Zur Deutung von Dokumenten kompositorischen und analytischen Denkens
Béla Bartóks Arbeit mit zyklischen Themen
László Vikárius
Von Skizzen bis zu Selbstreflexionen und Werkeinführungen werden Dokumente kompositorischen Denkens Béla Bartóks in diesem Aufsatz auf ihre Relevanz für eine mutmaßliche Autorintention hin untersucht. Werke aus den drei grundlegend unterschiedlichen Phasen von Bartóks Werk, die frühe Symphonische Dichtung Kossuth (1903), das Erste Violinkonzert (1907/08) und einige damit eng verwandte Kompositionen sowie die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta (1936), werden exemplarisch auf kompositorische Schaffensprozesse und motivisch-thematische Zusammenhänge befragt.
In this article, documents of Béla Bartók’s compositional thought are examined on the basis of sketches and self-reflections as well as the composer’s program notes for his own works. In particular, the relevance of these documents for an assumed authorial intent is discussed. Works from the three essentially different periods of Bartók’s œuvre, the early symphonic poem Kossuth (1903), the first Violin Concerto (1907/08) together with closely related compositions as well as the Music for Strings, Percussion and Celesta (1936), are considered from the perspectives of the compositional process and motivic-thematic relationships.
Die Annahme einer Autor*innenintention als musikanalytische Instanz ist verdächtig geworden. Die berühmte Kritik an der »intentional fallacy« hebt den wesentlichen Beitrag von Analyse und Interpretation für die Deutung und Sinngebung von Werken hervor.[1] Diese Ausklammerung der Autor*innenintention schien neue Wege einer werkimmanenten Analyse zu öffnen.
Kunstwerke enthalten allerdings offensichtlich eine Vielzahl von Eigenschaften, die kaum als ›unbeabsichtigt‹ seitens des/der Autor*in abgetan werden können. In der Musik können motivisch-thematische Zusammenhänge häufig als Indiz für intentionale Setzungen aufgefasst werden. In dieser Hinsicht scheinen vor allem jene motivisch-thematischen Bezüge besonders aussagekräftig zu sein, die nicht unmittelbar aus einer konventionellen Formgebung hervorgehen. Wenn solche Bezüge von Komponist*innen selbst in Werkkommentaren hervorgehoben werden, und noch mehr wenn sie sich in Skizzen und Entwürfen zu den betreffenden Kompositionen nachweisen lassen, kann dies als Beleg für eine bewusste Schaffung von Zusammenhängen dienen, die gleichzeitig weiterreichende ästhetische Relevanz haben können.
Gewiss sind nicht alle motivisch-thematischen Beziehungen, die einer Analyse zugänglich sind, den Komponist*innen bewusst gewesen. In dieser Hinsicht stellen Béla Bartóks Zweites Streichquartett (1915–1917) und die theoretische Literatur zu diesem Werk einen ganz besonders interessanten Fall dar. In seiner Analyse des Quartetts wies János Kárpáti eine markante Ähnlichkeit zwischen dem Hauptthema des ersten Satzes und dem nach einer längeren Einleitung eingeführten Hauptthema des letzten langsamen Satzes nach.[2] Wie Kárpáti selbst erwähnt, existiert jedoch angeblich ein persönliches Zeugnis Bartóks, das in einer sehr früh entstandenen Auseinandersetzung mit dem Werk überliefert ist und nach dem dieser Zusammenhang dem Komponisten nicht bewusst gewesen sein soll:
Regarding the existence of thematic resemblance, there is reported in Christine Ahrendt An Analysis of the Second Quartet of Béla Bartók (Eastman School of Music: unpublished master’s thesis, 1946), p. 10: »When the statement was made by the author that the first theme of the last movement [of the second quartet] was derived from the corresponding theme of the first movement, Bartók seemed surprised, and asked to be shown where the similarity existed. After studying the themes for a moment, he replied, ›You are right, you are right – but it was entirely unconscious‹.«[3]
Kárpáti schätzt diesen Bericht als wenig glaubwürdig ein, da Bartók sich über diesen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen den beiden Themen bewusst gewesen sein müsste. So überzeugend die Analyse sein kann, wäre in diesem Fall allerdings zu fragen, ob die motivisch-thematische Ähnlichkeit nicht zumindest teilweise lediglich auf einer allgemeinen stilistischen Einheit fußt. Dies könnte bedeuten, dass dem Komponisten hier nicht die Beziehung zwischen den Themen als solche wichtig war und ihre Ähnlichkeit vielmehr auf Bartóks damaliger intensiver Beschäftigung mit bestimmten musikalischen Gedanken beruht. Wenn nämlich weitere Kompositionen, insbesondere die Lieder op. 15 und op. 16 aus demselben Zeitraum, in Betracht gezogen werden, stellt man fest, dass eine ganze Reihe von werküberbrückenden Themenzusammenhängen aufzufinden ist.[4]
Solche Zusammenhänge können in intentionale und nicht-intentionale ausdifferenziert werden. Um ein früher sicherlich zentrales und auch heute noch wesentliches Thema der Bartók-Analyse anzusprechen: Gerade die Gestaltung von Formverläufen nach geometrischen Proportionen in gewissen Kompositionen Bartóks zählt wahrscheinlich eher zu den instinktiven, nicht-intentionalen Aspekten seines Schaffens. Der Bericht von Christine Ahrendt besagt daneben aber auch, dass der Komponist grundsätzlich gerne bereit war, sein Werk interpretierend-analysierend zu betrachten, auch wenn es um Aspekte ging, die er selbst noch nicht berücksichtigt hatte.
Einige prononcierte Aussagen Bartóks über sein Werk betonen seine Auffassung von der Unabhängigkeit des Geschaffenen vom Schöpfer. Als Denijs Dille 1937 anlässlich eines Rundfunkkonzerts in Brüssel den Komponisten nach seiner Position in der zeitgenössischen Musik befragte, antwortete Bartók (möglicherweise einer Antwort ausweichend) mit charakteristischer Bescheidenheit:
Êtes-vous conscient, Maître, d’occuper une certaine position dans la musique contemporaine ? Avez-vous des visées particulières? Bartók: Impossible d’y répondre ; je n’y ai jamais réfléchi et je ne le ferai jamais. J’ai écrit de la musique et, tant que je vivrai, j’en écrirai ; que cette musique se défende elle-même, qu’elle parle d’elle-même comme je l’ai déjà dit ; elle n’a pas besoin de mon aide pour cela.[5]
Auch Bartóks später mit besonderem Nachdruck formuliertes generelles Misstrauen gegen Theorien – eigentlich nur gegen Kompositionstheorien – scheint die Hochschätzung schöpferischer Spontaneität zu bezeugen. So erklärt er, nachdem er seine Ideen über die polymodale Chromatik, also die Idee einer für die Komposition praktisch verwendbaren Theorie der erweiterten Tonalität beschrieben hat:
[…] the working out of bi-modality and modal chromaticism happened subconsciously and instinctively, as well. I never created new theories in advance, I hated such ideas. I had, of course, a very definite feeling toward certain directions to take, but at time of the work I did not care about what designations would apply to those directions, what sources they come from. This doesn’t mean composing without prealably [sic!] set plans and without sufficient control. The plans were concerned with the spirit of the new work and with technical problems, for instance, formal structure involved by the spirit of the work; all this more or less instinctively felt; but I never was concerned with general theories to be applied to the works I was going to write.[6]
1. Kossuth
Abgesehen von der möglicherweise nicht intendierten Verwandtschaft der genannten Themen im Zweiten Streichquartett finden wir in Bartóks Kompositionen auch deutliche Beziehungen zwischen individuell gestalteten Themen. Nicht nur stand seine oben erwähnte Bereitschaft, eine von ihm vorher nicht erkannte Beziehung zu schätzen, im Einklang mit seiner Ästhetik einer organischen Schaffensweise, sondern er hob in seinen Werkeinführungen die Bedeutung von Themenbeziehungen und thematischen Transformationen immer wieder explizit hervor. Exemplarisch kann in dieser Hinsicht Bartóks mit vielen Notenbeispielen versehene Einführung zu seiner 1903 gleich nach dem Abschluss seiner Kompositionsstudien geschriebenen Symphonischen Dichtung Kossuth erachtet werden.[7] Komponiert in der Tradition von Franz Liszt und unmittelbar beeinflusst von Richard Strauss baut Bartók seine Bearbeitung eines ungarischen National-›Heldenlebens‹ auf ganz wenige musikalische Grundgedanken auf, die im Verlauf ständig transformiert und variiert werden.[8] In seinem »Programm der Symphonischen Dichtung und Erläuterungen zu derselben« (zuerst auf Ungarisch, dann, für die Aufführung durch Hans Richter in Manchester auch auf Deutsch verfasst; Abb. 1) identifiziert und bezeichnet der Komponist zehn verschiedene Themen (nummeriert als 1a, 1b und 2 bis 9).
Abbildung 1: Béla Bartók, »Programm der Symphonischen Dichtung und Erläuterungen zu derselben«, ungarische Werkeinführung,
S. 3 mit Notenbeispielen zu Nr. VIII–X der Symphonischen Dichtung Kossuth, Bartók-Archiv, Budapest, BA-N: 483
Abbildung 2: Béla Bartók, Skizzen zu Kossuth, der ganze beschriebene Teil einer Handschrift, Bartók-Archiv, Budapest, BA-N: 3344b (olim: 482)
Bei der Diskussion der 21 Notenbeispiele, die Bartók seiner Einführung zugrundelegt, betont er nicht nur das Auftreten eines jeden neuen Themas, sondern auch das Erscheinen von Varianten schon früher eingeführter Themen. So hebt er etwa bei dem mit der Überschrift »Auf zum Kampfe!« versehenen VI. Teil des Werks hervor: »Dieses Motiv ist nicht neu; es ist nichts anderes als das variierte Kossuth-Thema 1a.« Das am Anfang in a-Moll vorgestellte Kossuth-Thema 1a (Abb. 2), der während des ganzen Werks ständig variierte Hauptgedanke, erscheint in den Beispielen in mindestens sechs verschiedenen Gestalten.[9] Die beiden schon beim ersten Auftreten des Themas »entstellten Takte aus der österreichischen Hymne ›Gott erhalte‹« erfahren ebenfalls eine ständige Transformation. Die Beschreibung der Kampfszene im »Programm« ist besonders charakteristisch (Abb. 1):
Der Kampf beginnt mit voller Wucht. Neues Thema Nr. 9: Alarm zum Gefecht. Im 5. Takt taucht das Thema (6) der ungarischen Helden auf. – Angriff folgt auf Angriff, der Kampf erhält den Charakter des Ringens auf Leben und Tod, was durch wildeste Dissonanzen versinnbildlicht werden soll. Bald gewinnen die Ungarn die Oberhand (die Vergrößerung des Themas Nr. 6), bald die Österreicher, Kossuths Gestalt taucht immer wieder auf. (Das Kossuth-Thema in der gleichen Form wie im I. Teil), dann hören wir wieder Thema Nr. 5 (das ebenfalls die Österreicher charakterisiert), erst in der Originalfassung, dann umgekehrt. Die Heftigkeit des Kampfes läßt etwas nach: (siehe Thema 1b).[10]
Außer dem Kossuth-Thema und dem »entstellten« ›Gott erhalte‹-Thema erhält noch eine Reihe von weiteren wichtigen Themen und Motiven wesentliche Varianten.[11] Einige der hier zitierten Themen und Motive finden sich auch in einer von nur zwei erhaltenen frühen Handschriften, die von Emma Gruber, der späteren Frau Kodály, mit der Überschrift »Bartók Béla Kossuth skizzek« (Béla Bartók Skizzen zu Kossuth) versehen und aufbewahrt wurden. Da kein weiteres Skizzenmaterial und auch kein Particell-Entwurf zu Bartóks Symphonischer Dichtung erhalten sind, ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, die genaue Funktion des hier wiedergegebenen Skizzenblatts (Abb. 2) zu bestimmen. Es könnte vorbereitende Aufzeichnungen von Themen enthalten, es könnte sich aber auch um eine teilweise rückblickende Auflistung von Themen handeln. Gegen die letztere Vermutung spricht, dass die hier notierten Motive und Themen mit der endgültigen, in den Quellen ausschließlich erhaltenen Fassung in verschiedenen kleinen Details doch nicht vollständig übereinstimmen. So ist schon die Lage des Kossuth-Themas fraglich, da es gewöhnlich, so etwa am Anfang des Werks, eine Oktave tiefer erklingt. Die chromatische, Sextolen enthaltende Skalenpassage des Piccolo-Motivs im fünften System stimmt ebenfalls mit der endgültigen Form des Motivs (vgl. 9. Takt nach Ziffer 8 bzw. T. 92) nicht ganz überein. Auch die im siebten System im Altschlüssel notierten Anfangsmotive des Kossuth-Themas (Nr. 1a, hier c-Moll) und des der Gattin zugeordneten Themas (Nr. 2, hier d-Moll) – zweier im Werkzusammenhang sehr wichtiger und vielfältig verwendeter Motive – finden in dieser Form und in diesen Tonarten im endgültigen Werk keine Verwendung. Die letzte längere, mit Bleistift notierte Passage entspricht ebenfalls nicht der endgültigen Fassung der Stelle (vgl. 3. Takt vor Ziffer 13 bzw. T. 153). Als eine längere, von den früher mit Tinte aufgezeichneten kurzen Themenzitaten wahrscheinlich unabhängig aufgeschriebene Passage scheint sie aber eindeutig während der Komposition als separate Ausarbeitung einer Stelle entstanden zu sein. Die Aufzeichnung der Motive am Anfang des dritten Systems und im vierten System sind nicht verwendete Alternativen oder Varianten des cis-Moll-Trompetenmotivs (vgl. 3. Takt vor Ziffer 25 bzw. Takt 319), das in der zweiten Hälfte des dritten Systems schon fast in seiner endgültigen Gestalt erscheint. Die Rhythmik des Anfangs, einige weitere rhythmische Werte sowie die vorletzte Note im zweiten Takt dieses Trompetenthemas weichen jedoch noch deutlich von der endgültigen Fassung ab.
Dieses Skizzenblatt, auch wenn seine Funktion und Bedeutung für die Entstehung des Werks demnach nur indirekt zu ergründen ist, kann hier als ein Gegenstück zur Handschrift der Werkeinführung dienen. Bartóks »Programm« repräsentiert eine rückblickende Deutung des Werks (auch wenn der Komponist hier seine während der Genese entwickelten Ideen darstellt), die Skizzen zeugen von dem Suchen nach der Herstellung von Beziehungen vor oder wahrscheinlicher während der Arbeit am Material. Auf der Faksimileseite aus dem »Programm« (Abb. 1) können wir mehrere Themen oder Motive aus dem Skizzenblatt (Abb. 2) in ihrer endgültigen Form wiederfinden: das Trompetenmotiv (Abb. 1, Bsp. VIIIa) als kontrapunktisches Gegenthema zum ›vergrößerten‹, also augmentiert erklingenden ›Gott erhalte‹-Thema; die Originalgestalt und Umkehrung des Piccolo-Themas (Abb. 1, Bsp. VIIIc) und die Umkehrung des Kossuth-Themas (Abb. 1, Bsp. VIIIf).
2. Violinkonzert
Thementransformation bleibt wichtig, ja sogar konstitutiv für die grundsätzliche Entwicklung von Bartóks neuem, nun schon viel persönlicherem und individuellerem Kompositionsstil um 1907–1908. Die frühere Tendenz zur ständigen Variierung von Ideen wird zentral für die Gestaltung seiner Kompositionen in diesem Zeitraum. Am 20. September 1907 schrieb er einen an die Geigerin Stefi Geyer gerichteten Brief, in dem er statt einer verbalen Anrede drei mit ›und‹ zueinander gefügte musikalische Zitate notiert (Abb. 3, Bsp. 1a–c).[12]
Abbildung 3: Béla Bartók, Brief vom 20. September 1907 an Stefi Geyer, erste Seite, Paul Sacher Stiftung; Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung
Beispiel 1: Drei ›Anreden‹ an Stefi Geyer in Bartóks Brief vom 20. September 1907 (Zitate aus dem frühen Violinkonzert noch während der Arbeit am Werk);
(a) Anfang des ersten Satzes; (b) Anfang des zweiten Satzes; (c) Seitenthema des zweiten Satzes
Der Brief selbst beginnt mit der – auch für den Analytiker bedeutungsvollen – Bemerkung: »Ihre Leitmotive umschwirren mich, den ganzen Tag lebe ich mit ihnen, in ihnen, wie in einem narkotischen Traum.« Es lohnt sich die drei als unmittelbare Anrede zitierten Motive näher zu betrachten. Alle drei sind verschiedene Manifestationen der Grundidee, des aus der Literatur wohlbekannten Stefi-Geyer-Motivs, ein melodisch steigender großer Septakkord, d-fis-a-cis (vgl. Bsp. 2a–c).[13]
Beispiel 2a–c: Deutung der Septakkord-Struktur der drei ›Anreden‹ in Bartóks Brief vom 20. September 1907
Das mit der Tempobezeichnung Andante, quasi Adagio zitierte Thema im pianissimo ist der Anfang des frühen Violinkonzerts und entspricht gleichzeitig dem, was Bartók in dieser Korrespondenz mehrmals als Stefi Geyers »Leitmotiv« bezeichnet bzw. mit Verweis auf sie in den Text immer wieder einfügt. Das Motiv erscheint als großer cis-Moll-Septakkord, hervorgehoben durch eine Klammer und mit der hinzugefügten Bemerkung »Dies ist Ihr ›Leitmotiv‹«, in einem achttaktigen als Adagio molto bezeichneten und später in dieser Form nicht verwendeten Kompositionsentwurf, der in gewisser Hinsicht, besonders wegen des Tempos und Charakters sowie wegen des Auftretens des in Bartóks langsameren Sätzen immer pathetische, heldenhafte Assoziationen weckenden Begleitrhythmus mit der 13. Bagatelle in Beziehung gebracht wird.[14] (Das sowohl ernst- als auch heldenhafte Kossuth-Thema wird am Anfang der Symphonischen Dichtung auch durch diesen Rhythmus begleitet.)
Beispiel 3: Anfangstakte eines unverwirklichten Kompositionsgedankens aus Bartóks Brief vom 11. September 1907 an Stefi Geyer mit der Erklärung:
»Dies ist Ihr ›Leitmotiv‹«
Die zweite ›Anrede‹, die auch mehrmals in Bartóks Briefen direkt den Namen von Stefi Geyer ersetzt, ist der Anfang des zweiten Satzes Allegro giocoso. Das Motiv ist eine kühn entstellte Fassung des Septakkord-Motivs: Nicht nur erscheinen an Stelle fast jeden Tons chromatisch ›verstimmte‹ Nebentöne (dis statt d, ais statt a, c statt cis), sondern auch die steigende Richtung wird durch eine fallende Zick-Zack-Bewegung ersetzt. Später entwickelte Bartók eine weitere, nicht mehr spielerische, sondern traurige Variante für den zweistimmigen imitatorischen Einsatz im ersten Satz des Ersten Streichquartetts (1908/09) (also gespalten, scheinbar eigentlich nicht mehr als eine einzige melodische Einheit). In diesem letzteren Fall gibt es auch einen privaten analytischen Hinweis seitens des Komponisten. In einer Stefi Geyer zugesandten Abschrift des Quartettbeginns notierte er unter dem Anfangstakt die vier Töne als eine Einheit: f-as-c-e, die Mollvariante, aber gleichzeitig eine Gestaltvariante des Hauptmotivs des zweiten Konzertsatzes. Dieser Zusammenhang ist in der Forschung schon lange erkannt worden, aber Bartóks eigener analytischer Hinweis kam erst kürzlich zum Vorschein (Bsp. 4a–b).[15]
Beispiel 4: Béla Bartók, Erstes Streichquartett; (a) Anfang des ersten Satzes, Übertragung nach einer Abschrift des Komponisten mit seinem eigenen Hinweis auf den grundlegenden Mollseptakkord im dritten System; (b) Deutung des Septakkords und der Ähnlichkeit mit dem Hauptmotiv im zweiten Satz des frühen Violinkonzerts
Die dritte (Allegretto) ›Anrede‹ zitiert das Seitenthema des zweiten Satzes des Violinkonzerts (Meno allegro e rubato, sechs Takte vor Ziffer 13). In der endgültigen Fassung, in der die vierte Note enharmonisch als fis (statt ges) geschrieben wird, wird die Septim-Struktur verhüllt, aber in der Originalschreibweise erkennen wir ganz leicht eine absteigende Variante des Hauptmotivs, die sich in ihrer zarten Triolenbewegung, später Sostenuto molto (sechs Takte vor Ziffer 16), dann Molto sostenuto (Ziffer 28) und schlussendlich Lento wiederkehrend, dem Duktus des Kopfsatzes schrittweise annähert. Eigentliches Ziel des letzten Erscheinens dieses Seitenthemas im zweiten Allegro giocoso-Satz ist nichts anderes als die eine Großseptim-Dissonanz enthaltende Originalgestalt des Stefi-Geyer-Motivs, transponiert auf C-Dur, die am Ende des letzten Eintritts der Solistin schließlich und mit endgültiger Verklärung aufgelöst wird (Bsp. 5).
Beispiel 5: Béla Bartók, frühes Violinkonzert, zweiter Satz, T. 1–3 nach Probeziffer 34
Das Stefi-Geyer-Motiv wurde von der Analyse noch in einer ganzen Reihe von Sätzen und Stücken als wesentliches Element aufgezeigt. Bisher unerwähnt (und vielleicht auch unentdeckt) geblieben ist jedoch eine ganz besondere Verwendung des Motivs – in der für die frühe Bartók-Rezeption so bedeutungsvollen ersten Bagatelle (1908), die allgemein als frühes Beispiel ›bi-tonaler‹ Kompositionsweise erkannt und bewertet wurde[16], aber nach einer späten Erklärung des Komponisten als durchaus tonal aufzufassen wäre:
The first [Bagatelle] bears a key signature of four sharps (as used for C sharp minor) in the upper staff, of four flats (as used in F minor) in the lower staff. This half serious, half jesting procedure was [used or intended] to demonstrate the absurdity of key signatures in certain kinds of contemporary music. After leading [rather carrying] the key signature principle ad absurdum in the first piece, I dropped its use in all the other Bagatelles and in most of my following works as well. The tonality of the first Bagatelle is, of course, not a mixture of C sharp minor and F minor but simply a Phrygian colored C major. In spite of this it was quoted several times as an ›early example of bi-tonality‹ in the 1920’s when it was fashionable [to] talk about bi- and poly-tonality.[17]
Wenn man den Grundton der wichtigsten Kadenzen betrachtet, kann das Stück wohl als in C-Dur stehend interpretiert werden. Tonale Grundlage des Stücks war aber höchstwahrscheinlich weniger eine Grundtonart als ein besonderes Motiv, die Mollvariante der Stefi-Geyer-Septime: cis-e-gis-c (= his), aber in Umkehrung als Sekundakkord mit Schlusston diesmal auf der Septime (Bsp. 6a und b).
Beispiel 6: Béla Bartók, Bagatelle Nr. 1; (a) Anfang, T. 1–5; (b) Deutung der grundlegenden Akkordstruktur (cis-Moll-Septime, Sekundumkehrung und enharmonische Umdeutung)
Beispiel 7: Béla Bartók, Bagatelle Nr. 13; (a) Übertragung der ersten zwei Takte in der Skizze im ›Schwarzen Skizzenbuch‹, Fol. 8v; (b) Anfang, T. 1–3;
(c) Akkordstruktur nach der Skizze und nach der endgültigen Fassung
Der zentrale Akkord der ersten Bagatelle basiert also auf demselben cis-Moll-Septakkord, der im Brief als »Dies ist Ihr ›Leitmotiv‹« hervorgehoben und dessen Dur-Variante nun in der Bagatelle Nr. 13 als Konklusion, übrigens enharmonisch als des-f-as-c notiert, verwendet wird, in der als »Elle est morte« betitelten Bagatelle also, die das Motiv am Anfang in der Originaltonart, aber in absteigender Umkehrung als Sekundakkord (enharmonisch umgedeutet) verwendet: a-ges-d-des, im Gegensatz zur Skizze desselben Stücks (im sogenannten ›Schwarzen Skizzenbuch‹), wo der Akkord noch eindeutig als a-fis-d-cis notiert steht (Bsp. 7a–c).[18] Durch die enharmonische Umbenennung der modifizierten Töne verschleiert Bartók wesentlich die Beziehung zum »Leitmotiv«, und gleichzeitig verhüllt er die erste – originale – bi-modale kompositorische Idee. Aber es müsste doch gefragt werden, ob diese Modifikation nicht auch mit einer konzeptionellen Änderung in Zusammenhang steht. Die natürliche Zusammenknüpfung des Finaltons der rechten Hand kann jetzt als integraler Teil, und zwar als kleine Septime des Begleitakkords (es-ges-b-des) aufgefasst und im musikalischen Gesamtzusammenhang neu interpretiert werden.
3. Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta
Das komplexe Netzwerk dieser den Komponisten umschwirrenden Themen-Varianten war sicherlich eine bisher nie erahnte und wahrscheinlich nie mehr übertroffene Steigerung der Herstellung von motivischen Beziehungen. Solche Beziehungen waren jedoch, gerade wegen ihrer wachsenden Rolle in der Etablierung des Personalstils und in ihrer Weiterentwicklung, auch weiterhin von großem Belang. Auch wenn die Verwendung motivischer Vernetzungen nicht immer so obsessiv durchgeführt wird, erscheinen motivische und thematische Beziehungen auch in allen weiteren stilistischen Entwicklungsstadien Bartóks. Einige grundsätzliche formale Charakteristika seiner Werke können in Bezug auf die Idee der organischen Einheit erklärt werden. Die Wahl der Gattung Einakter für alle drei Bühnenwerke kann teilweise auch aus dieser Sicht besser verstanden werden. Sogar das Problem der Mehrsätzigkeit wurde von Bartók immer wieder mit Hilfe satzüberbrückender Motive und Themen gelöst. So verwendete er mehrmals die Idee des Ritornells, auch in der größtenteils als Attacca-Form komponierten Tanz-Suite (1923) und später im 1939 entstandenen Sechsten Streichquartett, wo sich das Ritornell, um endlich das Werk abzuschließen, zu einem selbstständigen langsamen Satz entwickelt. Im späten Concerto for Orchestra (1943), mit einzelnen Sätzen (I, III und IV) vorangestelltem verwandten Unisono-Material, griff Bartók wieder auf das Prinzip des Ritornells zurück. Aber die originellste Erfindung seiner Formgestaltung war die formale Symmetrie, die sich am klarsten vom Vierten Streichquartett (1928) an abzeichnet. Die kompositorische Ausarbeitung solcher Formkonzeptionen kann manchmal auch in den Skizzen erkannt werden. Die teilweise spätere Einführung des Ritornells in das Sechste Streichquartett bietet sich als ein gutes Beispiel an.[19] Auch der nach Ende der schon abgeschlossenen viersätzigen Erstfassung des Vierten Streichquartetts eingefügte, als Variante bzw. Nachgedanke zum zweiten Satz ausgearbeitete vierte Satz zeigt eindeutig die sehr bewusst formschaffende Rolle des Komponisten. Die symmetrische Satzfolge von Werken wie dem Zweiten Klavierkonzert (1930–1931) oder dem Fünften Streichquartett (1934) wurde dann unmittelbar nach der Vorlage des im Vierten Streichquartett vorgelegten Formmodells, aber in immer neuen Kombinationen, hergestellt.
Eine zyklische Formbildung, die sich sowohl von der symmetrischen Gestaltung als auch von der Verwendung eines Ritornells unterscheidet, aber vielleicht auch beides kombiniert, ist in einem der Hauptwerke, in der für Paul Sacher 1936 komponierten Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, systematisch entwickelt. Für dieses Werk haben wir reiches Quellenmaterial und eine für die Öffentlichkeit verfasste Einführung vom Komponisten selbst. Auch wenn sich diese höchst technisch und sachlich verfassten analytischen Bemerkungen sehr weit von der schwärmerischen Sprache des »Programms« zur Symphonischen Dichtung Kossuth entfernt haben, enthält auch dieser schlichte Text viel Wesentliches zum Verständnis der Autorintention. Diesmal besitzt aber auch das wahrscheinlich vollständig erhaltene Quellenmaterial für die Intention Aussagekraft.
In seiner knappen Werkeinführung »Aufbau der ›Musik für Saiteninstrumente‹« beschreibt der Komponist höchst detailliert die ungewöhnliche Fugenstruktur des langsamen Kopfsatzes, der ja »nach gewissen Prinzipien ziemlich streng« organisiert ist. In der sehr kurzen Beschreibung des zweiten Satzes hebt Bartók seine Variationstechnik und die rhythmisch geänderte Wiederkehr der Exposition hervor. In den Ausführungen zum dritten Satz verwendet er bekanntlich zum einzigen Mal den als technischen Terminus wirkenden Ausdruck »Brückenform« für einen symmetrischen Formverlauf. Für den letzten Satz teilt er nur ein Formschema mit. Darüber hinaus hebt er allein das in veränderter Form immer wieder auftauchende Hauptthema des ersten Satzes hervor:
In der Durchführung [des zweiten Satzes] erscheint auch das Thema des I. Satzes in veränderter Gestalt, ferner eine Anspielung auf das Hauptthema des IV. Satzes. […] Zwischen den einzelnen Abschnitten [des dritten Satzes] erscheint je ein Abschnitt des Themas des I. Satzes. […] [Der] G-Teil [im vierten Satz] (Takt 203–234) bringt das Hauptthema des I. Satzes, aber in einer aus der ursprünglichen chromatischen ins Diatonische ausgedehnten Form.[20]
Es ist auffallend, dass die Vorwegnahme des Hauptthemas des letzten Satzes in dem in Sonatenform komponierten eigentlichen Hauptsatz erwähnt wird – offenbar weil diese die zyklischen Beziehungen weiter verstärken soll. Die Tonalität (a-c-fis-a) der einzelnen Sätze wird auch kurz bestimmt.
Die höchst chromatische Schreibweise im ersten Satz, ein Charakteristikum, das auf den Hörer sicherlich den größten und unmittelbarsten Eindruck macht, wird zuerst überhaupt nicht erwähnt. Erst wenn die Wiederkehr des Anfangsthemas im Finale angesprochen wird, wird die ›ursprüngliche chromatische‹ Form dieses Themas überhaupt zur Sprache gebracht. Die Arbeit mit »chromatischen Melodien« hielt Bartók für eine seiner ›Erfindungen‹. Darüber berichtete er in der dritten seiner Harvard-Lectures (1943):
My first ›chromatic‹ melody I invented in 1923 and used it as the first theme of my Dance-Suite. […] This was only an incidental digression on my part, and had no special consequences. My second attempt was made in 1926; [on] that occasion I did not try to imitate anything known from folk music. I cannot remember having met this kind of melodic chromaticism deliberately developed to such a degree in any other contemporary music. […] the single tones of these melodies are independent tones having no interrelation between each other. There is, however, in each specimen of them a decidedly fixed fundamental tone, to which the others resolve in the end.[21]
Die Einführung solcher chromatisch verfasster Themen war aber nicht nur an sich wichtig. Sie ermöglichte, ein neues Mittel zur Themenvariation oder Thementransformation zu entwickeln. Dieses neue Mittel beschrieb er dann in der Fortsetzung seiner Vorlesung:
You know very well the extension of themes in their value called augmentation, and the compression in value of them called diminution. These devices are very well known, especially from the seventeenth- and eighteenth-century art-music. Now, this new device could be called ›extension in range‹ of a theme. For the extension we have the liberty to choose whatever diatonic scale or mode. We will choose of them that one which will best suit our actual purposes. As you will see, such an extension will considerably change the character of the melody, sometimes to such a degree that its relation to the original non-extended form will be scarcely recognizable. We will have mostly the impression that we are dealing with an entirely new melody. And this is very good indeed, because we will get variety on the one hand, but the unity will remain undestroyed because of the hidden relation between the two forms. If you perhaps will object that this new device is somehow artificial, my only answer will be that it is absolutely no more artificial than those old devices of augmentation, diminution, inversion and cancrizans of themes. The last one [i.e., cancrizans] seems to be even much more artificial.[22]
Wie der Herausgeber des zitierten Texts in einer Fußnote erwähnt, listete Bartók eine Reihe seiner relevanten Kompositionen auf, um den Zuhörern das neue Mittel zu demonstrieren. Neben Stücken aus Mikrokosmos werden das Vierte Streichquartett und eben die Musik für Saiteninstrumente genannt. Der Zusammenhang, den Bartók hier hervorheben wollte, ist offenbar derselbe, den er auch in seiner Werkeinführung so betont, nämlich der zwischen dem Hauptthema im ersten Satz und dessen ›diatonisch gedehnter‹ Fassung im Finalsatz.[23] Über das Konzept der Herstellung dieses thematischen Zusammenhangs gibt die kompositorische Handschrift des Werks ganz unmittelbar Auskunft.
Auf der ersten Seite des Autographs von Bartóks Musik für Saiteninstrumente (Abb. 4)[24], wo die Takte 1 bis 16 des ersten Satzes notiert sind, erscheint im untersten System eine selbstständige Aufzeichnung, die nicht zum unmittelbaren kompositorischen Kontext gehört und die sicherlich erst später, als der Komponist diese Entwurfshandschrift unter Zeitdruck als Vorlage für die Drucklegung vorbereitete und umarbeitete, leicht gestrichen wurde, um ihre Ungültigkeit zu zeigen.[25] Sie enthält die ›gedehnte‹ (oder ›gespreizte‹) Fassung oder Umwandlung des offensichtlich vom B-A-C-H-Motiv inspirierten chromatischen Fugenthemas, wie es dann im vierten und letzten Satz des Werks in einem höchst emphatischen Moment auch erscheinen soll. Die ›Spreizung‹ oder ›Dehnung‹ heißt also, dass das früher chromatisch eine Quinte umfassende Thema auf eine Oktave gespreizt wiederkehrt. Zu dieser vom Komponisten als ›diatonisch‹ bezeichneten Spreizung verwendete Bartók die von ihm besonders geliebte, aus der Folkloreforschung genommene oder mindestens dadurch kompositorisch legitimierte sogenannte akustische Tonleiter. Zwischen dieser skizzierten Fassung und der endgültigen Gestalt gibt es jedoch einige wesentliche Unterschiede: Die Themenskizze steht in A und die akustische Tonleiter erstreckt sich demgemäß auf die Skala a1-h1-cis2-dis2-e2-fis2-g2-a2. Die Gliederung des Themas in vier Melodieteile – eigentlich in vier Takte –, immer mit einem (ein oder zwei Achtel umfassenden) Auftakt, folgt ganz genau der Gliederung des Fugenthemas. Im Gegensatz dazu erscheint die gespreizte Variante im vierten Satz mit derselben Tonleiter gebildet, jedoch auf c (c1-d1-e1-fis1-g1-a1-b1-c2). Dabei ist die Gliederung der vier Melodiezeilen etwas verschwommener, da keine Achtelpause Zeile 3 von der zweiten Zeile und Zeile 4 von der dritten Zeile abgrenzt. Diese letzten beiden Zeilen werden dann aber je in zwei Abschnitte zerlegt (jeweils geteilt in Auftakt und melodischen Hauptteil), wobei auch die Auftakte etwas anders gestaltet werden (mit je einer von der vorhergehenden Melodie abgewonnenen Zusatznote). Die Identität der erklingenden Melodie mit dem chromatischen Muster ist immer noch verblüffend, die Unterschiede weisen jedoch darauf hin, dass die Aufzeichnung des Themas im untersten System der ersten Seite höchstwahrscheinlich nicht mit der Komposition des Höhepunktes im letzten Satz in unmittelbarem Zusammenhang steht, sondern eher noch ohne genauere Kenntnis der Dramaturgie des Finales entstanden sein könnte. Die nähere Abhängigkeit der Tonalität und Gestaltung der selbstständigen Aufzeichnung des Fugenthemas bringt sogar die Idee ins Spiel, Bartók habe vielleicht die Themenvariante als Hauptthema eines Finalsatzes in Erwägung gezogen. Das Erscheinen der als Ziel erachteten Themenmetamorphose zeugt nicht nur von Bartóks bewusster Verwendung der zyklischen Idee, sondern macht auch klar, dass im frühen Werkkonzept die spätere Zielgerichtetheit des Werks vielleicht noch nicht mit der endgültigen Emphase artikuliert war.
Abbildung 4: Béla Bartók, Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, Autograph, erste Seite, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Béla Bartók, Depositum Peter Bartók, Signatur 74FSS1; Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung
Beispiel 8: Bartók, Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta; (a) Fugenthema aus dem ersten Satz; (b) Übertragung der Skizze des umgewandelten Themas im Manuskript, S. 1, unterste Zeile; (c) die endgültige Gestalt des umgewandelten Themas im vierten Satz, T. 210–215
4. Fazit
Thementransformation und die zyklische Idee waren schon sehr früh (dies lässt sich auch an anderen Werken vor und gleich nach der Symphonischen Dichtung Kossuth analysieren) für Bartóks musikalisches Denken und kompositorische Strategien entscheidend. Er griff diese Techniken, wie eben die Musik für Saiteninstrumente und seine Erörterungen in den Harvard-Lectures zeigen, bis zu seinem Spätstil immer wieder auf, um sie weiter zu entwickeln oder auf modifizierte Weise zu erproben. Für die aktuelle Forschung kann entscheidend sein, der Frage nachzugehen, wie weit die vom Komponisten also entweder nach der Komposition oder oft schon während der kompositorischen Arbeit, sogar beim Skizzieren nachweislich intendierten thematischen Zusammenhänge eher (nur) als nötige ›materielle‹ Ingredienzien aufzufassen oder aber auch und sogar hauptsächlich als sinngebende und bedeutungsstiftende Komponenten zu betrachten sind. In den drei hier skizzierten, inhaltlich deutlich unterschiedlichen Werken und Werktypen, der frühen Symphonischen Dichtung, dem Ersten Violinkonzert und dessen kompositorischem Umfeld und schließlich der späten Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta ist die Bedeutung der dichten thematischen Verknüpfungen und kontinuierlichen Thementransformationen gleichermaßen wesentlich. Offenbar bedient sich der Komponist der Idee der Themenverwandlung in keinem der erwähnten Werke nur aus kompositorischen, handwerklichen Gründen. Nicht einmal das Ideal des Organischen, eine Leitidee, die ja für Bartók lebenslang zentral blieb, ist hinreichend, um solche Strategien zu erklären. Der Hauptgrund ist in den verschiedenen Werken zwar auf jeweils andere Weise formuliert, aber stets gleichermaßen entscheidend für die Poetik der schöpferischen Aussage.
Anmerkungen
Vgl. Wimsatt/Beardsley 1946. | |
Vgl. Kárpáti 1994, 140. | |
Vinton 1964, 233, Anm. 9. | |
Vgl. die neueren Analysen zu den zwei Liederzyklen bei (Laki 2007, 95–115) und Braun (2017, 145–167). Zur stilistischen Einheit des Zweiten Streichquartetts und der beiden Liederzyklen aufgrund motivisch-thematischer Ähnlichkeiten vgl. Vikárius 2017, 217–222. | |
Dille 1990, 29 (»Sind Sie, Maestro, sich dessen bewusst, eine bestimmte Position in der zeitgenössischen Musik einzunehmen? Haben Sie besondere Ziele? – Bartók: Es ist unmöglich dies zu beantworten; ich habe nie darüber nachgedacht und werde auch nie darüber nachdenken. Ich habe Musik komponiert und ich werde komponieren solange ich lebe; dass diese Musik sich verteidigen kann, dass sie für sich selbst spricht, habe ich schon gesagt; sie braucht meine Hilfe dazu nicht.« Übersetzung d. Verf.). | |
Bartók 1943. Zitiert sind die Harvard Lectures hier nach der Handschrift, die kleinere aber nicht unwesentliche Abweichungen von dem posthum edierten Text aufzeigt: Das Wort ›prealably‹ ist eine Entlehnung aus dem Französischen préalable (›im Voraus‹). Die Unterschiede sind teilweise klein, aber z.B. Bartóks Formulierung »at time of the work« bezieht sich wahrscheinlich eher auf die Zeit der Arbeit und nicht die des Werks (»at the time of the work«), wie in der Edition. Vgl. Bartók 1976, 354–398, hier 376. | |
Ediert in Dille 1964. | |
Ganz besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Bartóks ebenfalls mit zahlreichen Notenbeispielen versehene Werkeinführung zu Richard Strauss’ Sinfonia domestica (Bartók 1976, 437–445). Für eine deutsche Übersetzung vgl. Vikárius 2008, Anhang. | |
Bei dem Beispiel IV ist es möglich, dass Bartók mit der Erwähnung »Kossuth versinkt in eine wehmutsvolle Betrachtung der glücklicheren, ruhmvolleren Vergangenheit« nicht nur die Erzählung weiterführen wollte, sondern auch auf die Beziehung zwischen dem steigenden punktierten Anfangsmotiv (a-c-e) und dem ähnlich, wenn auch augmentiert punktierten und absteigenden Anfangsmotiv mit vergleichbarem Dreiklanggerüst (a-f-des) hinweisen wollte, ohne die auf das Anfangsmotiv sich begrenzende Beziehung zu sehr zu betonen. | |
Dille 1964, 85. | |
Die Veränderung von drei Themen, dem Kossuth-Thema, dem Helden-Thema und dem ›Gott erhalte‹-Thema, habe ich in einem anderen Zusammenhang versucht anhand von tabellarischen Notenbeispielen zu beleuchten (vgl. Vikárius 2004, Notenbeispiele 1–3). | |
Vgl. Bartók 1979, 44. | |
Grundlegend zu den auf die Beziehung von Bartók und Stefi Geyer bezogenen Werken: Dille 1965, 91–102; Ujfalussy 1982; Bónis 1985; Wilheim 1996. | |
Der Brief und die musikalische Aufzeichnung sind schon in den von János Demény veröffentlichten Bartók-Briefen erschienen (vgl. u.a. Bartók 1960, 71–75). | |
Meines Wissens ist die Bedeutung der Abschrift in dieser Beziehung erst in meinem Aufsatz »Von einem unbeschreiblichen Geist. Bartók: Sechs Streichquartette« erwähnt worden (vgl. Vikárius 2007, 26). Eine Fotokopie dieser Quelle erhielt das Budapester Bartók-Archiv dank Malcolm Gillies, der sie noch mit der freundlichen Genehmigung von Stefi Geyers Tochter kopieren konnte. Die erste Seite wurde als »›mein Todeslied…‹ 608 – Eigenh. Musikmanuskript« in J.A. Stargardt Auktionskataloge wiedergegeben; vgl. Katalog 672 (Auktionsdatum 16./17. November 1999), 246. Für die prompte und hilfreiche Auskunft über das Datum der Versteigerung bedanke ich mich bei Frau Karin Matten. | |
Vgl. dazu Vikárius 2005. | |
Bartók, »Introduction to Béla Bartók Masterpieces for Piano« (1944/45), zitiert nach Bartók 2010, III. Eine edierte Fassung des Texts erschien in Bartók 1976, 432f., woraus einige textliche Korrekturen auch hier in eckigen Klammern übernommen worden sind. | |
Vgl. dazu Vikárius 2005, 418f. Für eine Faksimile-Ausgabe des ›Schwarzen Skizzenbuchs‹ vgl. Bartók 1987, fol. 8v–9r. | |
Zur Entwicklung des Ritornells vgl. Vinton 1964, Suchoff 1968 und Somfai 1996, 105–109. | |
Tallián 1989, 223 (Ergänzungen d. Verf.). In einer anderen unabhängigen, aber im Wesentlichen übereinstimmenden Textfassung heißt der letzte Satzteil: »Der G-Teil bringt das Fugenthema des I. Satzes, aus dem ursprünglichen Chromatischen in’s Diatonische auseinandergezogen.« | |
Zitiert nach dem Manuskript, Bartók 1943, vgl. Bartók 1976, 379–381. | |
Bartók 1976, 381. | |
Das vom Herausgeber ausgesuchte Beispiel (hier Beispiel 17) aus der Musik für Saiteninstrumente stellt fälschlich das chromatische Hauptthema und das immer noch ziemlich chromatische (Bartóks ›polymodale‹ Chromatik verwendende) Hauptthema des zweiten Satzes anstatt der vom Komponisten erwähnten ›diatonischen‹ Variante im Finale gegenüber. Aber auch der Zusammenhang zwischen den von Suchoff zitierten Themen ist nicht zu leugnen. | |
Zur Kompositionsgeschichte und zu einer sehr detaillierten und aufschlussreichen Beschreibung der Handschrift vgl. die Einleitung von Felix Meyer in seiner Faksimileausgabe (Meyer 2000). | |
Das Vorhandensein dieser thematischen Skizze ist zwar mehrmals erwähnt, aber ihre genaue Bedeutung für die Genese ist meines Wissens noch nicht untersucht worden (vgl. Fladt 2016, VIII). |
Literatur
Bartók, Béla (1943), Harvard Lectures, Ms., Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Béla Bartók (Fotokopie im Budapester Bartók-Archiv).
––– (1960), Ausgewählte Briefe, hg. von János Demény, Budapest: Corvina.
––– (1976), Essays, hg. von Benjamin Suchoff, London: Faber & Faber.
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––– (1987), Black Pocket-Book: Sketches 1907–1922, Faksimileausgabe der Handschrift mit einem Nachwort von László Somfai, Budapest: Editio Musica.
––– (2010), Béla Bartók’s Early Piano Works, Homosassa (FL): Bartók Records.
Bónis, Ferenc (1985), »Erstes Violinkonzert – Erstes Streichquartett. Ein Wendepunkt in Béla Bartóks kompositorischer Laufbahn«, Musica 39/3, 265–273.
Braun, Michael (2017), Béla Bartóks Vokalmusik: Stil, Kontext und Interrelation der originalen Vokalkompositionen, Regensburg: ConBrio.
Dille, Denijs (1964), »Bemerkungen zum Programm der symphonischen Dichtung ›Kossuth‹ und zur Aufführung dieser Komposition«, Documenta Bartókiana 1, 75–103.
––– (1965), »Angaben zum Violinkonzert 1907, den Deux portraits, dem Quartett op. 7 und den zwei Rumänischen Tänzen«, Documenta Bartókiana 2, 91–102.
––– (1990), Béla Bartók. Regards sur le passé, hg. von Yves Lenoir, Louvain-la-Neuve: Institut Supérieur d’Archéologie et d’Histoire de l’art / Collège Érasme.
Fladt, Hartmut (2016), »Vorwort«, in: Bartók, Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta BB 114, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel.
Kárpáti, János (1994), Bartók’s Chamber Music, Stuyvesant (NY): Pendragon Press.
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Suchoff, Benjamin (1968), »Structure and Concept in Bartók’s Sixth Quartet«, Tempo 83, 2–11.
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Vinton, John (1964), »New Light on Bartók’s Sixth Quartet«, The Music Review 25/3, 224–238.
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