Verena Weidner, Musikpädagogik und Musiktheorie. Systemtheoretische Beobachtungen einer problematischen Beziehung (= Perspektiven musikpädagogischer Forschung, Bd. 3), Münster: Waxmann 2015
Hartmut Fladt
Schon durch ihren akademischen Werdegang erfüllt die Autorin dieser Hamburger Dissertation im Fach Musikpädagogik substanzielle Voraussetzungen dafür, die im Titel konstatierte ›problematische Beziehung‹ sowohl in einer gleichsam therapeutisch distanzierten Außenperspektive zu begutachten als auch die Innenperspektive einer unmittelbar involvierten Absolventin der betroffenen Studiengänge einnehmen zu können.
Das Fach Musiktheorie hat im deutschsprachigen Raum, mit curricular sehr unterschiedlichen und auch quantitativ und qualitativ nicht festgelegten Relationen, Anteil an historischer und systematischer Wissenschaftlichkeit – zunehmend wichtig dabei auch Wissensvermittlung –, analytischer und handwerklich-›tonsetzerischer‹ Kompetenzvermittlung (die das verstehende Hören immer in sich einschließen muss), schließlich an kompositorischer und improvisatorischer Kreativität und an musikpädagogischer ›handlungsorientierter Reflexion‹. Diese Reihenfolge darf aber nicht als Ranking verstanden werden; die Bestimmungs-Vielfalt mit ihren verschieden möglichen Verflechtungen könnte, im besten Falle, immer wieder als Chance begriffen werden: ›Theorie‹ eröffnet so ein Potenzial, das sich in den einzelnen ›Sparten‹ allein nie ergeben würde.
Die Fokussierung auf die Disziplinen Musikpädagogik und Musiktheorie – primär in ihrer Repräsentanz in der Lehre an Hochschulen und Universitäten – und die Suche nach »Fächerbeziehung[en]« (nicht etwa »Schnittmengen«; vgl. 13, Anm. 5) wird zur ebenso beeindruckenden wie verwirrenden Bestandsaufnahme von Interdisziplinärem in ›Fächern‹, die schon in sich nicht einheitlich definiert sind und zum Auf-Fächern einladen – was ich als durchaus produktiv ansehe, denn beide Disziplinen befinden sich in umwegigen permanenten Selbstfindungs-Prozessen und begegnen sich dabei immer wieder, gewollt und ungewollt. Ein zentraler Punkt der Dissertation ist die Definition des Status ihrer jeweiligen und ihrer gemeinsamen Wissenschaftlichkeit, oder besser: die Verortung ihrer jeweiligen Ausprägung von Wissenschaftlichkeit im Ensemble ihrer Fach-Konstituenzien und des Fächer-Übergreifenden. Die Wege der ›neuen Musiktheorie‹, von der GMTH geprägt, sind hier in ihren Voraussetzungen und Erscheinungsweisen aufgearbeitet, ebenso wie die – solche Prozesse immer wieder begleitenden – musiktheoretisch-musikpädagogischen ›Diskurse‹, bei denen gerade die inhaltlich wie formal offeneren als durchaus wichtig eingeschätzt werden. Die in der Regel politisch bzw. kulturpolitisch begründeten diversen Paradigmenwechsel führten in der föderalistischen Bundesrepublik zu auch institutionell bis heute nicht einheitlichen Ordnungen – die durchaus gewichtigen Auswirkungen der systemgenerierten Auseinandersetzungen zwischen Konzeptionen in der ›alten‹ BRD und der DDR bleiben allerdings in Verena Weidners Arbeit weitestgehend ausgeklammert.
Kann jetzt – zweiter Hauptpunkt der Arbeit – Luhmanns Systemtheorie mehr Strukturierung in diese produktive Vielfalt bringen? Auf 32 Seiten wird die Konzeption einer »Systemtheorie als Beobachter« entfaltet, mit ihrer Dialektik von Beobachtung und Beobachter, primär in gesellschaftlichen Prozessen (29–61). Wichtig dabei im Kontext dieser Arbeit ist die Anerkennung von (in der Regel immer noch wissenschaftstheoretisch tabuisierter) partieller Selbstreferenzialität und Zirkelschlüssigkeit als einem selbstverständlichen und notwendigen Teil von Erkenntnisprozessen (vgl. 29f.). Funktionale Teilsysteme und wiederum sich selbst beobachtende und reflektierende Supersysteme sollen in der Komplexität der Verhältnisse erhellende Strukturen verdeutlichen. Subsysteme gesellschaftlicher Organisationen wie Schule und Hochschule mit ihren latenten wie offenen Machtverhältnissen bringen den direkten Bezug zum Gegenstand dieser Arbeit (vgl. 36–39). Der vollständige Verzicht auf affirmative vorgegebene Normativitäten in den Erkenntnisprozessen ist allerdings, so könnte hier kritisiert werden, ein sicherlich so nicht einlösbares Postulat, das aber zumindest zum Erkennen und In-Frage-Stellen des ›eigenen‹ Normengefüges führen sollte. Um nicht lediglich die Theorie der Systemtheorie zu reflektieren, sondern auf die konkreten Analysen gesellschaftlicher Verhältnisse zielen zu können, wird über einen »operative[n] Systembegriff« nachgedacht (45–61). Ein ›kommunikatives Verhältnis‹ wird dabei als System definiert, in dem Fremdbezüge wie selbstreferenzielle Komponenten konstatierbar sind (vgl. 48f.). Argumentiert wird dabei nicht mit »ontologisch vorgeordneten Systemstrukturen oder einer wie immer zu legitimierenden Fachsystematik« (53). Dekonstruierend ›konstruktivistische‹ und ›autopoietische‹ Ansätze werden kritisch überprüft. Auch die Luhmann-Kritik ist adäquat integriert. Die Relevanz des Verhandelten droht allerdings dabei im hohen Abstraktionsgrad der Darstellung, auch in den ausgewählten Zitaten, stellenweise zu ›vereisen‹ (ich behaupte aber nicht: zu verschwinden). Diese metaphorische ›Eisschicht‹ ist ein typisches Resultat der Legitimations-Mechanismen von ›Wissenschaftlichkeit‹ in Dissertationen. Die Konzeption der »Offene[n] Geschlossenheiten« (52–61) zielt, und das ist grundlegend für den weiteren Verlauf des Buchs, auf eine Entkräftung der grundsätzlich ja sinnvollen und notwendigen »Kritik an einem totalitaristisch ›bereinigten‹ Systembegriff«; »denkbar werden dann auch Formen des Beobachtens, die neben dem Beschreiben problematischer Konstellationen entsprechende Veränderungen für möglich halten.« (61)
Das alles führt zum quantitativ gewichtigsten dritten Hauptteil der Dissertation: »Probleme einer Beziehung – Analysen«. Wenn ich jetzt sage, dass hier die anfangs beschriebene chaotische Vielfalt der Beziehung von Musikpädagogik und Musiktheorie als System begrifflich in kategorialen Subsystemen ›auf Vordermann gebracht‹ wird, bin ich planmäßig ungerecht. Vorgestellt wird eine systemische Ordnung, die von Problemstellungen mit vergleichbaren Begriffsfeldern ausgeht, nicht von ontologischen ›Wahrheiten‹ und positivistischen ›Wirklichkeiten‹. Drei subsystemische Hauptgruppen werden untersucht:
»3.1 ›Forschung‹ – Wissenschaft als Horizont« (63–84);
»3.2 ›Unterricht‹ – Erziehung als Horizont« (84–109);
»3.3 ›Ästhetik‹ – Kunst als Horizont« (109–131).
Sie alle haben jeweils drei ›Sub-Subsysteme‹: die Musik – die Funktion – die Reflexion. Diese Konstruktion lädt als solche zum Dekonstruieren ein, ist aber erhellend und konkret und macht, nach den Mühen der Abstraktionen, Spaß bei der Lektüre (darf das in einer seriösen Rezension einer Dissertation überhaupt gesagt werden?), auch wegen der Souveränität, mit der die ja oft leidenschaftlich ausgefochtenen Kontroversen, aber auch Konvergenzen in ihrer Fülle dargestellt und auf ihren inhaltlichen und funktionalen Kern gebracht werden. Als ein – auch – betroffener Akteur in diesem Beziehungs-Drama kann ich nur mit Hochachtung über diese Souveränität sprechen, mit der das gelingt. Im Vorwort der Arbeit findet sich auch eine entsprechende Danksagung an Gesprächs- und Diskussions-Partner im Vorfeld, zu denen selbstverständlich auch die Betreuer der Arbeit zählen.
Ohne die vielen Aspekte der ›offenen Ordnungen‹ systemischer Multiperspektivitäten hier auch nur annähernd entfalten zu können, die problemgeschichtlich, aber selbstverständlich auch als in ihrer gesellschaftlichen Funktionalität von Wertehierarchien angesiedelt dargestellt sind, möchte ich auf einige ausgewählte Punkte verweisen. Immer wieder sind – als für die Autorin selbst wie die Rezipienten ›ordnende‹ Faktoren – Luhmann- und Post-Luhmann-Rückversicherungen in den Argumentationsverlauf eingebunden. Dass gleichzeitig aber ebenfalls Postulate einer emanzipativen, auf bereichernde Veränderung zielenden Konzeption der »problematischen Beziehung« von Musikpädagogik und Musiktheorie gleichsam als roter Faden eines ›ceterum censeo‹ die Kapitel durchziehen, lässt den Rang der Arbeit weit über den einer abstrakten Bestandsaufnahme hinaus wachsen. Was ich wirklich bedauere, ist, dass die mögliche künstlerisch-kreative Seite des systemischen Verhältnisses Musikpädagogik-Musiktheorie in Richtung Komposition und Improvisation deutlich unterrepräsentiert ist – sie wäre in den ›Praxis‹-Kategorien gut zu verorten. Sicherlich kann man über die ›Fächer‹-Aufgliederungen ganzer musiktheoretisch definierter Studiengänge – als seien Wissen, Reflexion und kreative Praxis trennbar, etwa beim ›Historischen Tonsatz‹ und ›Künstlerischen Tonsatz‹, auch bei der verbreiteten Ausgliederung von Rock- und Popmusik aus dem Theorie-Kompositions-Bereich – an vielen deutschsprachigen Hochschulen kritisch urteilen, doch ist Kreativität da immerhin präsent. Der gelungene kompositionspädagogische Ansatz von Matthias Schlothfeldt wird wenigstens im abschließenden »Ausblick«-Kapitel noch gewürdigt, und zwei Fußnoten verweisen noch auf Weiterführendes (159f.).
Dieser vierte Hauptteil der Arbeit, »Strukturen einer Beziehung – Ausblick«, verweist auf »Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung« (132–167). Über Schulbücher und Musiklehren bzw. Allgemeine Musiklehren/Elementarlehren, in denen diese Beziehungsgestaltung in der Regel ja Gegenstand ist (oder besser: sein sollte), geht die kritische Bestandsaufnahme hin zur Disziplin Harmonielehre; zur Diskussion gestellt werden dann »Musikfachliche Projekte als Modelle fächerübergreifenden Kommunizierens« (150).
Diese Dissertation kann, in ihrer Überfülle an reflektiert problematisierten Sachverhalten und ihren vorsichtig zuversichtlichen Lösungs-Ansätzen, zur ›Selbstverortung‹ in der Musikpädagogik und der Musiktheorie gleichermaßen beitragen. Auch die wissenschaftlich-künstlerisch-pädagogisch-musiktheoretischen Personalunionen der Autorin und zahlreicher ihrer Mit-Streitenden scheinen ein Garant dafür zu sein, dass der aktive Wandel der Beziehungsgestaltung in Theorie und Praxis weiter vorwärtsbewegt wird – wobei aber immer kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen sein wird, wo dieses ›Vorn‹ anzusiedeln ist.
›Musikpädagogik und Musiktheorie – eine unproblematische Beziehung und ihre Aporien‹: Diese Variante wäre nicht oder nur mit erheblich höherem Aufwand aufzulösen.
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