Elizabeth Eva Leach, Fourteenth-Century French Notation, DIAMM Moodle at the Faculty of Music, University of Oxford. http://diamm.nsms.ox.ac.uk/moodle/
Franz Körndle
Während des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870 bis 1871 kam es auch in der Welt der Choralforscher zwischen Vertretern beider Länder zu einer folgenreichen Kontroverse. Der in Regensburg wirkende Franz Xaver Haberl erreichte 1870 im Vatikan ein für 30 Jahre gültiges Druckprivileg für eine neue Ausgabe der Melodien zum Gregorianischen Choral. Haberl war der Überzeugung gewesen, die richtige Quelle für sein Vorhaben gefunden zu haben, die Editio Medicaea von 1614/15. Das französische Kloster Solesmes vertrat dagegen die Auffassung, man müsse sich auf die ältesten Aufzeichnungen beziehen, um die Ur-Versionen wiederzugewinnen. Da Haberl mit dem erworbenen Druckprivileg eine solche Edition blockierte, begann die Abtei unter der Betreuung durch Dom André Mocquereau mit der Publikation fotografischer Faksimiles der als am wichtigsten angesehenen Choralhandschriften, die ab 1889 als Paléographie Musicale im Druck erschienen.[1] Mit der Evidenz aus den Quellen legten sie zugleich den Grund für die von Solesmes ausgehende Forderung nach Authentizität einer später zu realisierenden Neuausgabe.[2] Der Einsatz der neuen fotografischen Möglichkeiten revolutionierte die Methode der musikalischen Philologie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlossen sich die ersten Faksimile-Ausgaben zu den Quellen mittelalterlicher Mehrstimmigkeit an die Paléographie Musicale an. Es ist dabei sicher kein Zufall, dass damals bereits die ersten Bücher verlegt wurden, die sich umfassend mit der Geschichte der Notation befassten.[3]
Spricht man heute von den vorzüglichen Bedingungen, die mit Digitalisierung und Internet für die musikalische Notationskunde geschaffen wurden, mag die berichtete Vorgeschichte in Erinnerung gerufen werden. Im universitären Studium der Musikwissenschaft gehörte ›Musikalische Paläographie‹ über Jahrzehnte zur Ausbildung, wobei den angehenden Forscher*innen grundlegendes Handwerkszeug mit auf den Weg gegeben wurde. Nicht zuletzt weil einige Bereiche erhebliche Schwierigkeitsgrade aufweisen, galt dieses Teilfach schon lange als überaus anspruchsvoll. Bei jenen, die lieber an Taschenpartituren mit der Musik Mozarts oder Bruckners arbeiten wollten, geriet die Notationskunde gerne ins Zwielicht einer Geheimwissenschaft. Die verbale Vergangenheitsform ist mit Absicht gewählt, haben doch viele musikwissenschaftliche Ausbildungsstätten mit der Umstellung der Studiengänge nach dem so genannten Bologna-System die Notationskunde aus den sechs Semestern für den Bachelor verbannt. Damit hat die ältere Musikgeschichte einen ihrer einstmals für unverzichtbar gehaltenen Grundpfeiler verloren. Kurse mit dem Etikett ›vor 1750‹ werden die eingetretene Lücke nicht adäquat schließen können. Der Argumentation, das anspruchsvolle Level der Notationskunde eigne sich eher für einen Masterstudiengang, vermag ich mich nicht anzuschließen. Man kann auf der Ebene des Masterstudiums nur Inhalte vertiefen, die man sich im Bachelor bereits angeeignet hat. Studierende, die das Mittelalter lediglich innerhalb einer Überblicksvorlesung kennengelernt haben, werden wenig Anreiz darin finden, viele Semester später einen Paläographiekurs im Rahmen des Masterstudiums zu absolvieren, wenn sie sich zugleich in Hauptseminaren bereits angemessen mit der Musik aus Notre Dame in Paris, eines Guillaume de Machaut oder Francesco Landini auseinandersetzen sollen. Für ein seriöses Arbeiten mit der Musik des Mittelalters kann auf die Notationskunde nicht verzichtet werden. In Zeiten, in denen professionelle Vokal- und Instrumentalensembles aus Reproduktionen originaler Handschriften und Drucke musizieren, sollte sich das Fach Musikwissenschaft dafür nicht schämen müssen.
In dieser universitär eigenartig verengten Situation bietet das Internet eine willkommene Gelegenheit, sich im Selbststudium mit der Notation früherer Epochen zu beschäftigen. Aber schon der Blick in die bequem erreichbaren Wikipedia-Artikel »Mensuralnotation«[4] bzw. auf Englisch »Mensural Notation«[5] zeigt deutliche Unterschiede in Qualität und Quantität. Zwar gibt der deutschsprachige Beitrag einen durchaus akzeptabel einführenden Überblick zur schwarzen Mensuralnotation, zur Ars nova und zum Trecento sowie zur weißen Mensuralnotation, das Erscheinungsbild der verwendeten Zeichen erweckt jedoch den Eindruck, hier habe sich ein Bastler an einem billigen Grafikprogramm vergriffen. Die eher pauschale Ausrichtung der gegebenen Erläuterungen (etwa: »Die Mensuralnotation entwickelte sich im 13. Jahrhundert, vorangetrieben durch die Differenzierung der Rhythmen«) bestätigen diesen Eindruck des wenig Professionellen. Dass man durchaus mehr erwarten könnte, zeigt sich, wenn man in der linken Spalte unter der Rubrik »Languages« auf »English« klickt. Der englischsprachige Artikel ist nicht nur ordentlich und differenziert aufgebaut, sondern es bestechen auch sogleich Abbildungen von originalen Manuskripten und Nachschriften in historischer Schreibweise (»diplomatic transcription«) unter Verwendung der ursprünglich verwendeten Zeichen bis hin zu Übertragungen in moderne Noten. Die grafischen Erscheinungsformen der einzelnen Noten- und Pausenwerte sind äußerst sauber in Tabellen – nach Jahrhunderten gegliedert – zusammengestellt, womit sich die Entwicklung anschaulich nachvollziehen lässt. Man kann sogar die Regeln der Ligaturen (mehrere Töne in einem Zeichen zusammengefasst) kennenlernen und findet die Noten-Schlüssel ebenso erläutert wie diverse Fachbegriffe (z.B. ›Imperfektion‹ oder ›Alteration‹). Nicht zu verachten ist eine abschließende Liste, die für den modernen Gebrauch am Computer den jeweiligen Unicode der Notenzeichen enthält. Man gerät in die Versuchung zu glauben, hier könnte sich das Geheimnis einer deutlich höherwertigen Optik verbergen.
Empfehlenswert ist durchaus auch der Blick über die Zäune der anderen europäischen Sprachen. Sehr ausführlich ist nämlich der Beitrag »Notación mensural«[6] in der spanischen Wikipedia; dagegen besteht in französischer oder italienischer Sprache gerade einmal ein Gerüst, das sich vielleicht ausbauen lässt, aus dem man aber derzeit nichts lernen kann.[7]
Die großen internationalen Bibliotheken machen seit Jahren Digitalisate ihrer alten Handschriften und Drucke online zugänglich, darunter auch die für die Musiküberlieferung relevanten Quellen. Das gegenwärtig ambitionierteste Unternehmen zur mittelalterlichen Notation bietet zweifellos das Digital Image Archive of Medieval Music (DIAMM).[8] Dort werden seit 1998 Informationen zu mittelalterlichen Musikhandschriften zusammengetragen, vergleichbar nach meiner Kenntnis nur dem Thesaurus Musicarum Latinarum (TML), der Texte zur Musiktheorie vom 3. bis zum 17. Jahrhundert nach den älteren Editionen und inzwischen auch nach etlichen originalen Handschriften zur Benützung in einer Datenbank zur Verfügung stellt.[9] Der Ausgangsgedanke für DIAMM war wohl gewesen, von den teilweise weit und auf kleine Bibliotheken verstreuten Einzelüberlieferungen mehrstimmiger Kompositionen Bilder verfügbar zu machen, in einer Weise, die ein Sammel-Faksimile nicht hätte leisten können. Dass die bereits in den Bibliotheken stehenden Reproduktionen der bekannten Codices mit Mensuralmusik dabei ein farbiges Upgrade erfahren würden, nahm man sozusagen gerne in Kauf. Mittlerweile ist die Datenbank mit ihren Einträgen sogar weit in die frühe Neuzeit vorgedrungen, und es können die umfangreichsten, immer wieder aktualisierten Quelleninformationen abgerufen werden.
Zu den herausragenden Einträgen gehört die komplette Digitalisierung der Machaut-Handschrift GB-Cccc Ferrell 1 (im Folgenden: Ferrell 1). Hinter dieser Signatur verbirgt sich eines der für die Überlieferung der Werke von Guillaume de Machaut wichtigsten Manuskripte, das über Jahrhunderte zunächst im Besitz der Grafen von Foix, dann der Familie Vogüé, zuletzt bei Marquis Melchior de Vogüé, gewesen war. Nach dessen Tod 1916 verloren sich die Informationen über den Verbleib der Handschrift für längere Zeit. Zwischen 1928 und 1933 erwarb der Kunsthändler Georges Wildenstein das Manuskript, der Wissenschaftlern in der Folgezeit keinerlei Zugang gewährte.[10] Heute gehört es James E. und Elizabeth J. Ferrell, die es zur Aufbewahrung in die Bibliothek des Corpus Christi College der Universität Cambridge gaben. Aufgrund der wechselnden Besitzer kursieren in der musikwissenschaftlichen Literatur mehrere Kürzel, zunächst Vg (für Vogüé) als allgemeine Kurzbenennung, dann – entsprechend den Regularien des Répertoire International des Sources Musicales (RISM) – NYw (für New York, Wildenstein Galleries) und kurzzeitig Ferrell-Vogüé, aktuell schließlich Ferrell 1. Als Friedrich Ludwig seine Machaut-Ausgabe[11] erarbeitete, war Vg seine wichtigste Quelle.[12] Immerhin handelt es sich um die älteste (ca. 1369) der vollständigen Machaut-Handschriften mit 2 Lais, 23 Motetten, 38 Balladen, 15 Rondeaux, 6 Virelais, dem einzigen Hoketus und der bekannten Messe. Für eine Machaut-Neuausgabe, die Leo Schrade 1977 vorlegte[13], stand sie nicht zur Verfügung.[14] Gerade die Sorgfalt, mit der Ferrell 1 geschrieben ist, hätte Schrade vor manchem Problem bei seiner Übertragung bewahren können.
Für interessierte Benutzer*innen besteht nun die Möglichkeit, anhand von Ferrell 1 die Notation der Musik aus dem 14. Jahrhundert über einen Online-Kurs zu erlernen. Dazu hat Elizabeth Eva Leach das erste Virtual Learning Environment (VLE) in der mittelalterlichen Musikforschung erstellt. Es ist seit etwa fünf Jahren an der Universität Oxford angesiedelt, der Zugang steht aber nicht nur den dortigen Studierenden, sondern grundsätzlich allen Interessent*innen offen. DIAMM selbst nennt auf der einführenden Webseite die Namen von etwa 100 Nutzer*innen, doch zeigt die Inskribentenliste, in die man sich obligatorisch und für jedermann einsehbar eintragen muss, aktuell weit mehr als 500 Teilnehmer*innen aus über 20 verschiedenen Ländern. Man nimmt diese große Gruppe gerne zur Kenntnis. Datenschutz-Bedenken sind vermutlich nicht angebracht, zumal nirgendwo ersichtlich ist, ob der Kurs auch erfolgreich abgeschlossen wurde. Wer die Szene der Mittelaltermusikologie ein wenig kennt, wird manch bekannten Namen entdecken, dabei ist das ganze Spektrum von Studierenden über Doktoranden bis hinauf zu Universitätsprofessor*innen abgedeckt.
Vorangestellt sind dem Lehrgang einige Hinweise. So vermittele der Kurs Musiker*innen (und Musikwissenschaftler*innen) mit Kenntnissen moderner Notation die Grundlagen des mittelalterlichen Notationssystems, mit deren Hilfe man verstehen könne, wie in modernen Ausgaben redaktionelle Entscheidungen getroffen würden. Man lerne auch, die Editionen mit der originalen Notation zu vergleichen und (womöglich) sogar vom Faksimile zu singen. Nach Abschluss des Kurses werde man in der Lage sein, fortgeschrittene Studien zu betreiben, die man für eigene Editionen benötige. Es wird aber auch vor übertriebenen Erwartungen gewarnt und damit sogleich ein wenig vom eigenen Anspruch zurückgenommen. Keineswegs könne man die Fähigkeiten erwerben, die man für das Übertragen neuer Entdeckungen benötige, zumal diese Stücke meist nur fragmentarisch überliefert seien.[15]
Das klingt bescheiden und ist dann doch ziemlich hoch gegriffen. Um aus einem Faksimile singen zu können, muss man – strenggenommen – mehr Erfahrung mit der Notation haben, als bei den ersten Übertragungsübungen. In der Gruppe von Sängern bringt eine irrige Lesart rasch das Scheitern, ohne dass man gleich den Urheber ermitteln kann. Bei einer Transkription hingegen kann man geduldig Schritt für Schritt vorangehen. Ich würde eher dafür plädieren, das Faksimile-Singen als perfekt ergänzende Übung zu betreiben. Dazu käme es auf eine sorgfältige Auswahl von Stücken in aufsteigendem Schwierigkeitsgrad an. Eine solche didaktische Anthologie für Faksimile-Sänger zu erstellen wäre zweifellos eine weitere Aufgabe für DIAMM.
Der Kurs gibt zwar an, in die Notation des 14. Jahrhunderts einzuführen, in Wirklichkeit geht es aber lediglich um die Notation von Ferrell 1. Für einen einführenden Notationskurs zur Musik des 14. Jahrhunderts ist die Handschrift allerdings nicht nur hinreichend, sie bietet die besten Voraussetzungen. Sie liefert genau die pädagogisch sinnvollen Beispiele, nach denen man bei der Unterrichtsplanung so häufig sucht. Doch der Reihe nach.
Der Kurs ist in zwölf thematische Einheiten (»topics«) gegliedert. Auf eine Einführung in die Form der Noten- und Pausenzeichen (Topic 1) mit den Grundregeln der französischen Notation des 14. Jahrhunderts folgen (Topics 2–5) die vier unterschiedlichen Mensurierungen mit binärer und ternärer Anlage auf den Ebenen Tempus und Prolatio, also Tempus imperfectum mit Prolatio minor, dann mit Prolatio maior, sowie Tempus perfectum, ebenfalls mit beiden Prolationes. In Topic 6 geht es um die Ligaturen, in Topic 7 um Color, den Einsatz rot geschriebener Zeichen. Topic 8 widmet sich dem Erkennen der Mensur in Fällen, wo im Originalnotat hinweisgebende Zeichen fehlen (im Notationskunde-Unterricht liegen hier die größten Schwierigkeiten). Topic 9 behandelt die Arten der Imperfektionierung, Topic 10 die Probleme beim Lesen und Unterlegen des Textes, vor allem bei der Wiederholung musikalischer Abschnitte, deren Verse zu unterschiedlichen Schlüssen führen (Ouvert und Clos). Da sich manche Hürden bei der Übertragung nur überwinden lassen, wenn man die mittelalterliche Satzlehre wenigstens in Grundzügen kennt, gibt es in Topic 11 eine Kontrapunkt-Einführung, die auch die Feinheiten der Akzidentiensetzung einschließt. Topic 12 bietet »additional resources«, mit der Edition der Machaut-Balladen von Friedrich Ludwig[16]. Zahlreiche Links und eine Bibliographie runden den Kurs ab.
Der Aufbau in den einzelnen Topics ist immer wieder ähnlich. Neben einer ausformulierten Erörterung findet man Beispiele aus dem Manuskript mit Übertragungen in moderne Notation, außerdem kleine Lernzielkontrollen, »Quiz« genannt. Erstaunt ist man ein wenig über die eingebauten Links, die zu (englischsprachigen) Wikipedia-Artikeln führen, etwa »Mensural Notation«, »Virelai« oder »Hexachord«, »Ballade« und »Ligatures (music)«, da man von Wikipedia-Einträgen zu mittelalterlicher Musik oft enttäuscht wird. Doch entsprechen die genannten Beiträge, wie oben bereits angedeutet, einem gehobenen wissenschaftlichen Level, man kann aus diesen Artikeln tatsächlich etwas lernen. Elizabeth Leach war offenbar der Überzeugung, solche einführenden Beiträge müssten nicht für ihren Kurs neu ›erfunden‹ werden. Ein Hyperlink macht möglich, was die Buchform bislang nicht kannte, das sofortige Verfügen über digitale Texte anderer Autor*innen. Freilich: Mittlerweile lassen sich auch im Printmedium über so genannte QR-Codes, die man mit der Kamera eines Mobiltelefons oder Tablets und sogar vom Laptop aus einscannen kann, Internetseiten erreichen mit Abbildungen, Notenbeispielen und dergleichen mehr, dessen Wiedergabe für eine Buchproduktion zu kostspielig gewesen wäre.
Schließlich bietet der Kurs in den Topics 6 und 11 auch noch Material zu Ligaturen und Kontrapunktregeln in Gestalt von »Handouts«, die von Margret Bent stammen und Teilnehmer*innen ihrer Vorträge, Seminare und Workshops vertraut sein dürften. Gleichwohl stellen sie unverzichtbare, aus Jahrzehnten pädagogischer Erfahrungen erwachsene Hilfsmittel an geeigneter Stelle zur Verfügung. Und allen, die sich mit dem Lesen der originalen Machaut-Lyrik schwertun, werden Links zu »handwriting courses« und zu Übertragungen digitaler Textausgaben gute Dienste leisten.
Abbildung 1: Elizabeth Eva Leach, Fourteenth-Century French Notation, Topic 1 mit geöffneten Tutorials zu Notenformen (Screenshot)
Die Notenbeispiele sind für die didaktischen Zwecke sorgfältig ausgewählt, digital ausgeschnitten und separat angeordnet (vgl. Abb. 1). Störende Zeichen oder Elemente, die von einem oberen oder unteren System überschneidend erscheinen würden, sind entfernt, damit keinerlei Irritationen aufkommen können.
Die zwölf Topics enthalten in der Regel je zwei Tutorials, die sich jeweils den Bereichen ›Theorie‹ und ›Praxis‹ zuordnen lassen. Bei Topic 1 kann man sich etwa nach einer verbalen Beschreibung (Tutorial 1a) das konkrete Erscheinungsbild der einzelnen Zeichen einprägen (Tutorial 1b). Dabei gibt es gleich hier vermutlich für manche angehende Notationskundler, die bereits einen universitären Kurs durchlaufen haben, ein interessantes ›Déjà-vu‹ bei der Begegnung mit Machauts Ballade 26 Donnez signeurs, die im Schriftbild der mehrstimmigen Musik von 1973[17] in guter Reproduktion abgedruckt gewesen war, freilich nach der Handschrift A (Paris, Bibliothèque nationale, fonds fr. 1584, fol. 467r). Aus der Tradition heraus, mit genau diesem Beispiel die Notation der Machaut-Handschriften einzuüben, ist es auch in das Notationskundebuch von Manfred Hermann Schmid[18] aufgenommen worden, wo sich außerdem eine Transkriptionsaufgabe dazu findet.[19] Diese soll freilich nicht in moderner Notation ausgeführt, sondern als ›Synopse‹ mit den originalen Notenzeichen vorgenommen werden.
Im Unterschied zum konsequenten Arbeiten mit der originalen Notation, das ein Merkmal der Notationskunde Schmids darstellt, leitet der Kurs von Elizabeth Leach durchweg zu Übertragungen in die heutige Schreibweise an. Zur Verdeutlichung: Die Übertragung von historischen Notenzeichen in moderne bedeutet etwas Ähnliches wie etwa die Übersetzung mittelhochdeutscher in neuhochdeutsche Texte. Auch wenn es bei der Notenübertragung lediglich um eine formale Veränderung der Zeichen geht, profitieren selbst Musikforscher, die nicht professionell mit der germanistischen Mediävistik befasst sind, vom Verfahren der Übersetzung, es hilft etwa bei der Auseinandersetzung mit den Melodien der Jenaer Liederhandschrift. In diesem Sinn will Leach ihr Publikum auch anleiten, Machauts Kompositionen in Ferrell 1 eigenständig zu transkribieren. Manfred Hermann Schmid aber weist in der Einleitung zu seiner Notationskunde auf eine wichtige Motivation für die Beibehaltung des originalen Schriftbilds hin: »Ziel einer Beschäftigung mit historischen Schriften könnte […] sein, in ihnen denken zu lernen und in der Aneignung bestimmter Schreibkonventionen ansonsten verborgene Denkkategorien zu erfassen.«[20] Einen solchen Satz kann man nicht oft genug lesen und über den damit formulierten Anspruch nachsinnen. So tief er in der musikwissenschaftlichen Tradition der ›Münchner Schule‹[21] verwurzelt scheint und allein daher seiner Widersacher gewiss sein dürfte, er hat bei seiner Umsetzung Folgen für die Hermeneutik. Gerne wird in Diskussionen eingewandt, diplomatische Umschriften mit originalen Zeichen seien redundant, wenn man über die Möglichkeit verfüge, einer modernen Edition die Faksimilierung des Originals gegenüberzustellen.[22] Karin Paulsmeier formulierte sogar grundsätzliche Einwände gegen das Edieren älterer Musik.[23] Man vermeidet freilich weder mit der einen noch mit der anderen Auffassung, je nach Zielsetzung verantwortlich mit der historischen Notenüberlieferung umgehen zu müssen, und das heißt immer auch, Entscheidungen zu treffen. Das Vorliegen von Editionen, welchen Prinzipien auch immer sie folgen mögen, enthebt daher nicht der Notwendigkeit, die originale Aufzeichnung zu verstehen. Dabei kann man Schmids Hinweis auf die ›Aneignung von Schreibkonventionen‹ auch dahingehend interpretieren, im Sinne experimenteller Archäologie solle der Versuch unternommen werden, mit der Feder die Bedingungen von Schreibprozessen zu erfahren. Es dürfte nämlich auf Anhieb ebenso wenig gelingen, einen Sekundschritt aufwärts als Pes in der choralen Quadratnotation einwandfrei auf das Pergament zu bringen, wie präzise den Anfang und das Ende einer Ligatur bei größeren Intervallen abwärts zu fixieren. Beobachtungen dieser Art, ergänzt durch die Erfahrungen beim Bearbeiten der ungleichmäßigen Beschreibmaterialien, wären weitere Hilfen in einer Notationskunde, die tatsächlich bei den elementaren Vorgängen ansetzen und nicht das Vorhandensein von Notenzeichen stillschweigend voraussetzen würde.
Man sollte an dieser Stelle allerdings nicht den Fehler begehen, die höchst unterschiedlichen Ansätze bei Leach und Schmid gegeneinander auszuspielen. Der im Grunde recht pragmatische Ansatz im DIAMM VLE soll anhand einer wichtigen Handschrift in die Notationspraxis des 14. Jahrhunderts einführen, Schmid kann mit seinen Gedanken eine willkommene Erweiterung der dabei zu gewinnenden Denkprozesse leisten.
Mit seiner beliebigen Erweiterbarkeit um Bilder und sonstige Medien bietet das Internet heute exzellente didaktische Optionen, die für Exkurse zu Schreibpraktiken genutzt werden könnten, etwa für eine Video-Vorführung, wo die rein verbale Erörterung an ihre Grenzen stößt. Für eine umfassendere Paläographie sollte man solche visuellen Anregungen durchaus in Erwägung ziehen. So weit müssen die Forderungen an einen Notationskurs zum Ferell 1 gar nicht gehen. Und doch will leicht der Verdacht entstehen, der Kurs von Elizabeth Leach hätte sich unschwer als Büchlein realisieren lassen. Will man die Vorzüge des Online-Kurses nicht auf die Kostenfreiheit reduzieren, darf auf das Ausnützen der medialen Optionen verwiesen werden. In DIAMM VLE finden sich kaum Features, die auf eine Internet-Anwendung angewiesen wären, sieht man einmal von den bequemen Links ab, die zu Wikipedia und natürlich zur Digitalisierung der vollständigen Handschrift führen. Recht nett sind freilich die kleinen Tests, die bewertet werden (vgl. Abb. 2); man erhält Punkte für richtige Antworten und »a penalty« mit Abzügen, wenn man falsch liegt. Sieht man vom Schmunzel-Faktor (inkl. Smiley) einmal ab, wäre das Printmedium auch damit nicht überfordert gewesen. Damit sei ein letzter Blick zur Notationskunde Schmids geworfen, denn der Verlag hat auf deren Cover noch einen blauen Button angebracht, in dem werbewirksam »Mit digitalem Lehrgang« zu lesen ist. Gewiss, mit dem Internet muss heute geworben werden, will man modern erscheinen. Und es bleibt nicht bei bloßen Andeutungen. Im Buch selbst finden sich Hinweise zur digitalen Ergänzung des Buchs.[24] Über die Webseite des Verlags kann man ohne Login die Beschreibung des Buchs (mit Kauf-Option) aufrufen, wo man auch ein 37-seitiges PDF mit Aufgaben und Lösungen zum kostenfreien Download findet. Respekt! Da hat sich der Verlag ernsthaft Mühe gegeben, Wissbegierigen den Weg auf die Webseite zu weisen. Das PDF bringt schon ein paar Klicks ein, hätte aber sicher auch noch im Buch Platz gefunden. Überflüssig sind diese zusätzlichen Seiten gleichwohl nicht. Schmid hat 26 Bündel mit mehreren Teil-Aufgaben zusammengestellt, zu denen hinten – wie es freilich auch in einem Buch üblich wäre – die Lösungen angeboten sind.
Abbildung 2: Elizabeth Eva Leach, Fourteenth-Century French Notation, Quiz zu Notenzeichen (Screenshot)
Soll man abschließend zu einem Fazit kommen, bleibt eigentlich nur zu sagen, wie lohnend der Kurs von Elizabeth Leach nicht nur für Machaut-Spezialist*innen sein kann, obgleich die Notationskunde von Manfred Hermann Schmid demgegenüber einen noch weiteren Blick eröffnet. Beide Zugänge zu historischen Notationen halte ich für unbedingt empfehlenswert. Bedenkenswert für die Autor*innen und die Webseitendesigner wäre aber auch die Erweiterung des Angebots in diesem Bereich, unter noch stärkerer Berücksichtigung der Optionen, die das Medium Internet bieten könnte. Ich denke da nicht allein an die Qualität der grafischen Gestaltung, sondern vor allem an die Einbindung animierter Schaubilder und Tonbeispiele zur Erleichterung des Nachvollzugs. Der Anreiz, der sich bei den eingebauten Quiz-Fragen bereits zeigt, könnte mit zusätzlichen Interaktionen angereichert werden. Aber selbst wenn wir für die ferne Zukunft Self Learning Tools zur Korrektur von Notationskunde-Aufgaben imaginieren, den erfahrenen akademischen Lehrer zu ersetzen werden sie womöglich nie in der Lage sein.
Anmerkungen
Vgl. Grier 1996, 145. | |
Vgl. Dillon 2002, 134. | |
Etwa David/Lussy 1882; Riemann 1896; Williams 1903; Wolf 1913 und 1919. | |
Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Mensuralnotation (30.6.2017). | |
Wikipedia, https://en.wikipedia.org/wiki/Mensural_notation (30.6.2017). | |
Wikipedia, https://es.wikipedia.org/wiki/Notación_mensural (30.6.2017). | |
Vgl. Wikipedia, https://fr.wikipedia.org/wiki/Notation_mesurée und https://it.wikipedia.org/wiki/Notazione_mensurale (30.6.2017). | |
Vgl. Digital Image Archive of Medieval Music, http://www.diamm.ac.uk (30.6.2017). | |
Vgl. Thesaurus Musicarum Latinarum, http://boethius.music.indiana.edu/tml/ (30.6.2017). | |
Vgl. Earp 1995, 84. | |
Ludwig 1926, 1928, 1929 und 1954. | |
Vgl. Traub 2015, 32. | |
Schrade 1977. | |
Dieser entscheidende Umstand wird in Traub 2015 nicht angesprochen. | |
Vgl. http://diamm.nsms.ox.ac.uk/moodle/course/view.php?id=2 (30.6.2017). | |
Ludwig 1926 und 1928. | |
Besseler/Gülke 1973, 62f. | |
Vgl. Rezension in der ZGMTH: Holzer (2014). | |
Vgl. Schmid 2012, 136–140. | |
Ebd., 12. | |
Zum Begriff ›Münchner Schule‹ vgl. Schmid 2016. | |
Für eine kritisch abwägende Beurteilung des Schmid’schen ›Synopse‹-Verfahrens vgl. Holzer 2014, 146. | |
Vgl. Paulsmeier 1992, 145–159, bes. 158. | |
Vgl. Schmid 2012, 9f. |
Literatur
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––– (2016), »Wien und die Folgen für die deutsche Musikwissenschaft. Klärungen zur ›Münchner Schule‹«, in: Wissenskulturen der Musikwissenschaft. Generationen – Netzwerke – Denkstrukturen, hg. von Sebastian Bolz, Moritz Kelber, Ina Knoth und Anna Langenbruch, Bielefeld: Transcript, 41–57.
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