hinblick auf die vorangegangenen Ausführungen lassen sich die Takte 1–4 jedoch auch als eine durchaus charakteristische Ausarbeitung der Formfunktion Hauptsatz verstehen. Interpretiert man die folgenden Takte als Überleitung, erweisen sich das Aufeinandertreffen der IV-I-V-I-Harmoniefolgen, verbunden mit einem Satzbildwechsel, sowie der abschließende diskantisierende Halbschluss als eine aus der Facile-Sonate vertraute Konstellation. Das Bild einer Sonatenform ›en miniature‹ wäre die Alternative zur Interpretation der Exposition als Periode, wobei entsprechende Sonatenformen kompositionsgeschichtliches Bindeglied zwischen dem Menuett auf der einen und umfangreicheren Sonatenkompositionen auf der anderen Seite sein könnten.
Strukturell vergleichbar, jedoch mit einer deutlicheren Trennung der Formfunktionen Hauptsatz und Überleitung, ist die Exposition der Klaviersonate G-Dur Hob. XVI:27 (Bsp. 20).
Beispiel 20: Joseph Haydn, Klaviersonate G-Dur Hob. XVI:27, erster Satz, T. 1–24, Formfunktionen Hauptsatz und Überleitung
Audiobeispiel 20: Joseph Haydn, Klaviersonate G-Dur Hob. XVI:27, erster Satz, T. 1–24, Formfunktionen Hauptsatz und Überleitung
(Joseph Haydn 1732–1809. Die Klaviersonaten, Christine Schornsheim, Capriccio/WDR3 49411, 2005, Track 15, 0:00–0:28)
In diesem Fall lässt sich der Hauptsatz über das in Abbildung 4 gezeigte Modell verstehen (vorausgesetzt, das Unisono der Takte 9–12 wird als funktionale Äquivalenz zur Kadenz akzeptiert). In der Überleitung findet sich ab Takt 17 die charakteristische IV-I-V-I-Pendelharmonik, der ein diskantisierender Halbschluss in der Ausgangstonart folgt. Eine Abweichung gegenüber den Formfunktionen Hauptsatz und Überleitung in Hob. XVI:8 besteht im Beginn der Überleitung, die vor dem nachfolgenden IV-I-V-I-Pendel motivisch-thematisch als variierte Wiederkehr des Anfangs ausgearbeitet ist. Eine solche motivisch-thematische Entsprechung zwischen dem Anfang des Hauptsatzes sowie der Überleitung findet sich auch im Kopfsatz der Sonate D-Dur Hob. XVI:14 (Bsp.21).
Beispiel 21: Joseph Haydn, Klaviersonate D-Dur Hob. XVI:14, erster Satz, T. 1–8, Formfunktionen Hauptsatz und Überleitung
Audiobeispiel 21: Joseph Haydn, Klaviersonate D-Dur Hob. XVI:14, erster Satz, T. 1–8
(Joseph Haydn 1732–1809. Die Klaviersonaten, Christine Schornsheim, Capriccio/WDR3 49407, 2005, Track 5, 0:00–0:13)
Abgesehen vom Wiederaufgreifen des Motivs aus dem Hauptsatz sind sich die Anfänge der Klaviersonaten Hob. XVI:14 und Hob. XVI:8 sehr ähnlich: jeweils vier Takte Hauptsatz und Überleitung, übereinstimmende Harmonik und abschließend ein Halbschluss der Ausgangstonart. Natürlich ließe sich der Anfang der Sonate D-Dur Hob. XVI:14 aufgrund der Symmetrie, der Kadenzen im vierten und achten Takt sowie den motivischen Entsprechungen auch als Periode mit ›vertauschten‹ Kadenzen in der Formfunktion Hauptsatz auffassen. Doch sei daran erinnert, dass sich die Plausibilität der Interpretation der ersten acht Takte der Sonaten Hob. XVI:8 und Hob. XVI:14 als eigenständige Taktgruppen mit distinkten Formfunktionen (Hauptsatz und Überleitung) durch intertextuelle Vergleiche ergeben hat, die es ermöglichen, einen strukturellen Zusammenhang zwischen den Anfängen der Sonaten KV 281 (189f), KV 545, Hob. XVI:8, Hob. XVI:27 und Hob. XVI:14 sowie vielen weiteren Werke der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu beobachten.
Wilhelm Fischer bezeichnete den Liedtypus, den Erwin Ratz als Vorbild für die Periode ansah, als zweiteilig symmetrische, aus Vorder- und Nachsatz bestehende Einheit, die sich durch die motivische Struktur αβαβ beschreiben lässt. Im Hinblick auf die Abschlüsse von Vorder- und Nachsatz hatte Fischer eine Auffassung, die von einem heutigen Perioden-Verständnis abweicht (Tab. 2).
Tabelle 2: Systematik der Halbsätze von Perioden nach Wilhelm Fischer (1915, 26)
Fischers Kadenzsystematik hätte es erlaubt, die ersten acht Takte der Sonate Hob. XVI:14 als Liedtypus (Typ 4) bzw. Periode (in der Formfunktion Hauptsatz) aufzufassen. Damit verstellt Fischers Systematik den Blick auf die in diesem Beitrag dargelegte Auffassung von Formfunktionen. Denn nach ihm lassen sich Taktgruppen zur Periode in einer einzigen Formfunktion verbinden, für die hier vorgeschlagen wurde, sie als distinkte Taktgruppen in unterschiedlichen Formfunktionen zu interpretieren. Auch der Fortspinnungstypus, der Vorbild für den Satz von Erwin Ratz war, beherrsche, so Fischer, »die Melodik der größeren Formen«[105], und er merkt an:
Der achttaktige Bachsche Satz ist einem ganzen Wiener klassischen Tuttisatz mit allen seinen Teilen als äquivalent zu betrachten, nicht etwa dem Anfangsthema eines solchen.[106]
[D]er Fortspinnungstypus wird zur Form der Exposition des Sonatensatzes, natürlich mit Ausschluß des Seitensatzes; der Vordersatz wird dabei zum Hauptsatz, die Fortspinnung zur Überleitungspartie, der Trägerin der Modulation, der Epilog je nach der Stellung des eingeschobenen Seitensatzes zum Abschluß der Überleitung oder zum Sonatenepilog.[107]
Noch einige Worte über den Bau der Elemente des Fortspinnungstypus im Wiener klassischen Stile. Der genannte Melodiebautypus tritt, den bisherigen Untersuchungen gemäß, in zweifacher Funktion auf: als Strukturtypus für Haupt- und Seitensätze und für die beiden Hälften von Melodien des Liedtypus. Seine Elemente, Vordersatz und Fortspinnung, zeigen keine prinzipiellen Unterschiede nach den beiden Verwendungsarten.[108]
Diese Aussagen machen deutlich, dass die Überlagerung von Formfunktionen durch Strukturmodelle (Fortspinnungstypus, sentence) bereits in der Theorie Wilhelm Fischers angelegt ist und über Erwin Ratz den Weg in die nordamerikanischen Theorieentwürfe zur Sonatenform gefunden haben könnte. Die daraus resultierenden Probleme und eine alternative Auffassung für die Formfunktionen Hauptsatz und Überleitung wurden bisher dargelegt, die Auswirkungen auf das Verständnis des Seitensatzes (subordinate theme) sowie der Schlussgruppe (closing section) werden im Folgenden erörtert.
Die Formfunktion Seitensatz (subordinate theme)
Es gibt Expositionen, die eine deutliche Mittelzäsur in Form eines Halbschlusses aufweisen, und es dürfte unstrittig sein, dass nach einer solchen Zäsur der Seitensatz beginnt. Nach Carl Dahlhaus erfordert »der Begriff des Seitensatzes nur einen Tonartenwechsel und einen profilierten melodischen Anfang, kein neues Thema«[109]. Im Folgenden wird unter dem Begriff ›Seitensatz‹ daher weder die Struktur ›locker Gefügtes‹ von Erwin Ratz noch der aus presentation, continuation, cadential bestehende ›sentence‹ im Sinne Caplins verstanden. Mit Seitensatz wird im Folgenden eine Formfunktion bezeichnet, die der Kenntlichmachung der Nebentonart dient. Diese Formfunktion wird wiederum als konstanter Vergleichsgesichtspunkt gesetzt, um in verschiedenen Werken funktional äquivalente Gestaltungen identifizieren zu können.
Beispiel 22: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 545 Facile, erster Satz, T. 14–17, Seitensatz
Audiobeispiel 22: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 545 Facile, erster Satz, T. 13–17
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8685, 1990, Track 4, 0:23–0:32)
Die Takte 14–17 der Sonata facile (Bsp. 22) bilden durch die hohe Lage einen klanglichen Kontrast zu Vorhergehendem (Halbschluss der Ausgangstonart bzw. Abschluss der Überleitung) und erfüllen damit die von Dahlhaus erwähnte Aufgabe, den Eintritt der Nebentonart auf eine auffällige Weise zu kennzeichnen. Den hohen Klangcharakter (Bassetto-Klangtechnik) nach einem Quintabsatz hat Mozart erstmalig in der sinfonischen Gattung erprobt, von hier aus dürfte die Technik Eingang in die Klaviersonaten gefunden haben.[110]
Nimmt man die Proportion in den Blick, die zwischen diesen vier Takten und der Länge der gesamten Exposition (28 Takte) bestehen, ergibt sich das Verhältnis 1:7, das heißt, die Takte 14–17 gestalten 14% der Exposition des Kopfsatzes der Sonate KV 545. Strukturell zeigen die Takte eine Phrase und ihre Wiederholung[111], mit einer variierten Wiederholung findet sich dieses Modell (= Phrase und Phrasenwiederholung) auch in den Takten 18–21 der Klaviersonate B-Dur KV 281 (189f) oder in den Takten 23–30 der Sonate G-Dur KV 283 (189h) (jeweils Kopfsatz). Die Proportionen entsprechen in beiden Fällen ungefähr der Proportion in der Facile-Sonate: Die vier Takte der B-Dur-Sonate fallen relativ etwas kürzer aus (10% der Expositionslänge), die acht Takte der G-Dur-Sonate sind dagegen nur unwesentlich länger (15% der Expositionslänge).
Genau das gleiche proportionale Verhältnis wie in der Facile-Sonate (14% der Expositionslänge) kennzeichnet die Takte nach dem Halbschluss der Nebentonart in der Klaviersonate C-Dur KV 309 (284b) (Bsp. 23).
Beispiel 23: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 309 (284b), erster Satz, T. 35–42
Audiobeispiel 23: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 309 (284b), erster Satz, T. 33–42
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8682, 1990, Track 4, 0:50–1:05)
Auch die Struktur dieser Taktgruppe lässt sich unter das Modell ›Phrase und Phrasenwiederholung‹ subsumieren. Die Art der Modifikation der Phrasenwiederholung allerdings ist bedeutsam, sie betrifft den Abschluss der Taktgruppe: Während am Phrasenende Takt 38 die Oberstimme melodisch das a1 umspielt bzw. eine Quintlage erklingt, wird am Ende der Phrasenwiederholung (T. 42) das d2 und damit eine Oktavlage erreicht. Mit der ›öffnenden‹ Quintlage am Ende des ersten Viertakters sowie der ›schließenden‹ Oktavlage am Ende des zweiten werden in KV 309 (284b) die D-Dur-Akkorde auf eine Weise differenziert, die typisch für das Öffnen und Schließen einer ›Periode‹ (theme-type) ist.
Eine Periode nach dem Halbschluss der Nebentonart bzw. Abschluss der Überleitung findet sich in der Sonate F-Dur KV 533 (Bsp. 24).
Beispiel 24: W.A. Mozart, Klaviersonate F-Dur KV 533, erster Satz, T. 41–49
Audiobeispiel 24: W.A. Mozart, Klaviersonate F-Dur KV 533, erster Satz, T. 41–59
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8685, 1990, Track 1, 0:52–0:15)
Die periodische Gestaltung dieses Achttakters – der im Anschluss variierend wiederholt wird – ist deutlicher ausgeprägt als in KV 309 (284b). Im Hinblick auf die Proportionen sind die Gestaltungen jedoch vergleichbar, denn in KV 533 nehmen die 16 Takte (Periode und variierte Wiederholung) nach dem Halbschluss der Nebentonart 16% der gesamten Exposition ein. Etwas gewichtiger dagegen fällt mit 21% der periodische Seitensatz in der Klaviersonate D-Dur KV 311 (284c) aus (Bsp. 25).
Beispiel 25: W.A. Mozart, Klaviersonate D-Dur KV 311 (284c), erster Satz, T. 16–24
Audiobeispiel 25: W.A. Mozart, Klaviersonate D-Dur KV 311 (284c), erster Satz, T. 16–24
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8682, 1990, Track 7, 0:27–0:42)
Unter Berücksichtigung des Parameters Ausdehnung (bzw. Proportion)[112], der in vielen Untersuchungen vernachlässigt und dem hier große Bedeutung beigemessen wird, ist es sinnvoll, vier- und achttaktige Taktgruppen wie die Gestaltungen aus den Klaviersonaten KV 545, KV 281 (189f), KV 283 (189h), KV 309 (284b), KV 533 und KV 311 (284c) als funktional äquivalent zu interpretieren. Dass eine Periode in der Formfunktion Seitensatz eigenständig und als äquivalent zu einer periodischen Hauptsatzgestaltung zu gelten hat, dürfte seit Erwin Ratz Konsens sein.[113] Neu hingegen dürfte die Erkenntnis sein, dass sich die vier Takte nach der Mittelzäsur der Sonata facile als eigenständiger Seitensatz interpretieren lassen, wie es die hier vorgenommenen intertextuellen Vergleiche nahelegen. Viertaktige Gestaltungen der Formfunktion Seitensatz wie in KV 281 (189f) und KV 545 stehen dabei auf der einen Seite der Skala möglicher Gestaltungsweisen, an deren anderem Ende groß angelegte Seitensatzperioden wie im Kopfsatz der Klaviersonate C-Dur op. 53 (Waldstein)[114] von Ludwig van Beethoven zu lokalisieren sind (Bsp. 26).
Beispiel 26: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate C-Dur op. 53 Waldstein, erster Satz, T. 35–50, periodischer Seitensatz
Audiobeispiel 26: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate C-Dur op. 53 Waldstein, erster Satz, T. 35–51
(Beethoven. The Piano Sonatas, Vladimir Ashkenazy, Decca London 443 713-2, 1995, Track 1, 0:58–1:30)
Neben den Gestaltungen der Formfunktion Seitensatz als a) einfache Taktgruppe mit Wiederholung, b) mit modifizierter Wiederholung sowie c) als Periode (period) finden sich an dieser formalen Position auch d) Ausarbeitungen als Satz (sentence im Sinne eines ›theme-type‹), wie Beispiel 27 verdeutlicht.
Beispiel 27: Joseph Haydn, Sinfonie C-Dur Hob. I:30, Alleluja, erster Satz, T. 19–30
Audiobeispiel 27: Joseph Haydn, Sinfonie C-Dur Hob. I:30, Alleluja, erster Satz, T. 18–32
(Joseph Haydn Edition. Symphonies, Austro-Hungarian Haydn Orchestra, Ltg. Adam Fischer, Brilliant Classics 93782/8, o.J., Aufnahme 2001, Track 1, 0:29–0:52)
Der Kopfsatz der Sinfonie C-Dur Hob. I:30 (Alleluja) beginnt mit einem Hauptsatz, der sich als Satz (sentence) verstehen lässt (T. 1–8). Ihm folgt eine Überleitung, die einem Standard entspricht (Prolongation der Ausgangstonart sowie IV-I-V-I-Harmonik + Halbschluss in der Nebentonart, T. 8–19). Die Bestimmung der Takte 19–29 als Seitensatz ist in erster Linie an den beiden starken Zäsuren orientiert (Halbschlüsse in der Nebentonart, T. 20 und 29). Die dazwischenliegende Gestaltung lässt sich motivisch-thematisch wiederum als Satz (sentence) verstehen, und auch im Hinblick auf die Instrumentation (Streicherklang mit Liegeton in den Oboen) sowie Harmonik (Pendelharmonik) lässt sich diese Passage als typisch für die Formfunktion Seitensatz bezeichnen. Während nach Caplin ein Seitensatz (subordinate theme) üblicherweise eine locker gefügte Struktur aufweist und mit einem Ganzschluss endet, erlaubt es die hier dargelegte Perspektive, in der Sinfonie Haydns den Seitensatz als fester gefügten Satz (theme-type) zu erkennen, an dessen Ende ein Halbschluss erklingt.
Während der Begriff ›Seitensatz‹ (subordinate theme) die funktionale Äquivalenz der im Vorangegangenen besprochenen Gestaltungen anzeigt, habe ich darüber hinaus vorgeschlagen, zwischen ›Seitensatz‹ und ›Seitenthema‹ zu differenzieren.[115] Während der Begriff ›Seitensatz‹ als Funktionsbegriff offen ist für unterschiedlichste Gestaltungen, können mit ›Seitenthema‹ ausschließlich Realisierungen gekennzeichnet werden, die sich mithilfe der idealtypischen Vorstellungen ›Periode‹ oder ›Satz‹ (theme-types) beschreiben lassen. Die Takte 14–17 des Kopfsatzes der Klaviersonate KV 545 bilden demnach einen Seitensatz, jedoch kein Seitenthema. Die Takte 17–24 des Kopfsatzes der Klaviersonate D-Dur KV 311 (284c) und die Takte 21–29 der Sinfonie in C-Dur Hob. I:30 lassen sich dagegen als Seitenthema (bzw. zweites Thema) in der Funktion des Seitensatzes verstehen. Über das hier dargelegte Verständnis der Formfunktion Seitensatz lässt sich zudem das Problem lösen, das in herkömmlichen Sonatentheorien aus der unterschiedlichen Semantik eines locker und fest gefügten Seitensatzes hervorgeht. Darüber hinaus kann die in diesen Formtheorien bestehende Asymmetrie zwischen den Begriffen Haupt- und Seitensatz beseitigt werden, denn als Hauptsatz wird in der Regel nur der erste Abschnitt des ersten Teils einer zweiteiligen Exposition bezeichnet, der Seitensatz hingegen nimmt – abgesehen von einem kurzen Epilog (closing section) – nahezu den gesamten zweiten Teil ein (Abb. 7).
Abbildung 7: Herkömmliches Modell zweiteiliger Expositionen
Folgt man dagegen der hier dargelegten Auffassung zum Seitensatz, ergibt sich ein anderes, symmetrisches Modell der Exposition mit einer Entsprechung der Abschnitte im ersten und zweiten Teil. Der Hauptsatz im ersten Teil korrespondiert dabei mit dem Seitensatz im zweiten, und die Überleitung im ersten Teil hat ihre Entsprechung in jenen Abschnitten, die (nach Seitensätzen, die aus Phrase und Phrasenwiederholung bestehen) in nordamerikanischen Formtheorien als continuation und cadential bezeichnet werden. Entsprechend der Überleitung, für die eine vorbereitende Gestaltung und ein abschließender Halbschluss charakteristisch ist[116], fasse ich auch im zweiten Teil von Expositionen Vorbereitung (continuation) und Kadenz (cadential) als Einheit auf, die ich semantisch passend als Schlussgruppe (closing section) bezeichnet habe.[117] Abbildung 8 veranschaulicht das alternative Verständnis für die Formfunktionen Seitensatz und Schlussgruppe.
Abbildung 8: Alternatives Modell zur zweiteiligen Exposition
Die Formfunktion Schlussgruppe (closing section)
Folgt man dem oben dargelegten Verständnis eines Seitensatzes, erfüllen die Takte 43–54 der Klaviersonate C-Dur KV 309 (284b) die Formfunktion Schlussgruppe (closing section; Bsp. 28).
Beispiel 28: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 309 (284b), erster Satz, T. 43–54, Formfunktion Schlussgruppe
Audiobeispiel 28a: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 309 (284b), erster Satz, T. 43–56
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8682, 1990, Track 4, 1:06–1:26)
Audiobeispiel 28b: W.A. Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 309 (284b), erster Satz, T. 43–56 mit Bassmodell
(Sample des Autors auf Grundlage der Aufnahme in: Mozart. The Complete Music for Piano Solo, Vol.1–3, Walter Gieseking, Seraphim IC-6047, ID-6048, ID-6049, 1955)
Sowohl der ganze Abschnitt als auch die einzelnen Teilabschnitte (T. 43–45, 46–49, 50–54) beginnen jeweils im Bass mit der dritten Tonleiterstufe (h = mi) der Nebentonart G-Dur. In den Takten 43 und 46 wird dieser Ton als Sextakkord harmonisiert, in Takt 50 ist er Bestandteil eines verminderten Septakkords. Die Schlussgruppe lässt sich als dreimaliger Anlauf zu einer großangelegten, authentischen Ganzschlusskadenz in der Nebentonart verstehen (›Arientriller‹-Kadenz[118]), die ihren Abschluss in Takt 54 erreicht. In Beispiel 29 ist das idealtypische Kadenzmodell (ohne Unterbrechungen) zu sehen, die Varianten b–d skizzieren verschiedene Möglichkeiten der Harmonisierung der mi- und fa-Bassstufen. Am Anfang der Varianten a und b wird die Möglichkeit einer (subdominantischen oder dominantischen) Pendelbewegung angedeutet, die dem kadenzeinleitenden Sextakkord vorangehen und ihm ein besonderes Gewicht verleihen kann.[119]
Beispiel 29: Modelle zur Beschreibung von Gestaltungen in der Formfunktion Schlussgruppe
Audiobeispiel 29: Modelle zur Beschreibung von Gestaltungen in der Formfunktion Schlussgruppe
Vor dem Hintergrund dieser Typisierung lässt sich die Schlussgruppe in KV 309 (284b) als Kombination der Kadenzmodelle b (T. 43/46) und c (T. 50) verstehen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei an dieser Stelle jedoch noch einmal darauf hingewiesen, dass die Formfunktion Schlussgruppe nicht durch die Kadenzstruktur bewirkt wird, sondern dass die Auffassung der Takte 42–53 als Schlussgruppe in KV 309 (284b) einen Vergleichsbereich eröffnet, der sich strukturell als Kadenz erklären lässt. In diesem Vergleichsbereich liegen auch groß angelegte Ausarbeitungen, wie zum Beispiel die virtuose Kadenz der Waldstein-Sonate (Bsp. 30; die mi-fa-sol-ut-Bassstufen sowie die chromatische Erhöhung der fa-Stufe sind markiert).
Beispiel 30: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate C-Dur op. 53 Waldstein, erster Satz, T. 50–74, Schlussgruppe
Audiobeispiel 30a: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate C-Dur op. 53 Waldstein, erster Satz, T. 49–76
(Beethoven. The Piano Sonatas, Vladimir Ashkenazy, Decca London 443 713-2, 1995, Track 1, 1:27–2:10)
Audiobeispiel 30b: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate C-Dur op. 53 Waldstein, erster Satz, T. 49–76 mit Bassmodell
(Sample des Autors auf Grundlage der Aufnahme in: Ludwig van Beethoven. Solomon plays Beethoven Sonatas, Solomon [Cutner], EMI 1948/56)
In Tabelle 3 finden sich Referenzen auf weitere Schlussgruppengestaltungen in Kopfsätzen von Klaviersonaten Mozarts, die sich strukturell als Ausarbeitung eines Kadenzmodells interpretieren lassen. Die Bassstufen (mi-fa-sol-ut) können dabei durch Prolongationen auseinandertreten bzw. durch Sequenzen verbunden sein. Darüber hinaus kann der kadenzielle Abschluss mehrfach erreicht werden (Reihung von Kadenzen).
Tabelle 3: Kadenzstrukturen in der Formfunktion Schlussgruppe in den Kopfsätzen von Klaviersonaten W.A. Mozarts
1) mit prolongierender VI-ii-V-I-Sequenz (Fonte)[120]
2) mit prolongierendem Halbschluss
3) mit prolongierender I-VI-II-V-Sequenz (Monte) und prolongierendem Sextenparallelismus im Außenstimmensatz
4) mi-Stufe fehlt, fa- und sol-Stufe werden über eine Quintfallsequenz verbunden, anschließend Wiederholung ab der sol-Stufe
5) zwei Kadenzanläufe, über einen Trugschluss verbunden
6) mit alterierter fa-Stufe
7) Die Takte 48–53 lassen sich über die Kadenzstruktur d) erklären, gehören aber nicht zur Formfunktion Schlussgruppe, sondern zu einem Thema nach der Schlussgruppe, die in Takt 41 endet.
Bisher wurde die Kadenzstruktur eines Ganzschlusses in der Nebentonart als ein spezifischer Typ der Formfunktion Schlussgruppe erörtert, und es wurde darauf hingewiesen, dass die Kadenz nicht Ursache für die Zuweisung der Formfunktion Schlussgruppe ist. Auch wenn sich das Ende einer Exposition des 18. Jahrhunderts schwerlich ohne eine abschließende Kadenz denken lässt, zeigen die Beispiele 31 und 32, dass eine Kadenzstruktur in der Nebentonart nicht zwangsläufig eine Schlussgruppenwirkung verursacht. Denn wenn in der Formfunktion Seitensatz (subordinate theme) eine Periode (period) oder ein Satz (sentence) erklingt, können Taktgruppen aufeinander folgen, die trotz vergleichbarer Kadenzstruktur (Kadenz) unterschiedliche Formfunktionen repräsentieren.
Beispiel 31: W.A. Mozart, Klaviersonate B-Dur KV 570, erster Satz, T. 52–57, Ganzschluss in der Nebentonart in der Formfunktion Seitensatz
Audiobeispiel 31a: W.A. Mozart, Klaviersonate B-Dur KV 570, erster Satz, T. 50–59
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8685, 1990, Track 7, 0:55–1:05)
Audiobeispiel 31b: W.A. Mozart, Klaviersonate B-Dur KV 570, erster Satz, T. 50–59 mit Bassmodell
(Sample des Autors auf Grundlage der Aufnahme in: Mozart. The Complete Music for Piano Solo, Vol.1–3, Walter Gieseking, Seraphim IC-6047, ID-6048, ID-6049, 1955)
Beispiel 32: W.A. Mozart, Klaviersonate B-Dur KV 570, erster Satz, T. 65–69, Ganzschluss in der Nebentonart in der Formfunktion Schlussgruppe
Audiobeispiel 32a: W.A. Mozart, Klaviersonate B-Dur KV 570, erster Satz, T. 64–69
(Mozart. Les Sonates pour le Forte-Piano sur instrument d'époque. Paul Badura-Skoda, Auvidis-Astrée E8685, 1990, Track 7, 1:13–1:20)
Audiobeispiel 32b: W.A. Mozart, Klaviersonate B-Dur KV 570, erster Satz, T. 64–71 mit Bassmodell
(Sample des Autors auf Grundlage der Aufnahme in: Mozart. The Complete Music for Piano Solo, Vol.1–3, Walter Gieseking, Seraphim IC-6047, ID-6048, ID-6049, 1955)
Beispiele 31 und 32 entstammen beide dem Kopfsatz der Klaviersonate B-Dur KV 570 und zeigen perfekte authentische Kadenzen in der Nebentonart F-Dur (T. 52–57 und T. 66–69). Der Proportion und Ausdehnung nach scheint die erste Kadenz etwas gewichtiger zu sein als die zweite, vom musikalischen Ausdruck her ist jedoch die zweite gewichtiger als die erste. Denn die in Beispiel 32 gezeigte Inszenierungsweise ist virtuos und nach außen gerichtet (›brillante‹ ›Arientriller‹-Kadenz), die in Beispiel 31 wirkt demgegenüber schlicht und nach innen gewendet. Die Inszenierungsweise des zuletzt genannten Beispiels ist für die Formfunktion Seitensatz charakteristisch, die virtuose Geste in Beispiel 32 findet sich üblicherweise in der Formfunktion Schlussgruppe.
Zusammenfassung und Ausblick
Der vorliegende Beitrag ist von einer Kritik an einem im deutsch- und englischsprachigen Diskurs verbreiteten Verständnis von Formfunktionen (formal functions) ausgegangen, um an zweiteiligen Expositionen ein alternatives Verständnis für die Formfunktionen Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe zu veranschaulichen.
1.) Das Verständnis von Formwirkungen als bewirkten Wirkungen bzw. ein kausalwissenschaftliches Verständnis von Formfunktionen wird aus wissenschaftstheoretischer Überzeugung abgelehnt. Eine Folge davon ist die Zurückweisung der (bei Ratz ideologisch belasteten) Kategorien des ›fest Gefügten‹ (tight-knit) und ›locker Gefügten‹ (loose), die üblicherweise an die Formfunktionen Hauptsatz und Seitensatz (main theme, subordinate theme) gekoppelt werden (und – aus dieser Perspektive – die Formfunktionen daher bewirken).
2.) Die in vielen Analysen vernachlässigten Kategorien der Proportion/Ausdehnung sowie der Inszenierungsweise werden als wichtig erachtet und bei der Bestimmung von Formfunktionen berücksichtigt.
Aus systemtheoretischer Sicht (nach Niklas Luhmann) basiert jedes Beobachten auf »willkürlichen« Entscheidungen eines Beobachters, das heißt Beobachtungen bzw. das Unterscheiden und Bezeichnen von Sachverhalten sind kontingent (so und auch anders möglich, jedoch nicht beliebig).[121] Jede Beobachtung ist demnach abhängig von einem individuellen Standpunkt und geleitet von einer Absicht des Beobachters. Die Absicht dieses Beitrags liegt darin, durch funktionale Analysen und Bestimmung funktional äquivalenter Gestaltungen kompositionsgeschichtliche Erkenntnisse über Entwicklungen der Gattungen Sonate und Sinfonie zu erhalten. Meine Forschungen haben mich zu einer Interpretation der Formfunktionen Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe geführt, die sich in Teilen von einem auf William E. Caplin und Erwin Ratz zurückgehenden Verständnis substanziell unterscheidet.
Im Hinblick auf den Hauptsatz ermöglicht mir die im Vorangegangenen dargelegte Perspektive, die folgenden Ausarbeitungen als funktional äquivalent anzusehen:
W.A. Mozart, KV 545, erster Satz, T. 1–4 (viertaktige Gestaltung ohne kadenziellen Abschluss)
J. Haydn, Hob. XVI:8, erster Satz, T. 1–4 (viertaktige Gestaltung ohne kadenziellen Abschluss)
J. Haydn, Hob. XVI:14, erster Satz, T. 1–4 (viertaktige Gestaltung mit kadenziellem Abschluss)
W.A. Mozart, KV 9, erster Satz, T. 1–6 (sechstaktige Gestaltung mit kadenziellem Abschluss)
W.A. Mozart, KV 311 (284b), erster Satz, T. 1–7 (siebentaktige gestauchte Periode)
W.A. Mozart, KV 9, erster Satz, T. 1–8 (achttaktige Periode)
W.A. Mozart, KV 8, zweiter Satz, T. 1–8 (achttaktige Periode)
W.A. Mozart, KV 281 (289f), erster Satz, T. 1–8 (achttaktige Periode)
L. v. Beethoven, op. 2/1, erster Satz, T. 1–8 (achttaktiger Satz)
J. Haydn, Hob. I:27, T. 1–12 (zwölftaktige Gestaltung mit kadenziellem Abschluss)
L. v. Beethoven, op. 10/2, erster Satz, T. 1–12 (zwölftaktiger erweiterter Satz)
W.A. Mozart, KV 280 (189e), erster Satz, T. 1–13 (13-taktige Gestaltung mit kadenziellem Abschluss)
W.A. Mozart, KV 283 (189h), erster Satz, T. 1–16 (16-taktiger Satz mit Taktgruppenwiederholung)
W.A. Mozart, KV 309 (284b), dritter Satz, T. 1–19 (19-taktige erweiterte Periode)
W.A. Mozart, KV 309 (284b), dritter Satz, T. 1–21 (19-taktige Gestaltung mit Taktgruppenwiederholung)
W.A. Mozart, KV 542, erster Satz, T. 1–34 (34-taktige stark erweiterte Periode)
Die großdimensionierte Ausarbeitung des Hauptsatzes in KV 542 erweist sich aus der hier dargelegten Perspektive als komplexe Erweiterung einer Periode sowie als Spiel mit jenen Konventionen, die Mozart seit seinen frühesten Kompositionen zur Gestaltung der Formfunktion Hauptsatz eingesetzt hat.
Im Hinblick auf die Formfunktion Überleitung werden folgende Gestaltungen als funktional äquivalent betrachtet:
W.A. Mozart, KV 3, T. 7–8 (Standardharmonik ohne Kadenz)
W.A. Mozart, KV 281 (189f), erster Satz, T. 9–16 (Standardharmonik mit Kadenz und satzartiger Gestaltung)
W.A. Mozart, KV 6, vierter Satz, T. 9–15 (Quintfallharmonik ohne Kadenz)
W.A. Mozart, KV 38, Nr. 4 Aria (»Laetari, iocari«), T. 43–50 (mit ›Fonte‹-Sequenzharmonik)
W.A. Mozart, KV 481, erster Satz, T. 24–36 (Mollkontrast und ›Fonte‹-Sequenzharmonik)
W.A. Mozart, KV 332 (300k), erster Satz, T. 22–40 (Mollkontrast, ›Fonte‹-Sequenzharmonik und satzartige Gestaltung)
L. v. Beethoven, op. 10/2, erster Satz, T. 13–37 (Deformation durch ›falschen‹ Halbschluss)
L. v. Beethoven, op. 10/3, erster Satz, T. 17–30 (Deformation durch thematischen Charakter)
L. v. Beethoven, op. 55, erster Satz, T. 37–45 (Harmonisierungsvariante chromatischer Parallelismus)
Interessant sind in Bezug auf die Formfunktion Überleitung Beobachtungen zu einfachsten Gestaltungen im Sinne der Oktavregel (Tonleiterstufen – oder –) über das Eindringen chromatischer Farbe (durch die ›Fonte‹-Sequenzharmonik) bis hin zum Charakterwechsel durch Mollkontrast (durch einen der ›Fonte‹-Sequenz vorangehenden Mollakkord) und zu den Deformationen Beethovens (durch eine ›falsche‹ Halbschluss- oder Charaktergestaltung).
In Bezug auf den Seitensatz sehe ich die folgenden Gestaltungen als funktional äquivalent an:
J. Haydn, Hob. XVI:12, erster Satz, T. 11–12 (zweitaktige Pendelharmonik)
W.A. Mozart KV 545, erster Satz, T. 14–17 (viertaktige Pendelharmonik)
W.A. Mozart KV 279 (189d), erster Satz, T. 16–20 (viertaktige ›Fonte‹-Sequenzharmonik)
W.A. Mozart KV 309 (284b), erster Satz, T. 35–42 (achttaktige periodische Gestaltung)
W.A. Mozart KV 284 (205b), erster Satz, T. 22–29 (achttaktige Periode)
J. Haydn, Hob. I:30, erster Satz, T. 21–29 (achttaktiger Satz)
W.A. Mozart KV 533, erster Satz, T. 41–57 (16-taktige Periode)
L. v. Beethoven op. 53, erster Satz, T. 34–50 (16-taktige Periode)
W.A. Mozart KV 570, erster Satz, T. 41–57 (17-taktiger Satz)
Diese Vergleiche legen eine entwicklungsgeschichtliche Vorstellung nahe, die von der einfachen zweitaktigen Pendelbewegung (Hob. XVI:12) über die mediantische E-Dur-Farbe zum Beginn des Seitensatzes in einer C-Dur-Sonate (KV 279 [189d])[122] über eine achttaktige periodische Gestaltung (KV 309 [284b]) und 16-taktige Ausarbeitungen als Satz (KV 570) und Periode (KV 533) bis zur periodischen Seitensatzgestaltung in Beethovens Waldstein-Sonate op. 53 in mediantischer Nebentonart führt. Aus dieser Perspektive wären periodische Seitensatzgestaltungen nicht jene Sonderfälle, als die sie Erwin Ratz noch deklariert hatte, sondern könnten als hochartifizielles motivisches Design für gängige Generalbassmodelle in spezifischen Formfunktionen verstanden werden.
In Bezug auf die Formfunktion Schlussgruppe sehe ich die folgenden Gestaltungen als funktional äquivalent an:
W.A. Mozart KV 282, dritter Satz (Menuetto II), T. 12–16
W.A. Mozart KV 26, erster Satz, T. 19–25
W.A. Mozart KV 8, erster Satz, T. 19–22 (Schlussgruppe mit Trugschluss)
W.A. Mozart KV 282 (189g), erster Satz, T. 11–15 (Schlussgruppe mit Trugschluss)
W.A. Mozart KV 309, erster Satz, T. 43–54 (Schlussgruppe mit Unterbrechungen)
W.A. Mozart KV 309, dritter Satz, T. 58–77 (Schlussgruppe mit Trugschluss und Unterbrechung)
W.A. Mozart KV 283, erster Satz, T. 31–51 (Schlussgruppe mit mehreren Abschlüssen)
W.A. Mozart KV 284, erster Satz, T. 38–50
L. v. Beethoven op. 53/1, T. 49–74 (große Ausdehnung und Virtuosität)
W.A. Mozart KV 533, erster Satz, T. 57–99 (große Ausdehnung und Virtuosität)
Auch hier ist es möglich, einen Bogen vom Menuett (vier Takte) bis zu individuellen und großflächigen Ausarbeitungen Beethovens (25 Takte) und Mozarts (KV 533; 42 Takte) zu spannen. Auf den Zusammenhang zwischen der Formfunktion Schlussgruppe und der virtuosen Geste, die durch das Improvisieren von Kadenzen inspiriert worden sein könnte, habe ich bereits an anderer Stelle hingewiesen.[123]
Die Entscheidung, sich in diesem Beitrag auf zweiteilige Expositionen mit einem deutlichen Halbschluss als Mittelzäsur (two part expositions) zu beschränken, ist aus Pragmatik gefällt worden. Die Ausführungen des vorliegenden Beitrags müssen jedoch im Kontext eines flexiblen Expositionsmodells gesehen werden, in dem die Mittelzäsur fehlen kann (continuous exposition) und Formfunktionen gedoppelt werden können.[124] Ein Expositionsmodell mit extrinsisch definierten Formfunktionen (wie z.B. »der Hauptsatz erklingt am Anfang, bis die Überleitung beginnt«, »die Überleitung erklingt zwischen Haupt- und Seitensatz«, »der Seitensatz erklingt zwischen Überleitung und Schlussgruppe«, »die Schlussgruppe schließt die Exposition nach einem Seitensatz«[125]) ist jedenfalls so abstrakt, dass es nur wenige Sonatenexpositionen geben dürfte, an denen dieses Modell scheitert.[126] Die Frage, durch welche intrinsischen Eigenschaften die genannten Formfunktionen dann konkretisiert werden müssen, um interessante Erkenntnisse zu ermöglichen, wird sich dabei nicht generell, sondern nur im Hinblick auf konkrete Forschungsfragen und -ergebnisse beantworten lassen.
Anmerkungen
2014 wurde ich auf dem 15. Kongress der Gesellschaft für Musiktheorie von Nathan Martin um einen Beitrag für die Zeitschrift Music Theory and Analysis gebeten. Die Wege, die der vorliegende Beitrag in den letzten vier Jahren genommen hat, sind verworren und sollen hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Erwähnt wird die lange Entstehungszeit aus drei Gründen: Auf Wunsch meines amerikanischen Kollegen begann der Beitrag in einer früheren Form mit einem längeren Abschnitt zur Person Erwin Ratz. Dieser Teil wurde für die vorliegende Fassung herausgelöst und auf musikanalyse.net gesondert veröffentlicht (Kaiser 2018). Der zweite Grund ist, dass ich in den Fachgesprächen mit Nathan Martin sehr wertvolle Hinweise erhalten habe, für die ich ihm an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. Der letzte Grund ist mein Dank an die Redaktion der ZGMTH, die mir auf sehr konstruktive Weise geholfen hat, die verschiedenen Fassungen dieses Beitrags zu vereinheitlichen und in die vorliegende Form zu bringen. Meinem Kollegen Claus Bockmaier danke ich herzlich für Durchsicht des Manuskripts und anregenden Gedankenaustausch zum Thema. | |
In einigen Quellen findet sich der Hinweis, dass die erste Auflage von der Universal Edition verlegt worden sei (z.B. Kretz 1996, 79 und Kühn 2005, 205). Nur die zweite (1968) sowie dritte, erweiterte und neugestaltete Auflage (1973) wurden von der UE verlegt. | |
Ratz 1951, 24. | |
»Erwähnt sei in diesem Zusammenhang noch, daß diese beiden Typen bereits in der grundlegenden Untersuchung Wilhelm Fischers: Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils (Studien zur Musikwissenschaft III, Wien 1915), als Liedtypus bzw. Fortspinnungstypus beschrieben wurden.« (ebd. 25) | |
Zum Verhältnis zwischen Fortspinnungstypus und Satz (sentence) vgl. Braunschweig 2015, 167–184. | |
»I begin by illustrating the concept of formal function in connection with the three most important theme-types of classical instrumental music – the sentence, the period, and the small ternary.« (Caplin 1998, 9) | |
»Types, which are the traditional objects of theories of form, are the easier category to grasp. They are conventionalized concatenations of musical units arranged into standard conglomerations – constructs like compound periods, small binaries, or recapitulations« (Vande Moortele/Pedneault-Deslauriers/Martin 2015, 2). | |
»But the formal ›types‹ have no such determinate temporal expression. For example, a sentence form per se does not situate itself in any particular location in time. […] Formal types are thus atemporal« (Caplin 2010, 32). | |
»At the same time, the term has acquired a far more concrete meaning in the gradual unfolding of Caplin’s thinking. In this latter sense, formal functions stand conceptually opposed to formal types.« (Vande Moortele/Pedneault-Deslauriers/Martin 2015, 2; Hervorhebung original) | |
Caplin 1998, 9 (Hervorhebung original). | |
Ebd., 254 (Glossar; Hervorhebung original). | |
Jede Wahrnehmung von Musik ist an Zeit gekoppelt, daher kann auch die Wahrnehmung einer Formfunktion bzw. die Rolle, die ein Abschnitt für das Ganze spielt, nur in der Zeit erfahren werden. | |
Bent/Pople 2011. | |
Caplin 1998, 254f. | |
Agawu 1991, 51. | |
Caplin 1998, 15. | |
Bent/Pople 2011. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts bezeichnet Joachim Burmeister diese drei Formfunktionen als »Exordium«, »Ipsum corpus carminis« und »Finis« (Burmeister 1606, 72); Johannes Ernst Eberlin nennt sie im 18. Jahrhundert »Exordium«, »Subjectis intermediis« und »Final« (Eberlin 1761, »Praefatio ad Discipulum« [Vorwort]); vgl. hierzu Kaiser 2007, 61f., 69f. und 84ff. | |
»As defined here, cadential function begins with the onset of the cadential progression, which, in the case of the sentence form, usually occurs around the middle of the continuation phrase« (Caplin 1998, 45). Auf der Basis der Unterscheidung phrase (Taktgruppe) und function (Formfunktion) geht Caplin davon aus, dass in der Taktgruppe »continuation phrase« bzw. im zweiten Abschnitt des sentence-Modells zwei Formfunktionen vereint sind. Caplin nennt dies eine »form-functional fusion« (ebd.). | |
»Notice that the period contains only two functions: a specific medial function does not arise in this theme type.« (Caplin 2010, 27) | |
Ebd., 34. | |
Ebd., 34f. In Classical Form gibt Caplin Beispiele dafür, welche Harmoniemodelle unter prolongational, sequential und cadential zu verstehen sind (vgl. Caplin 1998, 14–31). | |
Ratz 1968, 18. | |
Vgl. hierzu die Analyse von Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21, erster Satz, Takt 77–90, bei Caplin (2010, 31): »Though these bars appear to ›begin‹ the second subordinate theme, they actually sound more medial in function, for they feature continuational characteristics such as sequential harmonies and repeated one-bar units. What follows in mm. 81–83 brings cadential harmonies, but in the wrong key. The theme finally ends with a genuine cadential function in mm. 84–88, culminating in a perfect authentic cadence. Thus while this theme contains two of the three functions of the sentence form – continuation and cadential – a clear functional beginning is actually missing, and so the theme seems to start, in some sense, already in its middle. By fixing our attention on this theme’s constituent functions, we can be very precise on just how this particular sentence-like structure deviates from the norms of its type.« | |
Luhmann 1962/2009, 17. | |
Schützeichel 2003, 251. | |
Ebd. | |
Vgl. Caplin 2010, 25. | |
Ebd., 37 (Hervorhebungen original). | |
Vgl. Ratz 1951, 22 ff., bei Caplin 1998, 33, als »Tight-Knit Themes«. | |
Als Paradigma für die achttaktige Periode verweist Ratz (1951, 21) auf den ersten Teil »des als dreiteiliges Lied gebauten Hauptthemas aus dem Largo der Sonate [für Klavier] Op 2 Nr. 2 [von L. van Beethoven]«. | |
Als Paradigma des achttaktigen Satzes benennt Ratz (ebd., 23) den Beginn des Kopfsatzes von Beethovens Klaviersonate f-Moll op. 2/1 (siehe unten, Bsp. 2). | |
Vgl. ebd., 22 und 25ff. | |
Ebd., 29ff., bei Caplin 1998, 95, als »Looser Formal Regions«. | |
Vande Moortele/Pedneault-Deslauriers/Martin 2015, 3. | |
Darcy 2000, 125. | |
1. antecedent und continuation, 2. antecedent und cadential, 3. compound basic idea und continuation sowie 4. compound basic idea und consequent. | |
»Such compound themes are defined as structures containing sixteen real measures« (Caplin 1998, 65). | |
Caplin 2010, 21. | |
Vgl. Bey 2000. | |
»Das, was ihn [Beethoven; d. Verf.] in Wahrheit bewegte, waren die geheimnisvollen und verborgenen Gesetzmäßigkeiten, in denen sich das Walten einer unsichtbaren göttlich-geistigen Welt im Menschen, in der Natur und im Weltall offenbart. […] Betrachten wir die Musik Beethovens aus einer solchen geistigen Perspektive, so vermag sie uns wieder zu dem zu werden, was Beethoven in ihr sah: eine höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie.« (Ratz 1951, 241) | |
»Analog dem Begriff der Urpflanze in der Metamorphosenlehre Goethes legt auch die funktionelle Formenlehre ihren Betrachtungen eine Urform zugrunde, aus der sämtliche Formen von den einfachsten (Scherzo) bis zu den kompliziertesten (Sonatenform und Fuge) und den zusammengesetzten Formen (Rondo) abzuleiten sind« (Ratz 1968, 17). | |
Vgl. hierzu Bailey Shea 2004, 6f. | |
Caplin 1998, 10. | |
Ratz 1951, 23. | |
Eine Kritik des darauf aufbauenden Sachverhalts findet sich in Kaiser 2007, 65–72. | |
»Es sei hier noch darauf hingewiesen, daß wohl zwischen dem Entwicklungsteil des ›Satzes‹, der sich ja auch einer Abspaltungstechnik bedient, und dem Liquidationsprozeß in der Durchführung gewisse Ähnlichkeiten bestehen, die aber den grundlegenden Unterschied in der Bedeutung und Funktion dieser beiden Teile nicht vergessen lassen dürfen. In der Entwicklung handelt es sich um ein Zusammenfassen, Beschleunigen, Konzentrieren im Dienste der Steigerung; im Abspaltungsprozeß der Durchführung hingegen um eine immer weiter gehende Auflösung des thematisch-motivischen Materials, die schließlich zur völligen Unverbindlichkeit desselben in Gestalt von Läufen, Dreiklangszerlegungen, Wiederholung kleinster Motivpartikel oder einzelner Töne (im Verweilen auf der Dominante) führen.« (Ratz 1951, 106) | |
»A cadential idea contains not only a conventionalized harmonic progression but also a conventionalized melodic formula, usually of falling contour. The melody is conventional because it lacks motivic features that would specifically associate it with a particular theme. In this sense, the cadential idea stands opposed to the basic idea, whose characteristic motives are used precisely to define the uniqueness of the theme.« (Caplin 1998, 11) Es ist denkbar, dass Caplin zur Konzeption der ›cadential idea‹ durch Arnold Schönbergs »Kontur der Kadenz« angeregt worden ist, doch sah dieser im Falle des Themas aus Beethovens op. 2/1 ein beschleunigendes und kein retardierendes Moment. »Um die Funktion einer Kadenz auszuüben, muß die Melodie eine gewisse charakteristische Gestalt annehmen, welche die besondere Kadenzkontur hervorbringt, die gewöhnlich mit dem Vorhergehenden kontrastiert. Die Melodie zeichnet im allgemeinen die Veränderung der Harmonie nach, entweder der ›Tendenz der kleinen Noten‹ nachgebend (wie in einem Accelerando), oder im Gegenteil, ihr durch den Gebrauch von größeren Notenwerten widersprechend (wie in einem Ritardando). Die Vermehrung von kleinen Noten in Kadenzen kommt häufiger vor als ihre Verminderung.« (Schönberg 1979, Textband, 28f. und Notenbeispielband, 38 [Bsp. 52a]) Darüber hinaus ist denkbar, dass Gleichsetzung von Kadenzkontur und Kadenz im Umfeld von Carl Dahlhaus gelehrt worden ist; vgl. hierzu Kühn 1987, 60. Clemens Kühn war in den 1970er Jahren Schüler von Dahlhaus und wurde 1977 am Musikwissenschaftlichen Institut der Technischen Universität Berlin promoviert, also zur gleichen Zeit, als Caplin dort seinen Studienaufenthalt hatte. | |
»Like Sonata Theory, the theory of formal functions also recognises that a subordinate theme requires perfect authentic cadential closure.« (Caplin/Martin 2016, 37, Anm. 12) | |
Braunschweig 2015. | |
Anstoß für die folgenden Ausführungen gab das Kapitel »Hermeneutische Interpretation und funktionale Analyse als komplementäre Formen objektiven Verstehens« von Wolfgang L. Schneider (2009, 71–80). Zur Veranschaulichung der Begriffe ›Modell‹, ›Idealtypus‹, ›Hermeneutik‹ und ›Funktionale Analyse‹ vgl. Kaiser 2017a. | |
»Denn welchen Inhalt immer der rationale Idealtypus hat: […] stets hat seine Konstruktion innerhalb empirischer Untersuchungen nur den Zweck: die empirische Wirklichkeit mit ihm zu ›vergleichen‹, ihren Kontrast oder ihren Abstand von ihm oder ihre relative Annäherung an ihn festzustellen, um sie so mit möglichst eindeutig verständlichen Begriffen beschreiben und kausal zurechnend verstehen und erklären zu können.« (Weber 1917, 83). Vasili Byros (2015, 218) hat darauf hingewiesen, dass der ›schema‹-Begriff im nordamerikanischen Diskurs oftmals nicht im Sinne von Max Weber verwendet werde. Er schrieb anlässlich eines Gesprächs mit James Webster: »Webster, too, initially expressed reservation at the possibility of a sonata ›schema.‹ Soon enough, however, he inquired, ›In Gjerdingen’s sense?‹, thus opening the possibility for an alternative understanding. This time, consequently, no real disagreement ensued, as Max Weber and Carl Dahlhaus entered the room: the idea seemed more reasonable when, following a short clarification on my part, Webster himself associated the term ›schema‹ not with a specific musical parameter, but with a musical ›ideal type‹, which has no parametric or hierarchical limitations in principle«. | |
Zum Begriff des Modells im Hinblick auf die musikalische Analyse vgl. Kaiser 2016. | |
Ein Modell zum Beschreiben symmetrischer Perioden mit einer Ausdehnung von vier- bis sechzehn Takten. | |
Die Formfunktion lässt sich dabei sogar als Eigenschaft des Modells verstehen, sodass es möglich ist, nur periodische Gestaltungen nach einem Halbschluss der Nebentonart – also periodische Seitensatzgestaltungen – in den Blick zu nehmen. | |
Unter empirischer Forschung werden hier Fragestellungen verstanden, die »empirischer Natur« sind und »sich nur nach Durchsicht umfangreicher Repertoires zuverlässig beantworten« lassen (Neuwirth/Rohrmeier 2016, 172). Der Einsatz digitaler Technik für Korpusanalysen ist dabei möglich, jedoch nicht zwingend notwendig, er birgt gleichermaßen Chancen (der Repertoirebewältigung) und Herausforderungen (der Reflexion und Programmierung). | |
»Jeder komplexe Sachverhalt beruht auf einer Selektion der Relationen zwischen seinen Elementen, die er benutzt, um sich zu konstituieren und zu erhalten. Die Selektion placiert und qualifiziert die Elemente, obwohl für diese andere Relationierungen möglich wären. Dieses ›auch anders möglich sein‹ bezeichnen wir mit dem traditionsreichen Terminus Kontingenz.« (Luhmann 1984, 47) | |
Koch 1787, 347f. | |
Vgl. Caplin 1998, 50. | |
Kochs Gliederungsmodell für erste große Hauptabschnitte (»Hauptperioden«) umfasst vier Absätze (»Hauptruhepuncte des Geistes«): den Grundabsatz und den Quintabsatz in der Haupttonart, den Quintabsatz sowie eine ›Cadenz‹ in einer Nebentonart (vgl. Koch 1793, 342f.). Koch räumt Möglichkeiten des Fehlens oder der Verdopplung einzelner Absätze ein (vgl. Kaiser 2007, 100f.). | |
Periode (period) und Satz (sentence) werden in Formenlehren als typisch für Themengestaltungen gelehrt; vgl. z.B. Ratz 1951, 17ff., Kühn 1987, 55ff. u.v.a. | |
Die Rubrik I-(x)-V-I wurde von Wolfgang Plath am Ende seines Aufsatzes »Typus und Modell« angeregt (vgl. Plath 1975/91, 214). Vgl. hierzu Kaiser 2007, 54–60 und 208–211. | |
Vgl. Gjerdingen 1988, 3ff. | |
Vgl. Kaiser 2007, 179ff. | |
Vgl. Gjerdingen 2007, 45ff. | |
›Nannerl-Notenbuch‹, Menuett Nr. 17, Trio in B-Dur (ohne Trugschluss). | |
Kirkendale 1972. | |
Mit Elision des zweiten Erscheinens der vi. Stufe (Trugschluss). | |
Vgl. Kaiser 2007, 166ff. | |
Der Hauptsatz lässt sich über das I-IV-I-V-I-Modell referenzieren, wenn die V. Stufe in Takt 5 als akzidentiell angesehen wird. Eine alternative Möglichkeit läge darin, die ersten sechs Takte als barockes Eröffnungs-Modell zu interpretieren: . | |
Caplin schlägt für die Integration der Kadenz in die IV-I-V-I-Harmoniefolge den Begriff ›Cadential-Prinner‹ vor (vgl. Caplin 2015, 30ff.). | |
Vgl. Caplin 2010, 38. | |
Vgl. Kaiser 2007, 128, 179–184, 211–252 und 285–290. | |
Vgl. ebd., 179–184. | |
Vgl. ebd., 211–228. | |
Vgl. Kaiser 2009. | |
Ein Artikel zu diesem Thema befindet sich im Druck (Kaiser in Vorber.). | |
Kaiser 2017c. | |
Gjerdingen 2007. | |
Dahlhaus 1968/2001, 85–101, in englischer Übersetzung als Gjerdingen 1990 erschienen. | |
Vgl. z.B. Froebe 2007 und Neuwirth 2008. | |
Vgl. z.B. Eckert 2014, Froebe 2015, Rohringer 2015, Caplin 2015 u.a. | |
Die Benennung eines Satzmodells nach einem Komponisten wird in Deutschland kritisch gesehen (vgl. Froebe 2007, 189), obwohl die Bezeichnung ›Pachelbelsequenz‹ im populärwissenschaftlichen Bereich verbreitet ist und sogar eine lexikalische Würdigung erfahren hat (vgl. Amon 2005, 238). | |
Vgl. Neuwirth 2008, 406, und Gjerdingen 2007, 48. | |
Gemeint ist die Tatsache, dass die Standardharmonisierung des oberen Tetrachords der Regola dell’ottava in C-Dur abwärts mit der Harmonisierung des unteren Tetrachords einer Regola dell’ottava in G-Dur identisch ist. Anhand der Oktavregel in C-Dur konnte daher im 18. Jahrhundert die Modulation in die Oberquinte (und damit die wichtigste Modulation für Kompositionen in Dur) geübt werden. Vgl. hierzu Kaiser 2007, 287–290 und 307f., sowie 2017b. | |
Vgl. Caplin/Martin 2016, 11. | |
Ebd., 10. | |
Vgl. hierzu Kaiser 2009, 342–344 und 368f. | |
Caplin/Martin 2016, 10 (Ergänzungen des Verfassers). | |
»Another subordinate theme from a two-part exposition, found in the opening movement of Beethoven’s Piano Sonata in F, Op. 10 No. 2 (Ex. 3), illustrates an additional idea that will prove important for our discussion of continuous expositions.« (ebd.) | |
Takte 25–40. | |
Takte 9–17. | |
Takte 23–35. | |
Eine vergleichbare Halbschlussformulierung mit acht Takte währender Dominantprolongation findet sich auch im Kopfsatz der kurz zuvor entstandenen Klaviersonate C-Dur op. 2/3, Takte 21–26. | |
Die Scheinreprise in dieser Sonate lässt sich auch als Spiel mit Konventionen verstehen und könnte ein Vorbild im Kopfsatz von W.A. Mozarts Klaviersonate F-Dur KV 280 (189e) haben (vgl. hierzu Kaiser 2015, 521 und 527). | |
Vgl. hierzu Kaiser 2007, 221. | |
Vgl. hierzu Kaiser 2009, 369f. | |
Vgl. Caplin 1998, 102. | |
Vgl. Hepokoski/Darcy 2006, 106. | |
Ebd. | |
Hierzu ist allerdings eine starke Aushöhlung des ursprünglichen Satz-Begriffs (im Sinne von Ratz) notwendig. Denn erstens hat die Phrasenwiederholung (T. 3–4) mit der Phrase (T. 1–2) wenig gemein, zweitens zeigt der Nachsatz (T. 5–12) keine Entwicklung des Vordersatzes (im Sinne eines Abspaltungsprozesses), sondern einen motivisch-thematisch vollkommen eigenständigen Abschnitt. Um angesichts dieser Befunde von einem Satz sprechen zu können, muss das Modell des Satzes um die innere Dynamik auf ein rein syntaktisches Schema (2+2+x) reduziert werden. | |
Vgl. hierzu den Satz (sentence) zu Beginn der Klaviersonate C-Dur KV 330 (300h), Takte 1–8 (Bsp. 10). | |
Ein Wechsel des Satzbilds muss nicht mit einem Wechsel der Inszenierungsweise bzw. des musikalischen Gestus einhergehen. Zum Parameter ›Inszenierungsweise‹ vgl. Kaiser 2007, 75ff. Der Sachverhalt wird auch von Hepokoski/Darcy (2006, 95) erwähnt (»In general, we discourage the practice of conferring TR-status in the middle of an ongoing phrase, even though the texture and musical process begin to alter at that moment.«), führt bei diesen Autoren jedoch aufgrund der Kopplung von Struktur und Funktion zu anderen Analyseergebnissen. | |
»Ich meyne, wenn ein Stück eine schöne Melodie besitzt: die Eintheilung der Figuren symmetrisch behandelt ist: Schatten und Licht; das heißt: das singbare Gefällige mit dem Rauschenden wohl abwechselt: dann den Ohren der Zuhörer so gefällt, daß sie es noch einmal zu hören wünschen« (Daube 1798, 47). | |
Vgl. zum Beispiel: Hob. XVI:deest, 1. Satz, T. 13–20; Hob. XVI:8, 1. Satz, T. 5–8; Hob. XVI:12, 1. Satz, T. 5–11; Hob. XVI:18, 2. Satz, T. 9–12; Hob. XVI:45, 2. Satz, T. 11–13; KV 10, 1. Satz, T. 9–14; KV 14, 1. Satz, T. 11–14; KV 16, 3. Satz, T. 17–28; KV 26, 3. Satz, T. 17–22; KV 31, 1. Satz, T. 15–21; KV 45b (Anh. 214), 1. Satz, T. 17–24; KV 114, 2. Satz, T. 17–24; KV 134a (155), 3. Satz, T. 17–20; KV 158, 1. Satz, T. 12–31; KV 159, 1. Satz, T. 9–16; KV 169, 1. Satz, T. 12–19; KV 186b (202), 1. Satz, T. 12–26; KV 189f (281), 1. Satz, T. 9–17, und 2. Satz, T. 18–27; KV 211, 1. Satz, T. 25–29 und 2. Satz, T. 9–12; KV 284b (309), 1. Satz, T. 21–32; KV 293a (301), 2. Satz, T. 17–24; KV 296, 1. Satz, T. 22–42, und 3. Satz, T. 17–24; KV 300a (297), 2. Satz, T. 17–22; KV 300l (306), 3. Satz, T. 42–49; KV 315c (333), 3. Satz, T. 17–24; KV 317d (378), 3. Satz, T. 17–24; KV 374f (380), 3. Satz, T. 48–53; KV 385, 1. Satz, T. 13–35; KV 526, 3. Satz, T. 8–12; KV 545, 3. Satz, T. 9–12. | |
Fischer 1915, 31. | |
Ebd., 50. | |
Ebd., 52. | |
Ebd., 57. | |
Dahlhaus 1997, 44. | |
Vgl. hierzu Kaiser 2007, 200. | |
Vgl. ebd., 203–208. | |
Vgl. ebd., 75f. | |
»Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei noch erwähnt, daß es selbstverständlich auch Fälle gibt, wo in voller Absicht der Seitensatz fester geformt erscheint. Wir finden dies häufig bei Schubert, aber auch schon bei Beethoven, so z.B. in der Waldstein-Sonate Op 53, wo der Seitensatz als achttaktige Periode gebaut ist, die zur Wiederholung gelangt.« (Ratz 1951, 30f.) | |
Hinsichtlich der Proportion ist die Länge des Seitensatzes der Waldstein-Sonate im Verhältnis zur Expositionslänge nicht ungewöhnlich. Sie liegt mit 18% zwischen den Proportionen in den Sonaten KV 533 und KV 311 (284c). | |
Vgl. Kaiser 2007, 200ff. | |
Vgl. hierzu meinen Beitrag zur Gestaltung der Formfunktion Überleitung in der Musik W.A. Mozarts: Kaiser 2009. | |
Vgl. Kaiser 2007, 62. Der Begriff ›Schlussgruppe‹ ist in Deutschland zwar verbreitet, er wird jedoch wegen seiner Mehrdeutigkeit kritisch reflektiert (vgl. hierzu Schmidt-Beste 2006, 81–83). | |
Dieser Begriff findet sich in Gersthofer 1993, 45, 195–201 und 248. | |
Vgl. hierzu Kaiser 2007, 194ff. | |
Zur Verwendung der Sequenztypen ›Monte‹ und ›Fonte‹ (nach Joseph Riepel) bei Mozart vgl. ebd., 140–142, 220, 238–241, 243, 253–255 und 256–262. | |
»Hiermit gerät man zwangsläufig auf das Terrain, das unter Begriffen wie Historismus oder Relativismus zu weitläufigen Diskussionen Anlaß gegeben hat. In der Tat: Unterscheidungen werden immer willkürlich eingeführt und benutzt. Sie bleiben kontingent. Das gilt auch dann, wenn man Unterscheidungen von anderen Unterscheidungen unterscheidet und dadurch Kontexte schafft, in denen die Unterscheidungen selbst bezeichnet werden können. Mindestens seit den Vorlesungen von Ferdinand de Saussure ist dieses Problem in dieser Form präsent, bezogen auf die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem, bezogen also auf Semiologie (oder, wie die Amerikaner sagen, semiotics). Was für diesen Fall gilt, gilt jedoch für Unterscheidungen schlechthin. Aber was heißt: willkürlich? Für keinen Beobachter ist es ein Problem, daß er die Unterscheidung, die er gerade benutzt, willkürlich benutzt; denn sie wird ja benutzt. Nur ein Beobachter des Beobachters mag damit seine Probleme haben. Für ihn heißt ›willkürlich‹ aber nichts weiter als: daß die Unterscheidung sich nicht aus der Sache selbst ergibt, sondern nur beobachtet werden kann, wenn man den Beobachter beobachtet, der sie verwendet. Willkür heißt: nach individuellem Gutdünken handeln. Aber solches Gutdünken entsteht und verfährt ja keineswegs beliebig. Also bezeichnet auch der Begriff der Willkür nichts, was als Zufall oder als Beliebigkeit aufgefaßt werden könnte; er dirigiert nur das Beobachten in Richtung auf ein Beobachten von Beobachtern. Der Beobachter der Beobachtungen bewegt sich damit auf der Ebene, auf der man die Welt nur noch als Konstruktion sehen kann, die sich aus dem laufenden Beobachten von Beobachtungen ergibt. Es sollte klar sein, daß er, als ein empirisch operierendes System, dadurch weder zu einem solipsistischen, noch zu einem idealistischen, noch zu einem subjektivistischen Erkenntnisbegriff verpflichtet wird. Dies waren vielmehr, gerade entgegengesetzt, die letzten Versuche, noch an der Was-Frage nach dem Einheitsgrund der Erkenntnis festzuhalten und doch schon auf der Ebene des Beobachtens von Beobachtungen zu operieren. Die Befürchtung, die man häufig antrifft: daß eine relativistische Erkenntnistheorie schließlich zwischen wahr und unwahr nicht mehr unterscheiden könne und alles zulassen müsse, da sich für eine neue Meinung einfach nur ein neuer Vertreter dieser Meinung konstituieren müsse, ist ein offensichtlicher Fehlschluß. Sie ergibt sich vermutlich aus dem impliziten Individualismus der klassischen Epistemologie, nämlich aus der Vorstellung, das ›subjektive‹ Korrelat der Erkenntnis sei ein Individuum (oder eventuell: eine Mehrzahl von isoliert existierenden Individuen). Jedenfalls verschwindet der Fehlschluß, wenn man die sozialen und zeitlichen (historischen) Abhängigkeiten im Erkenntnisprozeß mit in Betracht zieht.« (Luhmann 1990, 99f.) | |
Vgl. hierzu Kaiser 2007, 26 und 240f. | |
Ebd., 27f. sowie 60–62. Dieser Gedanke wurde aufgenommen von Diergarten 2015, 62–65. | |
Z.B. die Formfunktion Hauptsatz in den Klaviersonaten F-Dur KV 332 (300k), erster Satz, Takte 1–12 und 13–22 von W.A. Mozart sowie Es-Dur Hob. XVI:28, erster Satz, Takte 1–8 und 9–16 von Joseph Haydn; die Formfunktion Überleitung z.B. in der Arie Per quel paterno amplesso KV 79 (73d), Takte 34–46 und 47–56, der Klaviersonate D-Dur KV 284, erster Satz, Takte 11–21 und 30–37 von W.A. Mozart oder der Partita B-Dur Hob. XVI:2, erster Satz, Takte 11–15 und 16–22 von Joseph Haydn; die Formfunktion Seitensatz z.B. in Ludwig van Beethoven, Klaviersonate C-Dur op. 2/3, erster Satz, Takte 26–38 und 46–61. | |
Gegen das vorgeschlagene Verständnis der Formfunktion Schlussgruppe (closing section) könnte eingewendet werden, dass ein Funktionsbegriff fehle, um die Musik nach einem emphatischen Ganzschluss der Nebentonart bzw. den ›postcadential appendix‹ zu beschreiben (›perfect authentic cadence‹/PAC oder ›essential exposition closure‹/EEC, also z.B. im Kopfsatz der Sonata facile die Takte 26–28 der Exposition). Doch dürfte es zum einen fraglich sein, ob diese Formfunktion auf der gleichen Ebene angesiedelt werden sollte wie die Formfunktionen Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe, zum anderen lässt sich diese Unterscheidung nicht sinnvoll ohne die Analysekategorie ›Mittelgrundzug‹ (nach Heinrich Schenker) treffen, eine Kategorie, deren Relevanz nicht in allen deutschsprachigen musikanalytischen Diskursen geteilt werden dürfte. | |
Das vierteilige Expositionsmodell scheitert, wenn man von der Möglichkeit fehlender Formfunktionen ausgeht (z.B. von einer fehlenden Formfunktion ›Seitensatz‹ in den Kopfsätzen der Divertimenti C-Dur Hob. XVI:7 und Hob. XVI:9). |
Literatur
Agawu, V. Kofi (1991), Playing with Signs. A Semiotic Interpretation of Classical Music, Princeton (NJ): Princeton University Press.
Amon, Reinhard (2005), Lexikon der Harmonielehre. Nachschlagewerk zur durmolltonalen Harmonik mit Analysechiffren für Funktionen, Stufen und Jazz-Akkorde, Wien: Doblinger / Stuttgart: Metzler.
Bailey Shea, Matthew (2004), »Beyond the Beethoven Model: Sentence Types and Limits«, Current Musicology 77, 533. http://dx.doi.org/10.7916/D8PV6J2N (30.6.2018)
Bent, Ian D. / Anthony Pople (2001), »Analysis«, in: Grove Music Online, Oxford University Press. http://www.oxfordmusiconline.com/grovemusic/view/10.1093/gmo/9781561592630.001.0001/omo-9781561592630-e-0000041862 (30.6.2018)
Bey, Henning (2000), »William E. Caplin: Classical Form. A Theory of Formal Functions for the Instrumental Music of Haydn, Mozart, and Beethoven […]« [Rezension], Mozart-Jahrbuch 1999, 117–119.
Braunschweig, Karl (2015), »Expanding the Sentence: Intersections of Theory, History, and Aesthetics«, Music Theory and Analysis 2/2, 156–193.
Burmeister, Joachim (1606), Musica poetica, Rostock: Myliander, Reprint Laaber: Laaber 2004.
Byros, Vasili (2015), »›Hauptruhepuncte des Geistes‹. Punctuation Schemas and the Late-Eighteenth-Century Sonata«, in: What is a Cadence? Theoretical and Analytical Perspectives on Cadences in the Classical Repertoire, hg. von Markus Neuwirth und Pieter Bergé, Leuven: Leuven University Press, 215–251.
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Hochschule für Musik und Theater München [University of Music and Theatre Munich]
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