Linke, Cosima (2016), »›Schreiben‹ als Differenz von Stille und Klang. Aspekte der musikalischen Form in Helmut Lachenmanns Schreiben. Musik für Orchester«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 13/1, 117–149. https://doi.org/10.31751/876
eingereicht / submitted: 07/10/2016
angenommen / accepted: 05/12/2016
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 20/02/2017
zuletzt geändert / last updated: 10/05/2018

›Schreiben‹ als Differenz von Stille und Klang

Aspekte der musikalischen Form in Helmut Lachenmanns Schreiben. Musik für Orchester

Cosima Linke

In der vorliegenden Analyse von Helmut Lachenmanns Orchesterkomposition Schreiben. Musik für Orchester (2002–03, revidiert 2004/05) untersuche ich das Verhältnis von Klang und Form auf unterschiedlichen mikro- und makroformalen Ebenen aus einer rezeptionsästhetisch orientierten Perspektive. Musikalische Form ereignet bzw. aktualisiert sich meiner Auffassung nach im Prozess der ästhetischen Erfahrung und ist weder als bloße Objekteigenschaft des musikalischen Phänomens noch als reine Erfahrungskategorie zu verstehen. Ausgehend von der die musikalische Form aktiv mitkonstituierenden Rolle der ästhetischen Erfahrung versuche ich eine analytische Annäherung an die musikalische Form von Schreiben unter drei zentralen Aspekten: (1) das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, (2) das Spiel mit klanglichem Vorder- und Hintergrund und (3) die Art und Weise der Zeitartikulation, die mit verschiedenen Modi der Zeiterfahrung korrespondiert. Hierbei unterscheide ich drei Typen der musikalischen Zeitartikulation (›amorphe‹, ›pulsierende‹ und ›koordinierte‹ Zeitartikulation) sowie drei Modi der musikalischen Zeiterfahrung (Präsenzhören, prozessuales und beziehendes Hören). Als ein zentrales ›Formproblem‹ von Schreiben sehe ich den Balanceakt im Spannungsfeld zwischen Kontinuität, Diskontinuität und Vernetzung und damit zwischen einer prozessualen, seriellen und strukturellen Form bzw. Formwahrnehmung an. Meine zentrale These ist, dass das Spiel mit und die Reflexion von unterschiedlichen Hörperspektiven gleichsam in das Stück hineinkomponiert sind.

The presented analysis of Helmut Lachenmann’s orchestral composition Schreiben. Musik für Orchester (2002–03, revised 2004/05) examines the relationship between sound and form on different micro- and macroformal levels from a reception-oriented perspective. In my opinion, musical form is fashioned and continuously modified during the process of aesthetic experience. It is therefore neither conceived merely as a fixed attribute of the aesthetic object nor simply as a category of perception. Based on the active, form-articulating role of aesthetic experience, my approach to musical form in Schreiben is based on three aspects: (1) the relationship between continuity and discontinuity, (2) the play with the foreground and background of sound, and (3) the way musical time is articulated. The latter corresponds to different modes of perception of musical time of which I distinguish three types: ›amorphous‹, ›pulsating‹ and ›coordinated‹. Respectively three modes of time perception are introduced, namely presence-oriented, process-oriented and relation-generating listening. A major ›problem‹ of form in Schreiben is the balancing out of tension arising from the competing aspects of continuity, discontinuity and interconnectedness. Therefore, musical form in Schreiben is perceived as changing between process-oriented, serial and structural form. The analysis reveals form as a reflexive interplay between diverse listening perspectives inherent to the composition.

Schlagworte/Keywords: Analyse und Wahrnehmung; analysis and perception; Helmut Lachenmann; musical form; musikalische Form; musique concrète instrumentale; Schreiben. Musik für Orchester; Theodor W. Adorno

Die hier vorgestellte Analyse von Helmut Lachenmanns Orchesterkomposition Schreiben. Musik für Orchester (2002–03, revidiert 2004/05) steht im Kontext meiner musikphilosophischen Dissertation zum Verhältnis von Form in neuer Musik und ästhetischer Erfahrung im Ausgang von Theodor W. Adorno.[1] Im Rahmen dieser Arbeit begründe ich aus einer musikphilosophischen Perspektive, dass sich musikalische Form im Prozess der ästhetischen Erfahrung ereignet bzw. aktualisiert und dabei weder als bloße Objekteigenschaft des musikalischen Phänomens noch als reine Erfahrungskategorie zu verstehen ist. Ausgehend von der die musikalische Form aktiv mitkonstituierenden Rolle der ästhetischen Erfahrung sowie anknüpfend an Adornos Konstellationsbegriff bzw. Modell des ›konstellativen Denkens‹[2] verstehe ich hier musikalische Analyse im Sinne einer konstellativen Form der Darstellung, in der analytische Aussagen den ästhetischen Gegenstand aus der Perspektive einer konkreten ästhetischen Erfahrung sowie in Bezug auf unterschiedliche Aspekte und damit auch in Hinblick auf mögliche alternative Erfahrungsweisen charakterisieren. Das Konzept der Konstellation bzw. des ›konstellativen Denkens‹ kommt hier auf mehreren Ebenen ins Spiel: zum einen in Bezug auf das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und ästhetischem Objekt – insbesondere mit Blick auf die sich im Prozess der ästhetischen Erfahrung aktualisierende musikalische Form (erkenntnistheoretisch) –, zum anderen in Bezug auf eine das konstellative Verhältnis von Subjekt und Objekt reflektierende Form der analytischen Darstellung (sprachkritisch/methodisch). Auf einer konkreteren musikanalytischen Ebene verwende ich zudem den Begriff der ›Klangkonstellation‹, der sich auf in ›Echtzeit‹ stattfindende formale Zusammenhangbildungen während des Hörens bezieht.

Schreiben im Kontext von Lachenmanns Kompositionsästhetik

Helmut Lachenmanns bislang späteste Komposition für großes Orchester Schreiben. Musik für Orchester – entstanden bzw. mehrfach revidiert zwischen 2002 und 2005, 2003 in einer älteren Fassung in Tokyo uraufgeführt und 2004 nachträglich erweitert[3] – steht im werkübergreifenden Kontext von Lachenmanns kompositionsästhetischem Ansatz, der auch als musique concrète instrumentale bzw. als »instrumentalkonkretes Klangkomponieren«[4] bezeichnet wird. Wesentlich für diesen Ansatz ist die ›Emanzipation des Geräuschs‹ als musikalisches Material und damit einhergehend die radikale Enthierarchisierung zwischen Klängen mit unbestimmten und bestimmten Tonhöhen.[5] Die für die westliche Kompositionstradition zentrale Klangeigenschaft der bestimmten Tonhöhe ist hier nur noch ein Gesichtspunkt kompositorischer Arbeit unter anderen, sodass die Rezipientin gezwungenermaßen auch auf andere Klangcharakteristika achtet, um in der angebotenen Klangvielfalt musikalischen Sinn bzw. Form erfahren zu können: etwa auf die unterschiedlichen Mechanismen der Klangerzeugung, auf einzelne Klangkomponenten und Klangtransformationen, auf feine Nuancen in der Dynamik, auf subtile Beziehungen und Verbindungen zwischen Klängen, die Lachenmann auch ›Klangfamilien‹ nennt u.a.m.[6] In Anlehnung an eine für neue Musik zentrale Metapher Adornos sind in Lachenmanns Musik alle Elemente »gleich nah zum Mittelpunkt«[7], d.h. es gibt keine Hierarchien zwischen einzelnen Klangkomponenten mehr, sodass sich nicht einfach von einer Klangkomponente abstrahieren lässt, ohne dass dabei der musikalische Sinn entstellt würde. Damit rückt Klang in seiner ›Ipseität‹ in den Mittelpunkt von Lachenmanns Kompositionsästhetik.

Schreiben ist trotz vielfältiger stilistischer Verbindungen, die zu Lachenmanns früheren Kompositionen für großes Orchester bestehen, nicht einfach ein weiteres Stück in einer Reihe von instrumentalkonkreten Orchesterwerken: Die für seine Musik charakteristische ›Klangrealistik‹[8] tritt in Schreiben gleichsam noch einen Schritt weiter zurück und macht nicht nur den performativen Akt der Klangerzeugung auf dem jeweiligen Instrument hör- bzw. erfahrbar, sondern auch – so deuten der Werktitel und Lachenmanns Werkkommentar an – den performativen Akt des (Noten)Schreibens, der noch vor dem ›eigentlichen‹ Klang liegt und zugleich als körperlicher Akt des Schreibens auf Medien wie Papier oder Haut (Pergament) von einer bestimmten materiellen Beschaffenheit selbst Klang erzeugt.[9] So gesehen lässt sich Schreiben als eine Reflexion auf den Prozess der Klangentstehung verstehen.

Die im Verlauf von Schreiben wiederholt auftretenden, besonders aber in den sogenannten ›Zähltakten‹[10] 3 (T. 248a–f) und 7 (T. 271a–r) sowie im ›Epilog‹ (T. 387 bis Ende) präsenten ›Schreibaktionen‹ im Schlagzeug haben Vorläufer in Lachenmanns Werk: Ähnlich geht Lachenmann bereits in Nr. 15a »Litanei« und insbesondere Nr. 15b »Schreibt auf unsere Haut« aus Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1990–96, rev. 2001) vor. Aber auch schon in Lachenmanns erstem Streichquartett Gran Torso (1971/72/78, rev. 1988) kommt mehrfach die Spielanweisung ›schreiben‹ in Zusammenhang mit Flautando-Spielweisen vor (T. 25ff., T. 81ff. und T. 99ff.): Offenbar assoziiert Lachenmann nicht nur scharrende oder wischende Bewegungen auf unterschiedlichen Schlaginstrumenten mit dem körperlichen Akt und dem daraus resultierenden Geräusch des Schreibens, sondern auch Flautando-Spielweisen bzw. die übergeordnete Klangfamilie der ›Rausch‹-Klänge in den Streichern.

Das titelgebende ›Schreiben‹ ist hier mit mehreren Bedeutungsebenen verknüpft: Zunächst ist Schreiben unabhängig von der Art und Bedeutung des Geschriebenen ein performativer, körperlicher Akt, der selbst einen realen Klang erzeugt (Schreiben auf Papier etc.). Das Noten-Schreiben ist zugleich ein produktiver bzw. poietischer Akt, durch den sich ein virtueller, nämlich zunächst nur in der Imagination des Komponisten existierender Klang materiell manifestiert – wenn auch noch nicht klanglich. Indem der Titel den Akt, also den Handlungsvollzug des (Noten-)Schreibens betont, wird die Prozesshaftigkeit des Komponierens herausgestellt und damit einhergehend die Optionalität thematisiert, wie es von einem bestimmten musikalischen Zeitpunkt aus jeweils weitergehen könnte. Die jeweilige klangliche Realisierung des Notentextes kann hier in einem metaphorischen Sinne als ›Nachzeichnung‹ des Kompositionsprozesses verstanden werden. Sodann führt das Noten-Schreiben zu einer fertig gestellten Noten-Schrift, welche sowohl die Aktionen der Musikerinnen bezeichnet als auch – durch diese vermittelt – das klingende Resultat; das Notenzeichen bildet somit das Medium zwischen virtuellem Klang (Imagination des Komponisten) und aktuellem Klang (von den Musikerinnen erzeugtes Klangresultat). Schließlich löst die enge Verknüpfung von Schrift und Zeichen die hermeneutische Fragestellung aus, welche außermusikalische Bedeutung das klingende Resultat als ästhetisches Zeichen haben könnte. Das Pendant zum Schreiben ist das Lesen, der Titel ›Schreiben‹ kommt somit einer Aufforderung gleich, diese verschiedenen (Bedeutungs-)Dimensionen aus dem Stück ›herauszulesen‹.[11] Dabei geht es bei diesem Akt des ›Lesens‹ bzw. Verstehens insofern nicht in erster Linie um die Entschlüsselung einer Autorintention, wie auch Lachenmann in seinem Werkkommentar selbst andeutet, als das ›Schreiben‹ in Schreiben auch als eine Art écriture automatique aufgefasst werden kann, die weniger eine zeichenhafte denn eine ›abstrakte‹ Schrift produziert.[12] Diese écriture automatique vollzieht hier allerdings nicht der notenschreibende Komponist während des Komponierens, sondern in einem übertragenen Sinne das Orchester, das ›schreibt‹ bzw. das der Komponist ›schreiben‹ lässt.

Diesseits von durch den Titel ausgelösten (hermeneutischen) Assoziationen, d.h. an der klanglichen Oberfläche bzw. auf der mit dieser korrespondierenden Wahrnehmungsebene äußert sich die angesprochene Klangrealistik insbesondere darin, dass die Aufmerksamkeit der Rezipientin auf das komplexe ›Innenleben‹ der Klänge gelenkt wird, das in Schreiben ›makroskopisch‹ vergrößert wird: auf den charakteristischen Entstehungsprozess von Klang durch vielschichtig synchronisierte oder sich sukzessiv überlagernde, zum Teil verdeckte Einsätze, auf subtile Klangtransformationen kontinuierlicher Klangschichten sowie auf den Prozess des Ausklingens und Verklingens durch Ausfilterung und ›künstliche‹ Resonanzen.[13] Bezogen auf die großformale Anlage von Schreiben lässt sich grob betrachtet eine Art Bogenform erkennen, die den Prozess der Klangentstehung aus vorhergehender Stille (dal niente) und das Wiedervergehen des Klangs in Stille (al niente) nach klanglich massiven, überwiegend tonhaften Passagen nachzeichnet.[14] Die im Verlauf von Schreiben immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise markierte Differenz von Klang und Stille wird besonders an dem in den Streichern durch verschiedene Varianten von tonlosem (d.h. auf definierte Tonhöhen verzichtendem) Spiel und Flautando-Spielweisen erzeugten ›Rauschen‹ sinnfällig, das in vielen Passagen von Schreiben eine kontinuierliche Klangschicht bildet.

Zur Methodik der Analyse – Aspekte der musikalischen Form

Die weitgehende Auflösung traditioneller, das musikalische Einzelphänomen übergreifender formaler Funktionen und Typen[15] in posttonaler Musik und die damit einhergehende Individualisierung musikalischer Formen stellt eine besondere Herausforderung für die Formanalyse dar, insofern die Rezipientin von neuer Musik dadurch, dass sie sich nicht mehr auf ein der Tonalität vergleichbares allgemeines Bezugssystem stützen kann, mit einer neuen Qualität von Unbestimmtheit und Offenheit des musikalischen Erfahrungsgegenstandes konfrontiert wird. Angesichts dessen und des verstärkten kompositorischen Interesses am musikalischen Klang und seiner Wahrnehmung insbesondere seit den 1960er Jahren – wie es exemplarisch in der Kompositionsästhetik Lachenmanns deutlich wird – gehe ich von einem Formbegriff aus, der in Abgrenzung zu einem produktionsästhetisch verstandenen Strukturbegriff die rezeptionsästhetische Perspektive stärker berücksichtigt: Musikalische Form entsteht in der Interaktion eines ästhetisch erfahrenden Subjekts mit einem musikalischen Phänomen, d.h. im Prozess der ästhetischen Erfahrung.[16]

Zu Schreiben liegen bereits zwei Analysen von Matthias Hermann und Rainer Nonnenmann vor, wobei in beiden Analysen der Fokus nicht auf der musikalischen Form bzw. Formwahrnehmung im hier verstandenen Sinne liegt.[17] In meiner analytischen Perspektive auf Schreiben untersuche ich das Verhältnis von Klang und Form auf unterschiedlichen mikro- und makroformalen Ebenen. Dass Klang und Form auch nach Lachenmanns eigener Auffassung eng aufeinander bezogen sind, zeigt sich besonders an seinem Begriff des ›Strukturklangs‹, in dem klanglicher und formaler Aspekt ineinander aufgehen.[18] Wichtiger Referenzpunkt meiner Analyse ist die 2006 eingespielte Aufnahme des SWR-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Sylvain Cambreling. Lachenmanns Musik im Besonderen erschließt sich nicht allein aus dem Text: Denn an Lachenmanns erweiterten Notationstechniken wird die Funktion der Partitur als Aktionsschrift, die möglichst präzise die Spielaktionen der Instrumentalistinnen bezeichnet und nur mittelbar auf das klangliche Resultat verweist, welches meiner Auffassung nach erst das ästhetische Zeichen bildet, besonders evident.

In drei Schritten vollziehe ich eine ›konstellative‹ Form der analytischen Darstellung, indem ich mich der musikalischen Form bzw. dem zentralen ›Formproblem‹ im Sinne Adornos[19] von Schreiben unter drei verschiedenen Aspekten anzunähern versuche: (1) das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, (2) das Spiel mit Vorder- und Hintergrund und (3) die Art und Weise der Zeitartikulation, die mit verschiedenen Modi der Zeiterfahrung einhergeht. Auf der Grundlage einer eher provisorischen Segmentierung des musikalischen Zeitverlaufs in sechs große Formteile konzentriere ich mich im ersten Teil meiner Analyse exemplarisch auf die Übergänge zwischen diesen Formteilen und untersuche hier das Spannungsverhältnis von Kontinuität, Diskontinuität und Vernetzung und damit einhergehend das Ineinandergreifen von prozessualer, serieller (im Sinne von parataktisch aneinanderreihender) und struktureller Form bzw. Formwahrnehmung. Im zweiten Teil widme ich mich am Beispiel des ersten großen Formteils dem Verhältnis von Vorder- und Hintergrund, das in Schreiben eine multiperspektivische Wahrnehmung herausfordert: Eine kontinuierliche Klangschicht in den Streichern ist hier Gegenstand von ›inneren‹ und ›äußeren‹ Klangtransformationen, welche für die Wahrnehmung vieldeutige Situationen erzeugen. Unter dem dritten Aspekt unterscheide ich grundsätzlich drei Typen der musikalischen Zeitartikulation, die in Schreiben besonders deutlich ausgeprägt auftreten: in Anlehnung an Pierre Boulez eine pulsierende (›eingekerbte‹) und eine amorphe (›glatte‹) Zeitartikulation als extreme Pole[20], sowie außerdem eine koordinierte Zeitartikulation. Eine pulsierende Zeitartikulation lässt einen mehr oder weniger durchgehenden regelmäßigen Puls erkennen, während eine amorphe Zeitartikulation keine metrische Orientierung bietet, d.h. die jeweilige Positionierung und Dauer von Klangereignissen im musikalischen Zeitverlauf ist für die Rezipientin hier meist unvoraushörbar. Im Falle der koordinierten Zeitartikulation sind einzelne Spielaktionen so aufeinander abgestimmt, dass der Eindruck eines ›Interagierens‹ bzw. einer gegenseitigen Bezugnahme der einzelnen Klangereignisse als ›handelnde Subjekte‹ entsteht. Mit diesen drei basalen Typen der musikalischen Zeitartikulation korrespondieren drei verschiedene Modi der musikalischen Zeiterfahrung: Während eine amorphe Zeitartikulation eher ein Präsenzhören hervorruft[21], in dem die Phänomenalität des jeweiligen Klangs bzw. Klangereignisses im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, bewirkt die pulsierende Zeitartikulation tendenziell ein prozessuales Hören, das nicht unbedingt teleologisch gerichtet sein muss, aber stärker auf die globale Entwicklung des musikalischen Verlaufs achtet als auf einzelne Klangereignisse und ihre Transformationen. Die koordinierte Zeitartikulation schließlich bewirkt ein beziehendes Hören, das sowohl retro- als auch prospektiv Beziehungen zwischen einzelnen Klangereignissen herstellt. Im Unterschied zum Konzept eines vermeintlich objektiven ›strukturellen Hörens‹ betont der Begriff des beziehenden Hörens dabei die eigenständige Interpretationsleistung der Rezipientin.

Eine der größten analytischen bzw. methodischen Herausforderungen in Bezug auf die Analyse neuer Musik ist die Frage, wie Klang begrifflich gefasst und in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen differenziert werden kann. Einflussreiche systematische Klangtypologien bzw. -morphologien wurden von Pierre Schaeffer[22] und von Lachenmann selbst[23] entworfen. Ich knüpfe hier in terminologischer Hinsicht u.a. an die von Christian Utz gemeinsam mit Dieter Kleinrath entwickelte morphosyntaktische Systematisierung von Klangorganisation in posttonaler Instrumentalmusik an:[24] Die Autoren unterscheiden dabei zunächst auf einer basalen Ebene mehr oder weniger eindeutig unterscheidbare Klangereignisse sowie Klangfolgen (Sukzession distinkter Klangereignisse) und Klangtransformationen (metamorphosenartige Verwandlungen nicht klar abgrenzbarer Klangereignisse); alle drei Kategorien sind auf unterschiedliche mikro- und makroformale Maßstäbe anwendbar.[25] Beziehungen zwischen einzelnen Klängen bzw. Klangereignissen können mithilfe von ›Familienähnlichkeiten‹ (Ludwig Wittgenstein) hergestellt werden.[26] Markus Neuwirth hat in diesem Zusammenhang den hilfreichen Begriff der ›kategorialen Transformation‹ eingeführt, der sich auf fließende Übergänge zwischen einzelnen Familien bzw. die Ausdehnung der kategorialen Grenzen einer Familie bezieht.[27] Auf einer mikroformalen Ebene verwende ich außerdem den Begriff Klangkomponente: Unter Klangkomponenten verstehe ich Aspekte eines Klangs, d.h. Klangeigenschaften, die in einem bestimmten Kontext für die Wahrnehmung in besonderer Weise hervortreten. Auch Lachenmann benutzt anlässlich der Erläuterung, wie ein Strukturklang im Prozess der ästhetischen Erfahrung im Einzelnen ›abgetastet‹ wird, den Ausdruck ›Klangkomponente‹:

Jener Terminus Strukturklang, den ich – in Umstellung des Wortes Klangstruktur – hier eingeführt habe, geht von einer Klangvorstellung aus, die – eben als mehrdimensionales Gefüge von Anordnungen – sich nicht als platter akustischer Reiz schnell mitteilt, sondern sich vielmehr erst allmählich erschließt in einem vielschichtigen, vieldeutigen Abtastprozeß an der vorübergehenden Konstruktion mit ihren charakteristisch aufeinander bezogenen Klangkomponenten.[28]

In Bezug auf eine in ›Echtzeit‹ stattfindende Höranalyse (die in der Regel ein mehrmaliges, aufmerksames Hören voraussetzt) auf einer mittleren formalen Ebene verwende ich den Begriff Klangkonstellation: Eine Klangkonstellation ist eine sich im Prozess der ästhetischen Erfahrung bildende Konstellation von einzelnen Klängen, Klangereignissen und Klangfolgen zu einer als zusammengehörig erlebten musikalischen Einheit. Zwar ist der Begriff grundsätzlich übertragbar auf verschiedene mikro- und makroformale Maßstäbe, jedoch geht es mir hier in erster Linie um dasjenige ›Zeitfenster‹ bzw. ›Zeitfeld‹ (Husserl), das im Prozess der ästhetischen Erfahrung jeweils als Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft präsent ist: d.h. die unmittelbare, im Bewusstsein noch lebendige Vergangenheit (nach Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins auch »Retention« als »primäre Erinnerung« im Unterschied zur »sekundären Erinnerung« bzw. Vergegenwärtigung von Vergangenem), die jeweilige Gegenwart im Sinne von aufeinanderfolgenden Jetzt-Zeitpunkten (»Urimpression«) und das ›Voraushören‹ auf das Kommende (»Protention« als »primäre Erwartung«).[29] Mich interessiert hier vorrangig das Verhältnis von Gegenwart und noch gegenwärtiger Vergangenheit, deren Wahrnehmung bzw. Verständnis durch den kontinuierlichen Zeitfluss retrospektiv beeinflusst wird. Klangkonstellationen fügen sich dabei nicht zu in sich geschlossenen, eindeutig bestimmbaren Gestalten, sondern sind in ihrer Abgrenzung grundsätzlich offen und vieldeutig; die jeweiligen Kriterien für eine Abgrenzung sind daher stark kontextabhängig. Die hier vorgestellten analytischen Begriffe beziehen die Wahrnehmungsperspektive von vornherein mit ein, insofern sie solche im Prozess der ästhetischen Erfahrung stattfindenden formkonstituierenden Abgrenzungen und Zusammenhangbildungen auf unterschiedlichen mikro- und makroformalen Ebenen explizieren.

Neben vorrangig strukturell orientierten Analysezugängen zu Lachenmanns Musik[30] liegen inzwischen auch einige explizit vom Klang ausgehende Analyseansätze vor: In Bezug auf Orchesterkompostionen Lachenmanns sind hier die Studien von Emmanouil Vlitakis (zu Tableau. Stück für Orchester, 1988–89)[31] und Marcos Mesquita (zu Staub. Für Orchester, 1985/87)[32] hervorzuheben. Auch Matthias Hermann geht in seiner Analyse von Schreiben von einer Klangphänomenologie aus, dabei unterscheidet er vier Kategorien bzw. Ebenen: tonlose Klänge, Tonhöhen, Impulse und perforierte geräuschhafte Klänge.[33] Anknüpfend an die phänomenologische Klangtypologie von Vlitakis und Hermann differenziere ich in Bezug auf das Klangresultat folgende Klangtypen oder ›Familien‹, die je nach Kontext auch eine formbildende Funktion übernehmen können:

1) Tenuto-Klänge (kontinuierliche Klänge);
2) Perforierte Klänge (kontinuierlich fortgeführte Klänge, die aber in sich unterbrochen sind);
3) Impulsklänge ohne Resonanz (secco/abgedämpft);
4) Impulsklänge mit Resonanz (natürliche und ›künstliche‹ Resonanzen).

Ein zweites ›Raster‹ lässt sich über diese vier grundlegenden Klangtypen legen, ebenfalls ausgehend vom Klangresultat:

a) geräuschhaft (die Tonhöhenwahrnehmung spielt keine entscheidende Rolle für die Klangwahrnehmung);
b) ›schattenhafte‹[34] bzw. unbestimmte Tonhöhe (zwischen geräuschhaft und tonhaft: entweder schimmert eine bestimmte Tonhöhe schemenhaft durch wie bei Flautando-Spielweisen oder die Wahrnehmung registriert zwar einzelne Tonhöhen, erkennt aber keine bestimmte Tonhöhe im Sinne einer Verschmelzung von Partialtönen, so etwa bei Beckenklängen);
c) tonhaft (bestimmte Tonhöhe deutlich erkennbar).

Diese Klangresultate können durch ganz unterschiedliche Spieltechniken und über Instrumentengruppengrenzen hinweg hervorgebracht werden. Innerhalb dieser Klangtypen erzeugen die unterschiedlichen Spieltechniken verschiedene Varianten oder ›Familien-Glieder‹: So führen beispielsweise die in Schreiben vorkommenden drei unterschiedlichen Varianten von tonlosem Spiel sowie die fünf verschiedenen Flautando-Spielweisen bzw. Kombinationen aus diesen Spieltechniken in den Streichern zu unterschiedlichen ›Rausch‹-Varianten (geräuschhafte und schattenhafte Tenuto-Klänge). Da Lachenmann in Schreiben meist verschiedene Spieltechniken miteinander kombiniert, kommt es häufig zu komplexen Klangmischungen, deren einzelne Klangkomponenten für die Wahrnehmung kaum differenzierbar sind.

Analyse

Aspekt 1: Zwischen Diskontinuität und Kontinuität: Übergänge zwischen den sechs großen Formteilen

Ein naheliegender erster analytischer Zugang, ausgehend von der Hörerfahrung, ist eine Segmentierung des musikalischen Zeitverlaufs. Auf einer makroformalen Ebene orientiert sich hier die Wahrnehmung vermutlich vorrangig an besonders markanten Ereignissen an der klanglichen Oberfläche, die mehr oder weniger deutlich einen Kontrast zum Vorausgehenden erzeugen und dabei zugleich eine nachhaltige Veränderung bewirken.[35] Kontrastwirkungen entstehen in Schreiben nicht in erster Linie durch vollständige vertikale Einschnitte im musikalischen Zeitverlauf, sondern häufig durch Ausfilterung und Überlagerung – welche entweder abrupt oder sukzessiv innerhalb eines kürzeren Zeitrahmens stattfinden, wobei bereits vorhandenes Material weiter fortgeführt wird – sowie durch kontinuierliche Transformationsprozesse wie Auflösungs- und Verdichtungsprozesse, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. In Hinblick auf die makroformale Entwicklung von Schreiben unterscheide ich ausgehend von den genannten Kriterien sechs große Formteile, die sich durch überwiegend diskontinuierliche Übergänge, welche mit einer radikalen Reduktion von Textur bzw. Klangraum und Dynamik einhergehen, voneinander abgrenzen lassen (Tab. 1):[36]

Takt 1–110: ›Prolog‹ und Entwicklung
Takt 111–241: (überwiegend) pulsierende Zeit
Takt 242–271p: amorphe Zeit (Zähltakte)
Takt 271q–339: Steigerungspartie
Takt 339/40–386: pulsierende Zeit
Takt 387–438: ›Epilog‹.

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Tabelle 1: Helmut Lachenmann, Schreiben, Synoptische Darstellung der Formteile und Tempoabschnitte[37]

Eine nähere Betrachtung der Übergänge zwischen den von mir unterschiedenen großen Formteilen zeigt, dass selbst an diesen überwiegend diskontinuierlichen Übergängen mit starker Kontrastwirkung die einzelnen Formteile durch unterschiedliche kompositorische Strategien subtil miteinander verknüpft sind und dementsprechend die Wahrnehmung zum Teil mit formal vieldeutigen Situationen konfrontiert wird. Exemplarisch für das Verhältnis von Diskontinuität und Kontinuität greife ich hier die Übergänge zwischen den Formteilen 1 und 2 sowie 2 und 3 heraus.

Der erste große Formteil, den ich weiter unten unter dem zweiten Aspekt genauer analysiere, beginnt mit überwiegend geräuschhaften und schattenhaften Klängen, wobei ab Takt 79ff. (Phase 1d, siehe unten, Aspekt 2) eine Entwicklung hin zu tonhaften perforierten und tonhaften Tenuto-Klängen, einhergehend mit einer deutlichen Zunahme der Gesamt-Dynamik stattfindet. Für den ersten großformalen Übergang (Bsp. 1/Audiobsp. 1) greife ich die beiden prägnanten Klangkonstellationen jeweils vor und nach der Tempoangabe in Takt 111 (l’istesso tempo, Viertel = 92 ca.) heraus, die nach meiner Analyse mit einem großformalen Einschnitt zusammenfällt: Die letzte Klangkonstellation vor dem neuen Formteil beginnt in Takt 103/104 mit Plektrumspiel auf der Saitenumwicklung im Klavier, das einen geräuschhaften perforierten Klang erzeugt, sowie mit gepresstem Bogenspiel in den Streichern, das zu der Variante mit gleichzeitiger Bogenverlagerung gehört, sodass als Klangresultat ein »ratterndes Glissando«[38] in Abwärtsrichtung entsteht. In diese geräuschhafte Klangkulisse hinein spielen die Blechbläser in den Takten 105 bis 107 eine Art grotesk verzerrten passus duriusculus[39] – der zugleich eine klangliche Reminiszenz an den noch näher zu beschreibenden ›Tremolo-Orgelpunkt‹ in den Takten 26 bis 52 darstellt – als verfremdetes quasi-tonales Residuum. Exemplarisch für Lachenmanns dialektischen Umgang mit quasi-tonalen Residuen soll kurz näher darauf eingegangen werden, was hier genau passiert: Posaunen und Tuben spielen con sordino einen chromatischen Abgang (den passus duriusculus), wobei die Bassstimme in den Tuben den Tritonus B1-E1 hinabschreitet und die Posaunen darüber jeweils ›Dominantseptakkorde‹ in weiter Septlage als Mixturen ergänzen (im Glissando und mit Flatterzunge gespielt). Die Trompeten fügen zunächst im Unisono eine sich wiederholende Vierton-Figur im Sechzehntelrhythmus hinzu (ebenfalls con sordino und mit Flatterzunge), erst aufwärts (jeweils ein, zwei bzw. drei Halbtonschritte) in Gegenbewegung zum chromatischen Abgang, dann in Umkehrung und somit in Parallelbewegung zum chromatischen Abgang; die Hörner ergänzen mit versetzten Einsätzen crescendierende gestopfte Liegetöne jeweils im Halbtonabstand. Aus der Wahrnehmungsperspektive sind weniger die beschriebenen Intervallverhältnisse im Einzelnen durchhörbar; relevant sind vielmehr die Kontur bzw. Bewegungsrichtung des chromatischen Abgangs und die mit diesem koordinierte Gegen- und Parallelbewegung in den Trompeten sowie eine durch die Mixturklänge mit ihrer jeweils tonalen Akkordstruktur (›Dominantseptakkord‹) entstehende tonale Färbung, die aber durch die Spielweisen bzw. die daraus resultierenden Klangcharakteristika zugleich verfremdet wird. In Takt 107 überdeckt ein markantes Einzelereignis, ein mit dem rechten und linken Arm als Impulsklang ausgeführter Cluster auf weißen und schwarzen Tasten im ersten Klavier, das Ende des passus duriusculus und beendet damit die hier besprochene erste Klangkonstellation sowie zugleich den gesamten ersten Formteil (es handelt sich hierbei um den einzigen tonhaften Klaviereinsatz innerhalb des ersten Formteils). Durch die mit dem Ende des Klavier-Clusters einhergehende plötzliche Ausfilterung auf Takt 107.3 tritt für die Wahrnehmung nun der vorher verdeckte Mischklang in den Streichern hervor, der sich aus geräuschhaften perforierten, tonhaften perforierten und tonhaften Tenuto-Klangkomponenten zusammensetzt (gepresstes Bogenspiel in den Violinen, Ordinario-Spiel mit und ohne Tremolo auf der leeren c-Saite in den Bratschen und Flageolett-Akkorde in den geteilten Kontrabässen). Der Liegeton c in den Bratschen bildet den eigentlichen Übergang zum folgenden Formteil: In den Takten 109 bis 110 bleibt er allein übrig, sodass insgesamt eine radikale Klangreduktion stattfindet und sich die Aufmerksamkeit voll und ganz auf seine perforierten und Tenuto-Klangkomponenten richtet.

Mit Beginn des neuen Formteils in Takt 111 initiieren die Bratschen eine sich von unten nach oben auftürmende Klangkaskade mit gestaffelten Höhepunkten (unter Beteiligung aller Instrumentengruppen bis auf das Schlagzeug). Dabei greifen Streicher und Klavier u.a. Varianten der zuvor in den Trompeten gespielten Vierton-Figur als nun deutlich erkennbare pulsierende Zweiunddreißigstel-Figuren auf, in Takt 114 ereignet sich ein erster Höhepunkt (hohe Liegetöne bzw. Tremoli lösen die Zweiunddreißigstel-Figuren ab), insgesamt vier einzelne, sehr laute Hammerschläge auf die Flügelrahmen folgen als weitere Höhepunkte in den Takten 115 und 116; die anschwellenden Liegetöne in den Blechbläsern reißen in Takt 117 abrupt ab und verschaffen dadurch dem bereits liegenden Flageolett-Cluster in den Streichern mehr klangliche Präsenz (mit dieser Ausfilterung endet die zweite Klangkonstellation dieses Übergangs).

Durch den massiven Klangeinbruch in den Takten 107/108 bis 110 und die in Takt 111 einsetzende, überwiegend tonhafte sowie rhythmisch pulsierende Klangkaskade ist der Beginn des neuen Formteils einerseits sehr deutlich markiert, sodass zunächst der Eindruck einer bloßen kontrastierenden Reihung der Formteile entsteht. Andererseits bestehen selbst hier subtile Verbindungen, welche eine Vernetzung bzw. Kontinuität zwischen den Formteilen herstellen: Die Bratschen antizipieren zuerst mit der Tremolo-Klangkomponente des Liegetons c eine pulsierende Zeitartikulation und lösen dann die Klangkaskade mit einer zuvor bereits eingeführten Vierton-Figur in nun doppelt so schnellem Rhythmus aus – wobei letztere Verbindung eher auf der Ebene von strukturellen Beziehungen zu verorten ist, die sich ohne Partiturkenntnis nicht unmittelbar erschließt. In einem größeren Zusammenhang betrachtet bereitet der schon ab Takt 79 einsetzende Verdichtungsprozess hin zu mehr Tonhaftigkeit den tonhöhenbestimmten Beginn des neuen Formteils vor.

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Beispiel 1: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 105–113, Übergang von Formteil 1 zu 2 (vgl. Audiobsp. 1, 0:07–0:30); © 2017 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Audiobeispiel 1: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 103–117
(SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, KAIROS 0013342KAI 2014, Aufnahme 25.2.2006, 5:55–6:39)

Dem dritten großen Formteil, der mit den ›Zähltakten‹ in Takt 242 beginnt, geht ein längerer Auflösungsprozess voraus: In Takt 181ff. (Tempoabschnitt 3.1) legen sich zunächst regelmäßig pulsierende, pizzikatoartige Spielaktionen mit dem Fingernagel bzw. Koto-Plektrum auf den tiefsten Klaviersaiten als rhythmisches Raster und neue Klangschicht über die gesamte übrige Klangtextur. Ab Takt 219 deutlich wahrnehmbar werden dann Auflösungsprozesse auf mehreren Ebenen eingeleitet, die mit Beginn von Tempoabschnitt 3.2 (T. 235–241) vollständig abgeschlossen sind (Bsp. 2 / Audiobsp. 2). Insbesondere die Spielaktionen in den beiden Klavieren, die sich vorher zu einem mehr oder weniger durchgehenden Sechzehntelpuls komplementär ergänzt hatten, werden unregelmäßiger und münden in Takt 225 in ein amorphes Zeitfeld, das von verschiedenen pizzikatoartigen Impulsklängen mit und ohne Resonanz geprägt ist (äußerst spitze Bläserstaccati, Flageolett-Pizzikati in den Streichern, abgedämpfte Beckenschläge, vereinzelte pizzikatoartige Spielaktionen im Klavier). In dem nun folgenden kurzen ›Rausch-Intermezzo‹ des Tempoabschnitts 3.2 (T. 235–241) ist das klangliche Geschehen auf ein quasi statisches, tonloses Rauschen reduziert, hervorgerufen durch tonloses Spiel in den Streichern und durchsetzt von einzelnen abgedämpften Beckenschlägen im pp. Der Übergang zwischen noch fortdauerndem Auflösungsprozess und schließlich erreichter Reduktionsstufe in Takt 235ff. ist in der Partitur deutlich erkennbar, ereignet sich für die Wahrnehmung jedoch unterschwellig (Bsp. 2): So ist beim Blick in die Partitur auffallend, dass das tonlose Rauschen in den Streichern bereits ab Takt 230 sukzessive von oben nach unten eingeführt wird, sodass mit Beginn von Takt 235 alle Streicher arco sul sordino spielen; für die Wahrnehmung tritt das tonlose Rauschen aber erst mit dem Ende der pizzikatoartigen Impulsklänge in den Streichern und im Klavier deutlich hervor. Dieses tonlose Rauschen wird nun kontinuierlich transformiert – zunächst in Takt 240 in den Bratschen in eine schattenhafte und mit Beginn von Zähltakt 1 auch zugleich dynamischere Rausch-Variante (Flautando-Spiel am Grifffinger bzw. Flautando-Bogenverlagerung zwischen Grifffinger und Steg) – und bildet bis zum Ende von Zähltakt 2 (T. 245e) eine kontinuierliche, mehr oder weniger deutlich wahrnehmbare Hintergrundklangschicht. Mit Beginn von Zähltakt 1 (T. 242a–c), der nach meiner Analyse den dritten großen Formteil (amorphe Zeit) eröffnet, wird die sich transformierende Klangschicht des Rauschens zugleich von den verstreuten, unvorhersehbaren Einsätzen pizzikatoartiger Impuls- und kurzer Tenuto-Klänge in allen Instrumentengruppen überlagert. Zähltakt 1 lässt sich insgesamt als eine Art Pizzikato-Feld beschreiben: Die übrigen Streicher spielen neben vereinzelten Arco-Spielaktionen verschiedene Pizzikato-Varianten, und in den Trompeten und Flöten erzeugen Schläge auf das Mundstück pizzikatoartige Impulsklänge ohne Resonanz (»quasi ›pizz.‹«). Dieses Pizzikato-Feld stellt einen Rückbezug zu dem amorphen Zeitfeld her, das dem ›Rausch-Intermezzo‹ (3.2) vorherging (T. 225ff.). So bestehen also trotz des deutlich markierten formalen Einschnitts auch abgesehen von der kontinuierlich fortgeführten Hintergrundklangschicht in den Bratschen Rückbezüge auf zuvor Erklungenes im Sinne einer wiederanknüpfenden Vernetzung.

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Beispiel 2: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 230–238, Ende des Auflösungsprozesses vor Beginn des ›Rausch-Intermezzos‹ (T. 235–241) (vgl. Audiobsp. 2, 0:24–0:49);
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Audiobeispiel 2: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 219–242c, Übergang von Formteil 2 zu 3
(SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, KAIROS 0013342KAI 2014, Aufnahme 25.2.2006, 10:43–12:04)

Die detaillierte Analyse hat exemplarisch gezeigt, dass die großformalen Übergänge in Schreiben in unterschiedlicher Art und Weise durch ein komplexes Zusammenspiel von Diskontinuität (durch kontrastierende Reihung, Überlagerung und Ausfilterung), Kontinuität (durch Fortführung bzw. Transformation kontinuierlicher Klangschichten sowie durch kontinuierliche Auflösungs- und Verdichtungsprozesse) und Vernetzung (durch strukturelle Beziehungen, Wiederanknüpfungen an Vorhergehendes bzw. klangliche Reminiszenzen) gekennzeichnet sind. Serielle, prozessuale und strukturelle Formprinzipien greifen hier in jeweils unterschiedlicher Gewichtung ineinander, was eine entsprechend multiperspektivische Formwahrnehmung bewirkt. An allen fünf großformalen Übergängen findet eine vorhergehende Reduktion von Textur bzw. Klangraum und Dynamik statt, die den Neueinsatz von Klang als Differenz von Stille und Klang erleben lässt. Dabei spielen insbesondere Varianten von ›Schreib‹-Klängen bzw. Reduktionen auf kontinuierliche Klangschichten oder Tenuto-Klänge in den Streichern (hier leere c-Saite bzw. tonloses Rauschen) eine zentrale Rolle. Die Reduktion auf die Klangfamilie der ›Schreib‹-Klänge bzw. des ›Rauschens‹ übernimmt in Schreiben je nach Kontext eine formbildende Funktion: Wenn der thematische Akt des Schreibens u.a. mit einer Reflexion auf den Prozess der Klangentstehung einhergeht, so lassen sich die klanglichen Reduktionen auf zum Teil an der Hörschwelle verortete ›Schreib‹- bzw. ›Rausch‹-Klänge als Momente der Rückbesinnung auf das dem Klang Vorausliegende und ihn erst Ermöglichende begreifen: die Stille, die allerdings nicht tatsächlich ›erklingt‹ und vor deren Hintergrund ein neuer klanglicher Prozess seinen Anfang nehmen kann.

Aspekt 2: Spiel mit Vorder- und Hintergrund

Der erste Formteil (T. 1–110) lässt sich in vier Phasen gliedern, welche überwiegend kontinuierlich ineinander übergehen:

Phase 1a (T. 1–26/27): ›Prolog‹
Phase 1b (T. 26/27–48 bzw. 52.1): Orgelpunkt
Phase 1c (T. 49 bzw. 52.2–T. 78): Rauschen
Phase 1d (T. 79–110): Entwicklung.

Mein analytischer Fokus liegt auf den ersten drei Phasen, in denen eine sich kontinuierlich durchziehende Klangschicht in den Streichern Gegenstand von ›inneren‹ und ›äußeren‹ Klangtransformationen ist.

Phase 1a (›Prolog‹) ist vor allem durch geräuschhafte und schattenhafte Klänge geprägt; tonhafte Klänge treten nur vereinzelt auf, und wenn, dann so durch Spielanweisungen modifiziert oder durch andere Klänge kontextualisiert, dass sie auch eher als schattenhaft wahrgenommen werden (vgl. Bsp. 3, Vc. 1–4). Ab Takt 8 bildet das überwiegend geräuschhafte Rauschen in den Streichern eine kontinuierliche Klangschicht, die durch subtile Klangtransformationen sowie durch verschiedene Spielaktionen in anderen Instrumenten in ihren klanglichen Facetten beleuchtet wird. Ich analysiere innerhalb von Phase 1a sechs aufeinander folgende Klangkonstellationen, die sich zum Teil überlappen und durch unterschiedliche kompositorische Strategien horizontal miteinander verknüpft werden (etwa durch klangliche Reminiszenzen sowie durch verdeckte Einsätze bzw. Ausfilterungen von Klangschichten), sodass für die Wahrnehmung formal uneindeutige Situationen entstehen, in denen häufig eine retrospektive Neubewertung bzw. -einordnung des soeben Verklungenen stattfindet (Audiobsp. 3):

Klangkonstellation 1: Takt 1–7.1.1 (Tbe.) (Audiobsp. 3, 0:00–0:20)
Klangkonstellation 2: Takt 7.1.2–9.2 (0:20–0:31)
Klangkonstellation 3: Takt 8.3/9.3–14.4 (Klar.) (0:25/0:31–0:50)
Klangkonstellation 4: Takt 14.4 (Kb./Vc.) – 18/19 (Trp.) (0:50–ca. 1:03)
Klangkonstellation 5: Takt 18/19–22 (Becken) (ca. 1:03–1:18)
Klangkonstellation 6: Takt 22–27.1 (Vl.) (1:17–1:36)

Audiobeispiel 3: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 1–27 (= Phase 1a)
(SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, KAIROS 0013342KAI 2014, Aufnahme 25.2.2006, 0:00–1:36)

Exemplarisch skizziere ich kurz die ersten drei Klangkonstellationen:

Klangkonstellation 1: Das Stück beginnt mit einem koordinierten Zusammenspiel von schattenhaften perforierten Klängen in den Streichern (Vcl., Vle.), geräuschhaften Tenuto-Klängen in den Blechbläsern (außer Trp.) und tonhöhenunbestimmten Impulsklängen überwiegend ohne Resonanz in den Becken (»weich«). Dabei entsteht der Eindruck eines differenziert aufeinander abgestimmten Interagierens der verschiedenen Spielaktionen bzw. Klänge im Sinne einer koordinierten Zeitartikulation (Bsp. 3): durch Synchronisation der Einsätze (z.B. Vcl. 1–4 und Hrn. 1–2 sowie Vle. 1–4 und Pos., T. 1) sowie durch lückenlose Ablösung (z.B. geräuschhafte Tenuto-Klänge in den Blechbläsern, T. 1–4). So ereignet sich etwa der dynamische Höhepunkt der gesamten Klangkonstellation im Moment der Ablösung des »sphärischen Aufwärtsglissandos«[40] in den Bratschen durch ein geräuschhaftes sff bzw. ›f‹ (Aktionsdynamik) in den beiden Tuben (T. 3); retrospektiv betrachtet führt das ›sphärische Aufwärtsglissando‹ zielgenau zu dem sff- bzw. ›f‹-Ansatz dieses geräuschhaften Tenuto-Klangs.

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Beispiel 3: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 1–6 (ohne Schlagzeug) (vgl. Audiobsp. 3, 0:00–0:20),
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Klangkonstellation 2: Die zweite Klangkonstellation beginnt deutlich markiert mit einer synchronen ›phonetischen Aktion‹[41] ohne Instrument im Tutti (außer Klar.), wobei zeitgleich ein einzelner Beckenschlag (»l.v.«) erklingt, der eine subtile klangliche Verbindung zur ersten Klangkonstellation herstellt. Die zweite Klangkonstellation endet mit dem Ende einer Spielfigur in den Trompeten (T. 9.2). In den geräuschhaften Tenuto-Klang der phonetischen Aktion hinein setzt komplex rhythmisiertes ›tonloses Spiel‹ in den Klarinetten und später Trompeten ein; beides ruft eine schattenhafte Tonhöhenfärbung hervor.[42] Mit diesen schattenhaften Klangfolgen überlappend beginnt bereits in der Mitte von Takt 8 synchron das kontinuierliche Rauschen in den Streichern, das sich zu Beginn aus tonlosen und schattenhaften Klangkomponenten zusammensetzt. Allerdings ist die Wahrnehmung so auf die beweglichen, rhythmisch verschachtelten Spielfiguren in den Klarinetten und Trompeten fokussiert, dass der Einsatz des im Vergleich dazu statischen Rauschens bloß unterschwellig registriert wird und erst mit dem Ausfiltern der zuvor dominierenden Klangschicht retrospektiv bewusst wird.

Klangkonstellation 3: Je nach Perspektive beginnt die dritte Klangkonstellation entweder mit dem Einsatz des Streicher-Rauschens in der Mitte von Takt 8 oder erst in dem Augenblick, in dem das Rauschen alleine erklingt. Verschiedene Klangereignisse setzen Kontraste zum Rauschen: Von besonderer Bedeutung ist hier die flageoletthafte Tremolo-Figur in den Violinen (T. 11), da solche Tremolo-Figuren im weiteren Verlauf von Schreiben wiederholt auftreten. Geräuschhafte Tenuto-Klänge in den Blechbläsern und daran unmittelbar anknüpfende schattenhafte Klangfolgen in den Klarinetten zeichnen sich zwar insbesondere dynamisch deutlich gegenüber dem Rauschen in den Streichern ab, sind aber zugleich mit diesem klanglich verwandt (Familie der geräuschhaften bzw. schattenhaften Tenuto-Klänge). Das Rauschen in den Streichern wird selbst kontinuierlich transformiert: durch wechselnde Instrumentierung innerhalb der Streicher und/oder durch verschiedene Varianten von tonlosem Streichen.

In Phase 1b (›Orgelpunkt‹) wird die kontinuierliche Klangschicht des Rauschens von einer Art ›Tremolo-Orgelpunkt‹ in den Violoncelli und Kontrabässen ersetzt (Ausgangs-, zentrale Bezugs- und Schlusstonhöhe ist das Es). Der Übergang von Phase 1a zu Phase 1b lässt sich als eine ›kategoriale Transformation‹ beschreiben: Das kontinuierliche Rauschen überlappt sich mit dem ›vorgezogenen Einsatz‹ des Orgelpunkts in den Violoncelli in Takt 26, der mit einem einzelnen abgedämpften Beckenschlag synchronisiert ist. Dem Rauschen werden so weitere Klangkomponenten hinzugefügt (Tonhaftigkeit bzw. unbestimmte Tonhöhen, Perforiertheit, tendenziell pulsierende Zeitartikulation), die einen ›Kategorienwechsel‹ bewirken. Innerhalb der Klangschicht des Orgelpunkts selbst finden nun verschiedenartige Klangtransformationen statt, hervorgerufen durch Crescendi/Decrescendi, kontinuierliche Übergänge der Bogenkontaktstelle zwischen tasto und ponticello, wechselnde Instrumentierung innerhalb der jeweils acht Violoncelli und Kontrabässe, Modifikationen der zentralen Bezugstonhöhe Es durch Glissandi und Anlagerungen von zusätzlichen Tönen wie u.a. von kleinen Sekunden und mikrotonalen Schwebungen bis hin zu Clusterbildungen sowie Flautando-Spielweisen. Hinzu kommen ›von außen‹ die Wahrnehmung des Orgelpunkts beeinflussende Transformationen: Klangereignisse, die diesen überlagern und somit kurzfristig ganz in den Hintergrund treten lassen wie etwa der dichte Streichercluster in den Takten 30 und 31, Klänge, die mit dem Orgelpunkt zu einer neuen Klangmischung verschmelzen, und Klangereignisse, die sich zwar vom Orgelpunkt abheben, aber zugleich über ›Familienähnlichkeiten‹ bestimmte klangliche Aspekte des Orgelpunkts besonders hervortreten lassen. So wird etwa die perforierte Klangqualität des ›Tremolo-Orgelpunkts‹ durch in dieser Hinsicht klanglich verwandtes ›Blasen aus Entfernung‹[43] bzw. tonlose Flatterzunge in den Bläsern (T. 33ff.), gepresstes Bogenspiel in den übrigen Streichern (T. 40–41) oder Spiel mit dem Plektrum auf der Saitenumwicklung im Klavier (T. 44–45) für die Wahrnehmung hervorgehoben.

Unter formalen Gesichtspunkten bemerkenswert ist insbesondere das Ende des Orgelpunkts bzw. von Phase 1b (Bsp. 4 / Audiobsp. 4): Von Takt 42 bis 48 spielen die Kontrabässe 7 und 8 einen chromatischen Abgang (ebenfalls eine Art passus duriusculus) von Es1 bis C1, und in den Takten 46 bis 48 spielen die Violoncelli 5 bis 8 dazu ein ›sphärisches Aufwärtsglissando‹ im Tremolo, das aus einer komplexen Klangmischung aus geräuschhaften, schattenhaften und tonhaften perforierten Klängen hervorgeht. Dadurch entsteht eine Gegenbewegung zum chromatischen Bassgang und gleichzeitig eine Auffächerung des Orgelpunkts in einen verbreiterten Klangraum. Mit dem Ende von Takt 48 reißt der Klang abrupt ab und wird nach einer kurzen Zäsur quasi nahtlos von einer sehr homogenen und statischen Klangmischung abgelöst, sodass der Höreindruck eines Ziel- bzw. Endpunktes nach vorhergehender Steigerung entsteht; der Orgelpunkt ist allerdings noch nicht zu Ende, sondern wird in den Violoncelli 1 bis 4 über die Zäsur hinweg und kaum hörbar eingebettet in die Klangmischung kontinuierlich bis Takt 52.1 fortgeführt. Hier entsteht ein eindrucksvoller Moment von formaler Ambivalenz: Die Aufmerksamkeit ist so auf die Gegenbewegung zwischen ›sphärischem Aufwärtsglissando‹ und chromatischem Bassgang fokussiert, dass das plötzliche Abreißen dieser Klangschicht zunächst den Eindruck eines vollständigen vertikalen Schnitts im Zeitverlauf hervorruft, obwohl sich der Orgelpunkt kontinuierlich fortsetzt. Auch die auf die Zäsur folgende homogene Klangmischung aus geräuschhaften perforierten und tonhaften perforierten bzw. tonhaften Tenuto-Klangkomponenten – wobei die perforierten Klangkomponenten dominieren – integriert den Orgelpunkt so, dass dieser nicht differenziert heraushörbar ist. Erst mit dem Ende der Klangmischung (T. 52.1), das nun das zuvor verdeckte Flautando-Spiel in den Violinen freigibt, registriert die Rezipientin rückblickend, dass nun die kontinuierliche Klangschicht des Orgelpunkts tatsächlich beendet ist und von einem überwiegend schattenhaften Rauschen abgelöst wird (Phase 1c).

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Beispiel 4: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 40–54, Ende des ›Tremolo-Orgelpunkts‹, komplexer Mischklang am Übergang zu Phase 1c (vgl. Audiobsp. 4),
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Audiobeispiel 4: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 42–53
(SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, KAIROS 0013342KAI 2014, Aufnahme 25.2.2006, 2:32–3:16)

Im ersten Formteil wird das für das gesamte Stück formbildende Prinzip eines Spiels mit Vorder- und Hintergrund also besonders deutlich: Das komplexe Zusammenspiel von kontinuierlichen Klangschichten mit anderen Klangereignissen lässt beständig die Hierarchie zwischen Vorder- und Hintergrund oszillieren: Was vermeintlich nur Hintergrund ist, entpuppt sich immer wieder als eigentliche ›Hauptstimme‹, deren subtile Klangtransformationen die Aufmerksamkeit fesseln. Auch sich vor der kontinuierlichen Klangschicht des Rauschens bzw. des ›Tremolo-Orgelpunkts‹ deutlich abzeichnende Klangereignisse heben häufig in dieser Klangschicht bereits vorhandene Klangaspekte über ›Familienähnlichkeiten‹ für die Wahrnehmung nur deutlicher hervor, sodass sich auch hier nicht eindeutig von einer Hierarchie zwischen Vorder- und Hintergrund sprechen lässt. Und insbesondere komplexe Klangmischungen, die die kontinuierliche Klangschicht als Klangkomponente vollständig integrieren, heben eine eindeutige Differenzierbarkeit von Vorder- und Hintergrund auf.

Aspekt 3: Amorphe, koordinierte und pulsierende Zeit

Ein für die Formwahrnehmung von Schreiben wesentlicher Aspekt ist die jeweilige Art und Weise der Zeitartikulation, die bereits mehrfach thematisiert wurde: Insofern sowohl der abrupte Wechsel als auch der kontinuierliche Übergang zwischen den unterschiedlichen Typen der Zeitartikulation für die Wahrnehmung ein markantes Ereignis bzw. einen erkennbaren Transformationsprozess darstellt und eine über einen längeren Zeitraum andauernde homogene Zeitartikulation[44] eine Passage als zusammenhängend erleben lässt, hat die Art und Weise der Zeitartikulation erhebliche Auswirkungen auf die Formwahrnehmung insbesondere auf einer mittleren formalen und makroformalen Ebene.

Beispiele für Abschnitte mit einer sehr ausgeprägten pulsierenden Zeitartikulation sind insbesondere zwei umfangreichere Passagen, in denen Spielaktionen im Klavier eine zentrale Rolle spielen: In den Takten 181 bis 234 (Tempoabschnitt 3.1) überlagern die mit Fingernagel bzw. Koto-Plektrum ausgeführten pizzikatoartigen Spielaktionen auf den tiefsten Klaviersaiten als regelmäßiger Sechzehntelpuls die gesamte übrige Klangtextur. Den ab Takt 219 einsetzenden und bis zum Beginn des ›Rausch-Intermezzos‹ (T. 235ff.) abgeschlossenen Auflösungsprozess habe ich bereits in Zusammenhang mit dem Übergang zwischen dem zweiten und dem dritten großen Formteil näher beschrieben (vgl. Bsp. 2 / Audiobsp. 2). Die zweite größere pulsierende Passage ereignet sich von Takt 339.4 bis 373 und bestimmt den fünften großen Formteil, der mit einem kurzen Auflösungsprozess endet. Hier alternieren blockartige Akkorde in den Bläsern, in den beiden Klavieren sowie in den Streichern, die sich komplementär zu einem quasi durchgehenden Viertel-Puls ergänzen, wobei insbesondere die Bläser- und Klavierakkorde als markante Impulsklänge mit und ohne Resonanz hervorstechen. Durch dynamische Abstufungen, wechselnde Instrumentierung und Akkorddichte sind allerdings nicht alle ›Akkordblöcke‹ gleichermaßen markiert, sodass der Viertel-Puls an manchen Stellen bloß unterschwellig fortwirkt; zudem kommen amorphe Klangschichten hinzu, die mit dem regelmäßigen Puls teilweise ›konkurrieren‹.

Audiobeispiel 5: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 339–357, pulsierende Zeitartikulation in Formteil 5
(SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, KAIROS 0013342KAI 2014, Aufnahme 25.2.2006, 21:36–22:08)

Mit den sieben ›Zähltakten‹ (T. 242–271; dritter Formteil), die jeweils durch meist sehr kurze dirigierte Abschnitte untereinander verbunden sind, bringt Lachenmann ein Moment von zeitlichem Indeterminismus ins Spiel, das eine überwiegend amorphe Zeitartikulation verursacht. In den Zähltakten 4, 5 und 6 verwendet Lachenmann zusätzlich eine sogenannte ›Zeitfeld‹-Notation, die mithilfe von Klammern und horizontalen Balken einen Zeitrahmen markiert, innerhalb dessen der genaue Einsatzpunkt von impulshaften Spielaktionen unter Beibehaltung des jeweiligen Bezugstempos offen bleibt (vgl. Bsp. 5, Takt 256o, Streicher). Besonders deutlich wird die amorphe Zeitartikulation in der ›Posaunenkadenz‹ in Zähltakt 6 (T. 263a–q, Bsp. 5 / Audiobsp. 6), in der 1. und 2. Posaune jeweils in die elektrisch verstärkten Gehäuse der beiden Flügel spielen, sodass vielfältige Resonanzen hörbar werden, und die gleichsam das Zentrum der Zähltakte bildet, sowie in Zähltakt 7, der von Schreibaktionen im Schlagzeug und vereinzelten Impulsklängen mit (manipulierter) Resonanz im Klavier dominiert ist. Dabei prägt jedoch nicht der gesamte dritte Formteil gleichermaßen eine amorphe Zeitartikulation aus: So bilden etwa die dirigierten Takte 257 bis 262 in ihrer zeitlichen Organisation einen deutlichen Kontrast zum vorhergehenden ›Chaos‹ des Zähltakts 5 (T. 256a–o) sowie zur nachfolgenden ›Posaunenkadenz‹; sie stellen ein sehr ausgeprägtes Beispiel für eine koordinierte Zeitartikulation dar (Bsp. 5 / Audiobsp. 6). Zwei Klangkonstellationen lassen sich hier voneinander differenzieren: Die erste Klangkonstellation wird von einer crescendierenden tonhaften Tremolo-Figur in den Streichern (T. 257) ausgelöst, auf die jeweils in relativ kurzen Abständen vier verschiedenartige Impulsklänge folgen. Der letzte Impulsklang entsteht durch synchrone Hammerschläge auf die Flügelrahmen der beiden Klaviere, und in die durch das gehaltene Pedal verstärkte Resonanz der Hammerschläge hinein ereignet sich die zweite, kürzere Klangkonstellation, die sich aus drei unmittelbar auseinander hervorgehenden Klangereignissen zusammensetzt: ein kurzes metallisches Scharren im Tamtam, eine crescendierende tonhafte Tremolo-Figur in den Streichern und ein impulshafter Akkord mit Nachhall im Klavier. Der Ausklang dieses letzten Impulsklangs leitet zur ›Posaunenkadenz‹ (Zähltakt 6) über.

Abbildung

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Beispiel 5: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 256o–263d, koordinierte Zeitartikulation in den dirigierten Takten 257–262, ›amorphe‹ Zeitartikulation zu Beginn von Zähltakt 6 (›Posaunenkadenz‹; vgl. Audiobeispiel 6),
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Audiobeispiel 6: Helmut Lachenmann, Schreiben, T. 257 bis Anfang Zähltakt 6 (T. 263a–g)
(SWR Sinfonierorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, KAIROS 0013342KAI 2014, Aufnahme 25.2.2006, 14:50–15:31)

Obwohl bezogen auf das ganze Stück zumeist eher Mischformen von bzw. Wechsel zwischen verschiedenen Typen der Zeitartikulation auftreten, spielen insbesondere die Passagen, die einen bestimmten Typus besonders deutlich ausprägen, eine wichtige Rolle für die Zeiterfahrung – und damit für die Formwahrnehmung – im Sinne von Referenzpunkten: Durch das Hervortreten eines Typus wird die Rezipientin aufmerksam gemacht auf die in Schreiben wirkenden Arten der Zeitartikulation und die mit diesen korrespondierenden Modi der Zeiterfahrung. Dies hat auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung von hinsichtlich der Zeitartikulation nichthomogenen Passagen bzw. auf die Einordnung der verschiedenen Zeittypen: Was auf den ersten Eindruck amorph und vermeintlich ›chaotisch‹ wirken mag, kann sich im Wahrnehmungszusammenhang im Vergleich zu homogenen amorphen Passagen bzw. Klangschichten (z.B. Rauschen) als relativ koordiniert herausstellen, auch wenn ohne Partiturkenntnis die genaue kompositorische Realisierung der koordinierten Zeitartikulation nicht immer im Detail nachvollziehbar ist wie etwa zu Beginn des Stückes (vgl. Bsp. 3 / Audiobsp. 3).

Epilog

Lässt sich nun mithilfe der hier vorgestellten analytischen Beobachtungen resümierend so etwas wie ein ›immanentes Formgesetz‹ im Sinne eines zentralen kompositorischen Problems (Adorno) von Schreiben ausmachen? Als ein zentrales ›Formproblem‹ von Schreiben sehe ich den Balanceakt im Spannungsfeld zwischen Kontinuität, Diskontinuität und Vernetzung und damit zwischen prozessualer, serieller und struktureller Formkonzeption an. So konterkarieren auch bei deutlich markierten vertikalen Einschnitten, die nachhaltig etwas Neues auslösen, verschiedenartige kontinuierliche Verbindungen und strukturelle Vernetzungen im Sinne von Rückbezügen und Vorausnahmen eine bloß parataktische Aneinanderreihung der einzelnen Formteile. Ebenso wenig lässt sich die musikalische Form von Schreiben allein auf ein prozessuales Auseinanderhervorgehen oder auf ein strukturelles, quasi-räumliches Beziehungsnetz reduzieren. Diesen divergierenden kompositorischen Strategien (Kontinuität, Diskontinuität, Vernetzung) entsprechen unterschiedliche Hörperspektiven, die miteinander ›konkurrieren‹ bzw. sich gegenseitig ergänzen. Je eingehender die Beschäftigung mit dem Stück – hörend, lesend und analysierend –, desto mehr können sich die verschiedenen Hörperspektiven gegenseitig erhellen. Das Spiel mit und die Reflexion von unterschiedlichen Hörperspektiven sind dabei gleichsam in das Stück einkomponiert: Dies zeigt sich etwa am klanglichen Spiel mit Vorder- und Hintergrund, das besonders deutlich eine multiperspektivische, ›konstellative‹ Formwahrnehmung erfordert, sowie an den unterschiedlichen Typen der Zeitartikulation, die vor allem dort, wo sie in markanter Weise auftreten, verschiedene Modi der Zeiterfahrung bewusst machen.

Diese durch die musikalische Form von Schreiben potenziell ausgelöste Selbstreflexion der Wahrnehmung auf unterschiedliche Hörperspektiven und Modi der ästhetischen Zeiterfahrung geht (idealerweise) mit einer ›Befreiung der Wahrnehmung‹ aus soziokulturell bedingten Hörgewohnheiten und -kategorien einher:[45] Während beispielsweise amorphe Passagen bzw. Klangschichten wie das kontinuierliche Rauschen fast vergessen lassen, dass es sich hier um komponierte, d.h. intentional hergestellte Klänge handelt, bringen pulsierende und koordinierte Klangkonstellationen die in ihnen wirkende Intentionalität wiederum deutlich zu Bewusstsein. In diesem Kontext ermöglicht die Enthierarchisierung zwischen Geräuschklängen und Klängen mit bestimmten Tonhöhen eine grundsätzliche Erweiterung des Horizonts bzw. eine ›Befreiung der Wahrnehmung‹ aus kulturellen Konventionen, welche normativ festlegen, was als musikalisches Material gilt. Schreiben demonstriert in charakteristischer Weise, dass prinzipiell jede Art von Klang als musikalisches Material geeignet ist. Dies wird in Schreiben wie in Lachenmanns Musik generell auch dadurch besonders sinnfällig, dass die Integration von Geräuschklängen als musikalisches Material im Rahmen eines überwiegend traditionellen Instrumentariums sowie traditioneller Aufführungsformen stattfindet. Die spezifische kompositorische Realisierung und Kontextualisierung von vermeintlich unscheinbaren Geräuschklängen wie ›Schreib‹- bzw. ›Rausch‹-Klängen in Schreiben fordern die Rezipientin dazu auf, aufmerksam in ihre sinnliche Materialität hineinzuhören und auf ihre vielfältigen Bezüge zu anderen Klängen zu achten; die musikalische Form legt so das musikalische Potential dieser Geräuschklänge erst frei.

Zugleich zeigt sich an Schreiben – obwohl diese Musik auf einem weitgehend determinierten Partiturtext basiert – die in posttonaler Musik gegenüber tonal gebundener Musik aufgrund der Auflösung von das musikalische Einzelphänomen übergreifenden formalen Funktionen und Typen stärker hervortretende Unbestimmtheit und Offenheit in Hinblick auf die musikalische Form in exemplarischer Weise. Schreiben ist somit ein Beispiel für eine ›integrale Form‹ bzw. eine musique informelle im Sinne Adornos, die sich vom musikalischen Material ausgehend entwickelt: Musikalische Form ergibt sich hier gleichsam von ›unten her‹, nämlich aus einem subtilen Spiel mit Differenzen und Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Klangkomponenten:

Integrale Form stiege aus den spezifischen Tendenzen alles musikalisch Einzelnen auf. Nach der Liquidation der Typen kann sie einzig als eine von unten nach oben, nicht umgekehrt mehr geraten. Form im aktuellen Sinn ist die Totalität der musikalischen Erscheinung. Sie sprengt die engere temporale Bedeutung des üblichen Formbegriffs: nichts an der emanzipierten Musik, was nicht Träger der Form würde. Diese rückhaltlose Erweiterung des Formbegriffs entschädigt vielleicht für das, was er an vorgeordneter Allgemeinheit einbüßte. Weil keine Formen mehr sind, muß alles Form werden.[46]

Aus diesem vom Komponisten bereitgestellten ›Möglichkeitsraum‹ heraus aktualisiert die Rezipientin im Prozess der ästhetischen Erfahrung musikalische Form, etwa auf der Ebene von Klangkonstellationen, durch ein aktives In-Beziehung-setzen und Differenzieren von einzelnen Klangkomponenten, Klängen und Klangereignissen. Die vorliegende Analyse hat mithilfe einer konstellativen Form der analytischen Darstellung versucht, solche im Prozess der ästhetischen Erfahrung stattfindenden Aktualisierungen von musikalischer Form analytisch zu zeigen und damit intersubjektiv nachvollziehbar zu machen.

Anmerkungen

1

Der vorliegende Aufsatz ist eine Kurzfassung des Analyseteils zu Lachenmanns Schreiben aus meiner noch unveröffentlichten Dissertation, die ich 2016 an der Hochschule für Musik Freiburg i.Br. unter dem Titel Konstellationen. Form in neuer Musik und ästhetische Erfahrung im Ausgang von Adorno eingereicht habe und die voraussichtlich 2018 im Druck erscheinen wird.

2

Auf diesen Begriff kann im vorliegenden Rahmen nicht ausführlicher eingegangen werden. Das ›konstellative Denken‹ bildet bei Adorno meiner Auffassung nach das eigentliche Kernprinzip seiner Methode einer negativen Dialektik und prägt seine Schriften von seiner Antrittsvorlesung »Die Aktualität der Philosophie« von 1931 bis hin zur Ästhetischen Theorie (posthum 1970).

3

Zu den Erweiterungen gegenüber der ursprünglichen Fassung vgl. Hermann 2015, 181. Die Notenbeispiele wurden mir freundlicherweise aus der gegenwärtig in Vorbereitung befindlichen neu gesetzten Fassung der Partitur von Breitkopf & Härtel zur Verfügung gestellt, die gegenüber der Partitur von 2004 offenbar weitere Revisionen enthält; meiner Analyse liegt die Fassung von 2004 zugrunde.

4

Diesen Begriff verwendet Nonnenmann (2000) in seiner maßgeblichen Studie zu Lachenmanns frühen Orchesterwerken.

5

›Klang‹ verstehe ich hier als neutralen Oberbegriff, der sowohl Geräusche als auch Töne umfasst; im Kontext von Lachenmanns Kompositionsästhetik werden beide gleichermaßen als musikalisches Material behandelt.

6

Unter ›Klangfamilien‹ versteht Lachenmann Ähnlichkeits- bzw. Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Mechanismen der Klangproduktion auf unterschiedlichen Instrumenten einerseits sowie zwischen den daraus resultierenden Klängen bzw. Klangeigenschaften andererseits; vgl. Lachenmann 1978/2004, 36f., und Lachenmann 1990/2004, 88f.

7

Vgl. exemplarisch Adorno 1970, 156.

8

Vgl. Lachenmann 1969/2004 und 1970/2004.

9

Vgl. Lachenmann 2003.

10

Wie schon in Klangschatten – mein Saitenspiel (1972) sind in den ›Zähltakten‹ zeitliche Unschärfen mit einkalkuliert, da die einzelnen Spielaktionen nicht von einer Dirigentin koordiniert werden. Lachenmann appelliert hier an die Eigenverantwortung der ausführenden Musikerinnen: »Jeder Musiker soll vom Beginn des Zähltakts im zuvor geschlagenen Tempo für sich allein weiterzählen, nicht auf seine Mitspieler achten und seinen Part rhythmisch und klanglich in eigener Verantwortung ausführen« (Vorwort zur Partitur von Schreiben, Lachenmann 2004, 1).

11

Nonnenmann spricht in seiner Analyse von Schreiben auch von einem »Konkretismus des Schreibens« und fragt davon ausgehend nach »Gravuren des Realen« im Sinne einer expressiv-inhaltlichen Dimension (vgl. Nonnenmann 2015, bes. 143–145).

12

»Als Komponist aber frage ich: gibt es auch einen anderen Kausalitätszusammenhang, gibt es z.B. ein ›autonomes‹ Schreiben, eine sinn-freie Zeichengebung, durch entfesselte, losgelassene Fortbewegung der schreibenden Hand, wo der Schreibende seinem eigenen Schreiben nur noch staunend zusieht? Werden nicht in Japan Bilder, auch ›abstrakte‹, geschrieben???« (Lachenmann 2003)

13

Auf den Prozess der Klangentstehung sowie auf den Prozess des Ausklingens und Verklingens bezieht sich Lachenmann in seiner Klangtypologie insbesondere mit den Klangtypen ›Einschwing-‹ bzw. ›Ausschwingklang‹, die dem Typus ›Kadenzklang‹ untergeordnet sind; auf kontinuierliche Klangschichten und deren unterschiedliche Transformationen beziehen sich die Klangtypen ›Farbklang‹, ›Fluktuations-‹ und ›Texturklang‹, die gegenüber dem Typus ›Kadenzklang‹ eine Familie bilden (vgl. Lachenmann 1966/93/2004, 1–17).

14

Auf eine solche Bogen- oder Kreisform weist auch Nonnenmann (2015, 152–156) in seiner Analyse hin.

15

Zur Unterscheidung zwischen formalen Funktionen und Typen in tonaler Musik vgl. Caplin 2010, bes. 33; Caplin knüpft an die Formenlehren von Arnold Schönberg und Erwin Ratz an. Zur Auflösung von formalen Funktionen und Typen in posttonaler bzw. postserieller Musik vgl. Adorno 1966/78 und Ligeti 1966, 28–30.

16

Ein solcher Formbegriff ist prinzipiell nicht nur für ›werkmäßige‹ musikalische Phänomene relevant, sondern auch offen für ereignishafte bzw. situative musikalische Phänomene.

17

Vgl. Hermann 2015, 181–220, und Nonnenmann 2015. Während Hermanns analytischer Fokus auf der Darstellung kompositionstechnischer Strategien und musikalisch-struktureller Sachverhalte liegt (vgl. Hermann 2015, 221–225), geht Nonnenmann nur exemplarisch auf musikanalytische Details ein und diskutiert Schreiben vor allem im Kontext ästhetischer und hermeneutischer Fragestellungen.

18

Vgl. Lachenmann, 1966/93/2004, 17–20.

19

Laut Adorno (2001, 84) ist es Aufgabe von musikalischer Analyse, »eines Werkes inne[zu]werden als eines Kraftfeldes, das um ein Problem geordnet ist«, wobei hier mit ›Problem‹ das immanente ›Formgesetz‹ – Adorno spricht im gleichen Text auch von »Formapriori« (ebd., 77) – eines musikalischen Kunstwerks gemeint ist. Zum besonders in der Ästhetischen Theorie zentralen Begriff des ›Formgesetzes‹ vgl. exemplarisch Adorno 1970, 455 (Paralipomena): »Das Formgesetz eines Kunstwerks ist, daß alle seine Momente, und seine Einheit, organisiert sein müssen gemäß ihrer eigenen spezifischen Beschaffenheit.« Auf die zum Teil problematischen Prämissen seines Konzepts einer immanenten Kritik bzw. Analyse kann hier nicht näher eingegangen werden.

20

Vgl. Boulez 1963, 76–81.

21

Zum Begriff des Präsenzhörens vgl. Utz 2014, bes. 115–123.

22

Schaeffer 1966.

23

Lachenmann 1966/93/2004.

24

Vgl. bes. Utz 2013 und Utz/Kleinrath 2015. Den Begriff ›Klangorganisation‹ verstehen die Autoren dabei in einem sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetischen Sinne (vgl. Utz/Kleinrath 2015, 565–567).

25

Vgl. ebd., 570–573.

26

Markus Neuwirth stellt einen Bezug zwischen Lachenmanns Begriff der Klangfamilie und Wittgensteins Konzept der ›Familienähnlichkeit‹ her (2008, bes. 75–82). In diesem Zusammenhang ist Wittgensteins Aspektbegriff von großer Relevanz: Dieser bezieht sich auf die Struktur eines Wahrnehmungsgeschehens, in dem etwas als etwas wahrgenommen wird. Insbesondere in Hinblick auf Ähnlichkeitsbeziehungen tritt dieses Wahrnehmen-als deutlich hervor (vgl. Wittgenstein 2001, 1024–1059 [PU 193/518–214/553], bes. 1024 a3 [PU 193/518]). Aspekte sind mehr als bloße Objekteigenschaften, sie sind aber auch nicht von diesen gänzlich unabhängig; dem Aspektwahrnehmen eignet somit bereits in der sinnlichen Wahrnehmung selbst ein deutendes Moment, wobei das genaue Verhältnis von Wahrnehmung und Deutung bzw. Denken ein zentrales und nicht abschließend geklärtes Problem in Wittgensteins Überlegungen zum Aspektbegriff ist (vgl. ebd., 1030 a30 [PU 197/525] und 1057 a01 [PU 212/550]).

27

Vgl. Neuwirth 2008, 80.

28

Lachenmann 1985/2004, 123.

29

Vgl. Husserl 1928, 382–427, bes. § 8–13, § 16–17 und § 19 sowie 455–459.

30

Vgl. etwa Cavallotti 2005 und 2010.

31

Vlitakis 2008, 23–72. Vlitakis unterscheidet dabei hinsichtlich einer Klangtypologie grundsätzlich zwischen Fläche und Impuls: (1) Zur Fläche gehören a) ausgehaltene Klänge, b) punktuelle Klänge, die sich durch Repetition verbinden, und c) perkussive Klänge mit Resonanz; (2) Impulsklänge sind Klänge mit minimaler zeitlicher Ausdehnung, wobei Fläche und Impuls im Fall der Kategorien 1b und 1c ineinander übergehen können (vgl. ebd., 29).

32

Mesquita 2010. Mesquita geht dabei von einer vorrangig produktionsästhetisch orientierten Perspektive aus.

33

Vgl. Hermann 2015, 181–220.

34

Den Begriff ›Schattenklang‹ verwendet ebenfalls Hermann (2015, 184f.) mit Bezug auf Klänge, in denen der Geräuschanteil die Tonhöhe überdeckt. Mit Werktiteln wie Klangschatten – mein Saitenspiel (1972) und Schattentanz aus Ein Kinderspiel. Sieben kleine Stücke für Klavier (1980) spielt Lachenmann selbst auf die charakteristische ›Schattenhaftigkeit‹ von Klängen an, die hier etwa durch abgedämpfte Saiten bzw. die kompositorische Hervorhebung von Resonanzen erzielt wird.

35

Diese Überlegungen knüpfen lose an das Konzept der sogenannten ›cues‹ an, das in der musikpsychologischen Forschung in Bezug auf die mentale Repräsentation von musikalischer Form diskutiert wird, und mithilfe derer sich eine Rezipientin im musikalischen Zeitverlauf orientiert (vgl. Deliège 1989 sowie Deliège/Mélen 1997).

36

Hermann (2015, 219f.) unterteilt Schreiben in seiner Analyse in fünf große Phasen, die er folgendermaßen abgrenzt: 1. Phase (T. 1–180), 2. Phase (T. 181–241), 3. Phase (T. 242–271), 4. Phase (T. 272–332) und 5. Phase (T. 333–438). Der Beginn der pulsierenden Spielaktionen im Klavier in Takt 181 (Tempoabschnitt 3.1), die sowohl eine neu hinzukommende Klangschicht (Kontrast durch Überlagerung) als auch eine deutlich ausgeprägte pulsierende Zeitartikulation einführen, lässt sich ebenfalls als großformaler Einschnitt einordnen. Allerdings wird hier die übrige Textur sehr kontinuierlich fortgesetzt, sodass – anders als bei den anderen großformalen Einschnitten – keine vorhergehende Reduktion von Textur bzw. Klangraum und Dynamik stattfindet. Bei meiner analytischen Entscheidung für die Abgrenzung der großformalen Teile habe ich daher die jeweils vorhergehenden Reduktionen als wesentliches Kriterium mit einbezogen, sodass auch dem relativ kurzen fünften großen Formteil nach meiner Analyse eine Relevanz für die Formwahrnehmung zukommt.

37

Den zweiten und dritten Tempowechsel habe ich zu den Abschnitten 3.1 und 3.2, den fünften und sechsten Tempowechsel zu den Abschnitten 5.1 und 5.2 zusammengefasst, da die Abschnitte 3.2 und 5.1 jeweils nur kurze ›Intermezzi‹ darstellen (Abschnitt 3.2 als fortgesetzte Reduktionsstufe nach vorhergehendem Auflösungsprozess, Abschnitt 5.1 als Überleitung zu Abschnitt 5.2).

38

Vgl. das Vorwort zur Partitur von Schreiben (Lachenmann 2004, 13).

39

Auch Nonnenmann (2015, 148) spricht hier von einem »passus duriusculus« (Hervorhebung original).

40

Vgl. das Vorwort zur Partitur von Schreiben (Lachenmann 2004, 16).

41

Bei ›phonetischen Aktionen‹ sollen die Musikerinnen tonlose, stark behauchte Konsonanten mit unbestimmter oder bestimmter Vokal-Färbung äußern, in Takt 7 beispielsweise »HF«.

42

Lachenmann verwendet hier eine Griffnotation, deren Tonhöhe nicht mit der resultierenden schattenhaften Tonhöhe übereinstimmt; vgl. das Vorwort zur Partitur von Schreiben (Lachenmann 2004, 4).

43

Vgl. Hermann/Walczak 2013 unter ›Spieltechniken, Flöte‹.

44

Zur Unterscheidung zwischen einer »homogenen« und einer »nichthomogenen« Zeitorganisation vgl. Boulez 1963, 80.

45

Vgl. Lachenmann 1985/2004, 117f.

46

Adorno 1966/78, 624.

Literatur

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