Editorial
Die vorliegenden Varia setzen einen thematischen Schwerpunkt auf die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Dabei weist die Vielfalt der verfolgten Herangehensweisen neben traditionelleren textanalytischen Strategien auch Ansätze auf, die sich der gegenwärtig an Bedeutung gewinnenden performance-orientierten Musikforschung zurechnen lassen. Fragen der Hörwahrnehmung, die Begegnung mit dem musikalischen Kunstwerk im hörenden Vollzug – oft gerade bei neuerer und neuester Musik zunehmend als entscheidender Aspekt einer adäquaten analytischen Annäherung erachtet – spielen in mehreren Artikeln dieser Ausgabe eine prominente Rolle. Die Parteinahme für eine Musiktheorie, welche die Klangkunst Musik nicht nur in ihrer notierten Struktur, sondern auch in ihren performativen Dimensionen und deren Konsequenzen für die ästhetische Wahrnehmung ernst nehmen möchte, lässt sich zugleich als Einladung an den Fachdiskurs lesen, ein dieser Zielsetzung entsprechendes Methodenrepertoire zu entwickeln, zu erproben und zu stabilisieren.
Emmanouil Vlitakis verfolgt in einer vergleichenden Analyse der Klavier- und der Orchesterfassung von Maurice Ravels Pavane de la Belle au bois dormant (1910/11) das spezifische formbildende Potenzial orchestraler Klangfarbendramaturgie. Neben systematischen Überlegungen in der Nachfolge von Carl Dahlhaus und Pierre Boulez spielen für Vlitakisʼ Ansatz auch didaktische Zielsetzungen eine grundlegende Rolle: Der Artikel steht im Kontext konzeptioneller Erwägungen zu einem wissenschaftlich fundierten, konsequent stilhistorisch orientierten Instrumentationsunterricht.
Majid Motavasseli geht in seiner Studie zu Karlheinz Stockhausens Klavierstück V (1954) nicht nur den Informationen nach, die sich aus detailreichen kompositorischen Aufzeichnungen und Skizzen gewinnen lassen. Vielmehr ergänzt er diesen philologischen Weg der Analyse, dem bei serieller und postserieller Musik von jeher besonderes Gewicht zufiel, durch »qualitativ gewichtete Reflexionen« möglicher Hörwahrnehmungen, für die eine strukturelle Erschließung des Partiturbilds eine Art Skript darstellt. Erhellend ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf die Werkentstehung, die Motavasseli als Entwicklung von einer abstrakt durchorganisierten Konstruktion zu einer »stark klangorientierten, expressiv-gestischen Komposition« nachzeichnet.
Johannes Quint beschreibt Ben Johnstons spätes Streichquartettschaffen als ästhetisch eigenwillige Verschränkung von Innovation und Traditionsbezug. Vier ausgewählte Beispiele führen Johnstons Komponieren mit ›Just Intonation‹ vor: Tonsätze, die strukturell in der Nähe klassischer Stilkopien angesiedelt sind, werden durch mikrotonale Detailgestaltung, etwa die systematische Polarisierung von ›O-Tonality‹ und ›U-Tonality‹, zum Gegenstand »überraschender Hörerfahrung«. Quints Ausführungen zum breiteren musikhistorischen Kontext der Johnstonʼschen Ästhetik machen diese als originäres Spezialphänomen der US-amerikanischen Avantgarde verständlich.
Cosima Linke nimmt eine dezidiert »rezeptionsästhetisch orientierte Perspektive« ein, wenn sie Helmut Lachenmanns bislang späteste Orchesterkomposition Schreiben. Musik für Orchester (2002–05) im Hinblick auf das Verhältnis von Klang und Form untersucht. Grundlage ihrer Studie ist die Auffassung, wonach sich musikalische Form – im Spannungsfeld von ›Objekteigenschaften‹ und ›ästhetischer Erfahrung‹ – als aktive Konstitutionsleistung der Rezipientin bzw. des Rezipienten realisiert. Vor diesem Hintergrund kann Linke analytisch zeigen, wie »das Spiel mit und die Reflexion von unterschiedlichen Hörperspektiven« in Lachenmanns Orchesterstück sozusagen »hineinkomponiert« sind.
Florian Edler präludiert die vier analytisch ausgerichteten Beiträge mit einer theoriehistorischen Studie zu spezifischen Problemstellungen der Kontrapunktlehre im mittleren 19. Jahrhundert. An der Thematisierung des zweistimmigen Satzes in Lehrwerken von Luigi Cherubini, Siegfried Wilhelm Dehn und Heinrich Bellermann demonstriert Edler, wie sich die Disziplin Kontrapunkt zu jener Zeit im Konfliktfeld zwischen Historismus und Aktualitätsbezug positioniert. Symptome einer spannungsreichen Situation diagnostiziert Edler etwa in der Art der Bezugnahme auf ältere Lehrwerke und überkommene Satzmodelle sowie auf Impulse der zeitgenössischen Musik.
Zwei Rezensionen aktueller Fachpublikationen schließen den Band ab. Carlo Bosi unterzieht Astrid Opitzʼ Studie zur Kategorie des Modus in den Chansons von Binchois (2015) einer kritischen Würdigung und zeigt, welche neuen Perspektiven darin einem bereits umfangreichen und komplexen Spektrum von Forschungsbeiträgen hinzugefügt werden. Felix Diergarten bespricht Klaus-Jürgen Sachsʼ Edition des von 1507 datierenden Cochlaeus-Traktats Musica (2015) und weist dabei u.a. auf interessante Parallelen zwischen der frühen Neuzeit und der unmittelbaren Gegenwart im Hinblick auf das Selbstverständnis des Fachs Musiktheorie hin.
Hingewiesen werden kann schließlich auf zwei erstmals mit dieser Ausgabe verfügbare technische Neuerungen, die ab sofort Erscheinungsbild und Nutzung der ZGMTH-Online-Ausgabe entscheidend verbessern: Zum einen bietet die Einbindung von Multimedia-Dateien, vor allem in Gestalt von Audiobeispielen, Autor*innen wie Leser*innen neue mediengerechte Möglichkeiten im Hinblick auf Methodik und Argumentation bzw. deren Nachvollzug; zum anderen wird es durch die nunmehr als Vektorgraphiken erscheinenden gesetzten Notenbeispiele, Tabellen und Graphiken möglich, mittels einer Größenanpassung im Browser etwa auch Details in komplexeren Beispielen gut sichtbar zu machen wie überhaupt so die Lesbarkeit der Beispiele in der Web-Ausgabe verbessert und damit an die Standards der pdf-Fassung bzw. der Druckfassung angeglichen wird. Für die technische Implementierung dieser Neuerungen, die im Rahmen einer längerfristigen Anpassung der ZGMTH an internationale Standards von wissenschaftlichen Open-Access-Publikationen erfolgte, sei Immanuel Ott, Julia Deppert-Lang, Andreas Helmberger und Werner Eickhoff-Maschitzki sehr herzlich gedankt.
Kilian Sprau, Christian Utz
Universität der Künste Berlin [Berlin University of Arts]; Universität für Musik und darstellende Kunst Graz [University of Music and Performing Arts Graz]
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