Von der Matrix zur Geste
Analytische Betrachtungen zu Karlheinz Stockhausens Klavierstück V [1]
Majid Motavasseli
Der Aufbau serieller Werke aus klar determinierten Strukturen einerseits und freien kompositorischen Entscheidungen andererseits erschwert nicht nur deren ästhetische Bewertung, sondern auch deren Analyse. Um ein Werk serieller Musik möglichst in seiner Ganzheit zu betrachten, sind rein quantitative Methoden auf der Basis von Skizzen, Matrizen usw. nicht ausreichend, sondern sie bedürfen einer Ergänzung durch qualitativ gewichtete Reflexionen der Hörwahrnehmung, nicht zuletzt da der Höreindruck solcher Musik tendenziell nicht allein aus ihrer Notation bzw. Konstruktion abzuleiten ist. Das betrifft auch das Klavierstück V (1954) von Karlheinz Stockhausen, das von Fassung zu Fassung eine Verwandlung erfahren hat: von einer genau den Skizzenmaterialien entsprechenden und daraus konstruierten, gerüstartigen Ausarbeitung hin zu einer stark klangorientierten, expressiv-gestischen Komposition. Aus diesem Grund beleuchtet dieser Beitrag das Klavierstück V auf verschiedenen analytischen Ebenen. Neben einer quantitativen Untersuchung der ersten Fassung basierend auf Skizzenmaterial und einer Auseinandersetzung mit der Druckfassung des Stücks hinsichtlich Klangqualität und Umsetzung des kompositorischen Gerüsts wird das Stück hier ausgehend von einer strukturellen Analyse auch unter dem Aspekt der Hörwahrnehmung betrachtet, mit dem Ziel die Kluft zwischen Text und Klang, wie sie Ulrich Mosch 2004 dargelegt hat, zu überwinden.
The construction of serial works derived from both clearly defined structures and the composer’s deliberate decisions complicates both the process of their aesthetical assessment and their analysis. In order to examine a serial work as a whole, purely quantitative methods based on sketches, matrices etc. have proven insufficient and need to be complemented by qualitative reflections on auditory perception, not least since the auditory impression of such music may not be inferred solely from its notation or construction. This is also the case with Karlheinz Stockhausen’s Klavierstück V (1954). By way of going through multiple versions, the piece has been subject to a transformation from a narrowly sketch-based, highly determined compositional framework to a strongly sound-oriented, expressive, gesture-like composition. As a consequence, this article aims to throw light on Klavierstück V at different levels of analysis. It seeks to reconcile the gap between score and sound as described by Ulrich Mosch in 2004 and provides a structural analysis of the piece focused on the aspect of auditory perception, emerging from a quantitative analysis of the first version based on sketch material and an examination of the published version, which takes into account its sonoric qualities and the realisation of the conceptual framework.
1. Kompositionsgeschichtlicher Kontext
Betrachtet man die in der ersten Hälfte der 1950er Jahre entstandenen Werke Karlheinz Stockhausens, so ist ein eindeutiger Wandel in der Kompositionsmethode zu beobachten: von der Dodekaphonie in den Drei Liedern für Alt und Kammerorchester (1950) über punktuelle Komposition ab Kreuzspiel für Oboe, Bassklarinette und drei Schlagzeuger (1951) bis hin zur Gruppenkomposition, die ihre Perfektion nach mehreren Anwendungen in Gruppen für drei Orchester (1955–57) erfährt. Die erste Reihenkomposition Drei Lieder steht ganz in der Kompositionstradition der Zwölftonmusik. 1949 hört Stockhausen in Köln Arnold Schönbergs gesamtes Klavierwerk und liest Herbert Eimerts Atonale Musiklehre (1924). 1950 hört er einen Vortrag des Hauer-Schülers Hermann Heiß über Zwölftontechnik.[2] In Drei Lieder dient die Reihe als Basis für melodische und harmonische Elemente, die rhythmischen Variationen und Permutationen unterworfen sind.[3] Das Konstruktionsprinzip von Kreuzspiel, dem die Idee einer »Kreuzung von zeitlichen und räumlichen Vorgängen«[4] zugrunde liegt, ist dagegen »[b]eeinflußt durch Messiaens ›Mode de valeurs et d’intensités‹ und durch Goeyvaerts ›Sonate für 2 Klaviere‹«. Stockhausen bezeichnet es 1951 als eine der »ersten Kompositionen ›punktueller Musik‹.«[5]
Die Formulierung ›punktuelle Musik‹ fand auf einen 1952 bei den Darmstädter Ferienkursen gehaltenen Vortrag Eimerts hin weite Verbreitung. Hans Heinrich Eggebrecht hebt unter anderem hervor, dass der Ausdruck ›punktuelle Musik‹ sich auch direkt auf einen »Höreindruck der Isolierung der Töne«[6] bezieht. Im Hinblick auf »punktuelle serielle Musik« bezieht sich der Ausdruck ›punktuell‹ auf die Auswirkungen der seriellen Vorherbestimmtheit des Satzes auf den Einzelton »im Streben nach Gleichberechtigung, Widerspruchslosigkeit und Beziehungsreichtum seiner Eigenschaften.«[7] Stockhausen erklärt vor diesem Hintergrund 1952/53 Musik als Tonordnung, als ein »Aufgehen des Einzelnen im Ganzen«:
In einer totalen Ordnung ist alles Einzelne gleichberechtigt. Die Sinnhaftigkeit einer Ordnung gründet in der Widerspruchslosigkeit zwischen Einzelnem und dem Ganzen. Tonordnung meint also die Unterordnung von Tönen unter ein einheitliches Prinzip, das vorgestellt ist. Und: Widerspruchslosigkeit zwischen der Ordnung im Einzelnen und im Ganzen. […] Das Einzelne ist der Ton mit seinen vier Dimensionen: Dauer, Stärke, Höhe, Farbe.[8]
Die Blütezeit der seriellen Musik (zu welcher punktuelle Musik gezählt werden muss) konfrontiert die Komponisten mit dem Problem der Klangvorstellung: Wenn eine Komposition in ihrer Struktur durch ein vorherbestimmtes Schema fixiert wird, ist im Grunde genommen keines der Klangergebnisse direkte Konsequenz einer apriorischen kompositorischen Vorstellung:
Auf die unmittelbare Klangvorstellung kann man sich nicht mehr verlassen. Die Klangvorstellung ist durch alle Musik bestimmt, die man bisher gehört hat. […] Die Idee der neuen Form läßt sich aber nicht mit den Bedingungen des alten Materials vereinbaren. Also muß man ein neues Material suchen. […] Man wird sehr viele Klangexperimente und die dazu nötigen Studien machen müssen. Die annehmbaren Ergebnisse werden eine Klangvorstellung bilden, auf die man sich bei der Komposition dann wieder stützen kann.[9]
Ausschlaggebend ist hierbei allerdings nicht, wie vielleicht vermutet werden könnte, das Auffinden und die Verwendung von für sich genommen völlig neuen Klängen, sondern eine Individualisierung von Klangereignissen zu Elementen, die in ihrer Entstehungslogik klar werkspezifischen Prinzipien zuordenbar sind.
Prinzipiell geht es überhaupt nicht um die Verwendung ungewohnter, unbedingt neuer Klänge […], sondern darum, daß […] die Schallereignisse in einer Komposition integraler Bestandteil dieses und nur dieses Stücks sind und aus seinen Baugesetzen hervorgehen […].[10]
Neben Kreuzspiel entsprechen auch Schlagquartett, Punkte und das Klavierstück III (alle 1952) im Wesentlichen diesen Kompositionsidealen.[11]
Abgesehen von der punktuellen Technik wird noch eine zweite Kompositionsmethode ausschlaggebend für Stockhausen: die Gruppenkomposition. Der Komponist selbst schreibt dazu: »In den ›Klavierstücken I–IV‹ […] zeigt sich bereits ein Übergang von ›punktuellen‹ Strukturen (Stück IV) zu komplexen, höher organisierten Gestalten (Stück I); mit ihnen beginnt die sogenannte ›Gruppen-Komposition‹.«[12] Eine »Gruppe« ist hierbei – wie Stockhausen 1955 erläutert – »eine bestimmte Anzahl von Tönen […], die durch verwandte Proportionen zu einer übergeordneten Erlebnisqualität verbunden sind«[13].
Hierzu ist allerdings anzumerken, dass die Klavierstücke in der Reihenfolge III-II-I-IV entstanden sind[14], Stockhausens Beschreibung eines Übergangs von punktueller (Klavierstück IV) zu Gruppenkomposition (Klavierstück I) benennt also nicht unbedingt eine kompositionsgeschichtliche Kontinuität. Das Klavierstück IV ist darüber hinaus als Sonderfall zu betrachten, da die »Tonpunkte« des Stücks hier »durch einzelne gleichbleibende Merkmale zu Gruppen (und Schichten) zusammengefaßt werden (z.B. durch gleichbleibende Lautstärken oder Bewegungsrichtung)«[15].
Den Begriff ›Gruppen‹ in dieser besonderen Bedeutung benutzt Stockhausen erstmalig 1953[16], also zwei Jahre vor dem Verfassen des mit »Gruppenkomposition« überschriebenen Radiovortrags, der eine »Anleitung zum Hören« seines Klavierstück I (1955) enthält.[17] 1953 hält der Komponist bei den Darmstädter Ferienkursen einen analytischen Vortrag über Anton Weberns Konzert für 9 Instrumente op. 24. In diesem Vortrag verwendet er in Bezug auf Weberns Konzert den Ausdruck ›Gruppe‹ »im Sinne einer beliebigen Zusammenfassung gleicher musikalischer Elemente«:[18] Er beschreibt »über- und untergeordnete Gruppen der Tonhöhen […], Gruppen der Dauern […] [und] Gruppen der Lautstärken«[19]. In der »Anleitung zum Hören« des Klavierstück I führt er diesen Gedanken folgendermaßen aus:
Die verschiedenen Gruppen in einer Komposition haben verschiedene Proportionsmerkmale, verschiedene Struktur, sind aber insofern aufeinander bezogen, als man die Eigenschaften einer Gruppe erst versteht, wenn man sie mit den anderen Gruppen im Grad der Verwandtschaft vergleicht.[20]
Das bedeutet also, dass verschiedene einzelne musikalische Ereignisse, die sich ansonsten in ihren Parametern voneinander unterscheiden, jeweils aufgrund der ›Gleichheit‹ eines dieser Parameter als Teil einer Gruppe gehört werden können. Die Verwendung des Wortes ›Verwandtschaft‹ in diesem Zusammenhang tritt bereits zur Beschreibung ähnlicher Ideen im Vortrag über Weberns Konzert auf: »An die Stelle von Identität tritt universelle Verwandtschaft.«[21] Der Vortrag über Weberns op. 24 lässt sich also als eine Art Vorfassung des zwei Jahre später entstandenen Textes zur »Gruppenkomposition« begreifen. Dabei fällt ins Auge, dass Stockhausen jene Stücke, die er hier als Gruppenkompositionen bezeichnet (die Klavierstücke I–IV)[22], schon vor dem Vortrag fertiggestellt hat.[23]
Kontra-Punkte für zehn Instrumente (1952–53), das zum Zeitpunkt der Darmstädter Ferienkurse 1953 bereits vollendet ist[24], ordnet der Komponist dagegen seinen ›punktuell‹ aufgebauten Werken zu.[25] Als Beispiel druckt er zum Abschnitt »›Punktuelle Form‹-Genese« im Text »Erfindung und Entdeckung. Ein Beitrag zur Formgenese« (1961) die erste Seite der Partitur von Kontra-Punkte ab.[26] Robin Maconie sieht Kontra-Punkte als die letzte punktuelle Komposition Stockhausens an.[27] Allerdings sprechen in Kontra-Punkte erkennbare Gruppierungen für ein nicht mehr rein punktuelles Konzept. Jonathan Harvey sieht innerhalb dieses Stücks einen Richtungswechsel der Kompositionsmethode.[28] In diesem Sinne ist es also sinnvoll, Kontra-Punkte als eine Brücke zwischen punktueller und Gruppenkomposition in Stockhausens Werk zu betrachten.
Das Klavierstück V ist nach dieser kompositorischen Übergangsphase der Klavierstücke I–IV entstanden. Der zweite Zyklus der Klavierstücke, welchem das Klavierstück V angehört, unterscheidet sich vom ersten in verschiedener Hinsicht und führt das Prinzip der Gruppenkomposition zu neuen Dimensionen:
Like the first set of the piano pieces, numbers V to VIII are studies, but unlike the former set, which are essays in formal organization, these are focused on sonority, timing and gesture: the dynamics of performance, one might say.[29]
Das Klavierstück V wurde 1954 bei den Darmstädter Ferienkursen gemeinsam mit den Klavierstücken I–IV durch Marcelle Mercenier aufgeführt; dabei handelte es sich um die Uraufführung des Stücks, und es wurde bei diesem Anlass als Zugabe wiederholt.[30]
2. Klavierstück V: Strukturelle Grundprinzipien
Ein Grund dafür, weshalb kaum analytische Arbeiten zu Stockhausens Klavierstück V (1954) vorliegen, ist wohl im Mangel an Skizzenmaterial zu diesem Werk zu suchen. Im Gegenzug mag auch die geradezu lückenlos erhaltene Dokumentation des Kompositionsprozesses der Klavierstücke IX (1954/61), X (1954/61) und XI (1956) das rege analytische Interesse an diesen Werken erklären, da hier die vorhandenen Skizzen einen Blick auf das abstrakt-schematische, kompositorisch noch ungeformte Rohmaterial erlauben.[31]
Im Stockhausen-Archiv in Kürten sind vom Klavierstück V mehrere Fassungen aus verschiedenen Kompositionsstadien erhalten: eine erste Ausarbeitung des Stücks und deren Reinschrift (erste Fassung); eine zweite Ausarbeitung, deren Reinschrift und eine davon angefertigte erste Druckvorlage für die Universal Edition (zweite Fassung); schließlich eine dritte Ausarbeitung als Reinschrift, die chronologisch nach der Druckvorlage einzuordnen ist und einige Änderungen enthält (dritte Fassung).[32] Erst diese letzte Fassung entspricht (bis auf kleine Korrekturen) der veröffentlichten Partitur des Klavierstück V.
Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass nur zwei Fassungen des Klavierstück V existieren. Die Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Fassung fallen sofort ins Auge, aber auch die dritte Fassung weist offensichtliche Unterschiede gegenüber der zweiten Fassung auf, etwa nun fehlende Taktartbezeichnungen und enharmonische Verwechslungen sowie weitere Änderungen (vor allem hinzugefügte Töne und Versetzungszeichen). Dem Verfasser sind nur zwei analytische Texte zum Klavierstück V bekannt: eine kurze Analyse von Rosângela Pereira de Tugny (1995)[33] und Anmerkungen von Pascal Decroupet im Zuge einiger Ausführungen über Gruppenkomposition (1997)[34]. Beide Texte sprechen nur von zwei Fassungen des Klavierstück V; gemeint sind jeweils die erste Fassung und die Druckfassung (dritte Fassung). Eine detaillierte Ausführung der Unterschiede zwischen den Fassungen ist jedoch nicht Gegenstand dieses Aufsatzes und würde eine tiefergehende Untersuchung der Materialien erfordern.
Das für die vorliegende Studie hinzugezogene Archivmaterial enthält neben den genannten drei Fassungen des Stücks ein Blatt mit sechs Matrizen für die Klavierstücke[35], welches nicht näher einem bestimmten Stück zugeordnet ist, sowie ein Blatt mit einer (unbeschrifteten) Skizze der Tonhöhen des Klavierstück V[36] ohne Zeitstruktur, angefertigt für die Erstfassung. Ausgehend von dieser ersten Fassung, in welcher »die strukturellen Gesetzmäßigkeiten sozusagen bloßgelegt erscheinen«[37], lassen sich einige seriell organisierte Strukturprinzipien rekonstruieren, welche in den darauffolgenden Fassungen zunehmend in den Hintergrund treten.
Wie auch die übrigen Klavierstücke basiert das Klavierstück V auf Matrizen, die aus den Ziffern 1 bis 6 bestehen. Ursprünglich sollte auch die Summe der Stücke in jedem Zyklus einer sechsteiligen Reihe (4-6-1-5-3-2) entsprechen; ein erster Zyklus sollte also vier, ein zweiter sechs Stücke, ein dritter nur eines usw. beinhalten. Insgesamt sollten also – als Summe aller Ziffern der Reihe – 21 Klavierstücke entstehen und entsprechend der Zahlenreihe zu Zyklen gruppiert werden. Tatsächlich jedoch wurden die Klavierstücke I–IV, V–VIII, IX–X und das Klavierstück XI (4-4-2-1 Stücke) jeweils zu einem Zyklus zusammengefasst.[38] Die späteren Klavierstücke XII–XIX (1979–2003) sind mit dem Opernzyklus Licht (1977–2003) verbundene Einzelstücke; damit weichen sie von diesem zyklischen Muster ab und unterbrechen das übergreifende Organisationskonzept. Sie unterscheiden sich auch stilistisch von den früheren Klavierstücken, da sie nicht im engeren Sinn seriell konstruiert sind.
Es ist nicht festzustellen, für wie viele und welche Klavierstücke das oben erwähnte Skizzenblatt mit Matrizen verwendet wurde. Vergleicht man die Eigenschaften der ersten Fassung des Klavierstück V mit dem Blatt, zeigt sich, dass zumindest teilweise mit diesen Matrizen gearbeitet wurde. Sechs verschiedene Matrizen sind auf dem Blatt skizziert. Die folgende Analyse kann für Klavierstück V nur die Verwendung der ersten beiden Matrizen und der ersten Zeile der dritten nachweisen. Zudem lässt sich aufgrund der Unterschiede zwischen den verschiedenen Fassungen des Stücks die Anwendung der Matrizen nicht lückenlos anhand der gedruckten Partitur belegen. Die Matrizen 1 bis 3 bilden aber jedenfalls die Grundlage für die erste Fassung, welche zum Gerüst für die beiden folgenden Fassungen wird. Im Folgenden sollen nun zunächst die aus den Skizzen gewonnenen und die erste Fassung betreffenden analytischen Informationen dargestellt werden.
Tabelle 1: Karlheinz Stockhausen, Klavierstücke, Matrizen 1–3 (Transkription)[39]
Die in Tabelle 1 dargestellten und fett hervorgehobenen Zahlenreihen aus dem Skizzenmaterial geben uns Aufschluss über die Tonhöhen, die Tempoangaben, die strukturellen Gruppierungen und die Zeitstruktur des Stücks. Über die Anwendung der Zahlen auf weitere Parameter wie etwa Dynamik, Pedalisierung, Anordnung der Tonzentren innerhalb einer Mikrogruppe usw. können dagegen keine haltbaren Aussagen getroffen werden.
Die Tonhöhenskizze (Bsp. 1) zeigt die gesamten in der ersten Fassung des Klavierstück V auftretenden Töne. Diese Disposition enthält 216 mit herkömmlichen Notenköpfen notierte Töne, die in sechs große Einheiten zu je 36 Tönen (getrennt durch Doppelstriche) unterteilt sind, welche wiederum aus sechs kleineren Einheiten mit jeweils sechs Tönen (getrennt durch Taktstriche) bestehen (6 x 6 x 6 = 216).
Beispiel 1: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Tonhöhenskizze (Transkription)[40]
Dieses Tonhöhenmaterial ist auf einer sechstönigen Grundreihe (Bsp. 2) aufgebaut: e2-c2-f2-es2-d2-h1. Pereira de Tugny betrachtet die Intervalle zwischen diesen Tonhöhen als Ergebnis der Reihe [6]-4-5-2-1-3 (Anzahl der Halbtonschritte).[41] Dies entspricht der zweiten Zeile der ersten Matrix (vgl. Tab. 1).
Beispiel 2: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Grundreihe (R0)
Diese Tonhöhenreihe wird so transponiert, dass jeder ihrer Töne zum Anfangston einer neuen Reihe mit derselben Intervallkonstruktion wird. Dieses Verfahren wird horizontal und vertikal angewandt, vergleichbar dem in Pierre Boulezʼ Structures Ia für zwei Klaviere (1951) verwendeten Verfahren. Diese neuen Reihen wiederum lassen sich auf dieselbe Weise transponieren. Durch dieses Verfahren lassen sich alle Tonhöhenqualitäten der Tonhöhenskizze generieren (Bsp. 3, vgl. Bsp. 1/2).
Beispiel 3: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Transpositionen der Grundreihe
Den Tönen der Grundreihe ist im Klavierstück V jeweils eine bestimmte Lage zugeordnet. Diese Zuordnung, wie sie Pereira de Tugny beschreibt, folgt ausgehend von e3 dem Intervallschema -26 +17 -24 -13 -15 (Bsp. 4).[42] Die Anfangstöne der Transpositionen der Grundreihe übernehmen die ihnen in dieser Intervallfolge zugeordnete Lage; für die erste Transposition (R8) wäre das z.B. c1.
In Beispiel 2 wurde die Grundreihe auf den Oktavraum reduziert dargestellt; tatsächlich ist die Intervallik der Reihe aber durch das Intervallschema fixiert. In Fällen, wo die Klaviatur in der Tiefe dazu nicht ausreichen würde, überträgt Stockhausen die Intervallschritte in die oberste Oktav des Klaviers, durchläuft also sozusagen nahtlos die physikalische Grenze des Instruments und setzt das Intervallschema in einer höheren Lage fort (in Bsp. 4 ist diese Lagenverschiebung durch Pfeile gekennzeichnet). In die zweite und dritte Fassung wurde diese Lagenverteilung nicht übernommen, die Tonhöhen wurden hier vermutlich aus pianistischen Gründen vorwiegend einer mittleren Lage zugeordnet (vgl. 3.).
Beispiel 4: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Lagen
Abgesehen von diesen 216 der Reihe entstammenden Tönen enthält die Skizze weitere 57 als chromatische Vor- und Nachschlagsnoten notierte Töne. Diese wurden nicht aus der Reihe und ihren Transpositionen gewonnen, sondern sind frei hinzugefügte Tonhöhen. Weder in der Tonhöhenskizze noch in der ersten Fassung des Stücks treten Töne simultan auf.
Von der Skizze ausgehend gruppiert Stockhausen alle Töne (auch die Vor- und Nachschläge) den oben abgebildeten und markierten Matrizen folgend: zunächst in Gruppen von 2-6-1-4-3-5 Tönen usw. bis zur letzten dafür verwendeten Zahlenreihe, der ersten Zeile der dritten Matrix (1-5-6-3-2-4). Diese Gruppierungen lassen sich in der Tonhöhenskizze an gestrichelten Trennlinien ablesen (Bsp. 1). Die Verwendung von insgesamt 13 Zeilen der Matrizen ergibt eine Summe von 273 (13 x 21) Tönen; die 57 ›reihenfremden‹ Töne ergänzen also das aus der Sechstonreihe gewonnene Tonhöhenmaterial von 216 Tönen auf diese Gesamtsumme.
Ursprünglich war das Klavierstück V, so Richard Toop, eine Studie über »central notes«, also ›Tonzentren‹, welche durch »grace notes«[43] (Vorschläge und Nachschläge) umspielt werden. Bereits in der Tonhöhenskizze ist innerhalb jeder ›Mikrogruppe‹ ein Ton durch Einkreisung als Tonzentrum markiert (Bsp. 1); die übrigen Töne einer Gruppe übernehmen die Rolle von Vor- und Nachschlägen. Nach welchen Kriterien diese Tonzentren ausgewählt wurden, ist aus dem erhaltenen Skizzenmaterial nicht ersichtlich.
Beispiel 5: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, erste Fassung (Beginn) mit Taktartbezeichnungen (Skizzenblatt »Klavierstücke I–X #2.03«, erste Ausarbeitung,
© Stockhausen-Stiftung für Musik, Kürten, http://www.karlheinzstockhausen.org)
Beispiel 5 zeigt, dass es in der ersten Fassung noch – wie in den Klavierstücken I–IV – Taktartbezeichnungen gibt, die in der dritten Fassung (Druckfassung) dann fehlen. Die Unterteilung des Stücks durch Tempoangaben ist hier bereits angedeutet (zu Beginn z.B. »T° VI«). Die Abfolge der Tempostufen I–VI folgt – wie die Tonhöhen – der Zahlenreihe 6-4-5-2-1-3 aus der ersten Matrix und ist hier noch nicht durch Metronomzahlen bestimmt.
Eine konsequente und genaue Bezeichnung des Tempos mit Metronomangaben gibt es erst in der zweiten Fassung, wobei auch diese Bezeichnungen sich von jenen der Druckfassung unterscheiden. Anhand der verschiedenen Fassungen lässt sich feststellen, dass Stockhausen zwar nicht die Reihenfolge, aber die Metronomangabe der Tempi mit jeder Version ändert. Aus diesem Grund sollen die Tempi hier anhand der gedruckten dritten Fassung betrachtet werden. In der veröffentlichten Partitur tragen die Tempoabschnitte folgende jeweils für die Achtel angegebenen Metronomangaben (Tab. 2):
Tabelle 2: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Tempoangaben/Abschnitte
Diese Zahlen ergeben auf den ersten Blick eine ungeordnete Folge von Tempoangaben (T° I - T° II - T° III - T° IV - T° V - T° VI = 101 - 113,5 - 63,5 - 90 - 71 - 80). Sie entsprechen jedoch Metronomwerten der »chromatischen ›Dauern‹-Oktave«[44] in Stockhausens Aufsatz »… wie die Zeit vergeht …« (1956), wo Stockhausen jeder chromatischen Tonhöhe einen Metronomwert zuordnet (Tab. 3). Die mit den Metronomwerten korrespondierenden Tonhöhen ergeben das Tonmaterial einer Ganztonreihe (fis-gis-ais-e-c-d) und bestimmen auch die Reihung der Tempoangaben. Die verschobene Position von Tempo 90 an vierter Stelle (Tonhöhe e) lässt sich damit nicht nachvollziehen und ist als willkürliche Entscheidung zu werten.
Vergleicht man die Angaben mit jenen der ersten beiden Fassungen, zeigt sich, dass Stockhausen sie erst in dieser letzten Fassung den im Aufsatz vorgestellten Werten angepasst hat. Die Metronomzahlen wurden dabei gerundet, nur jeder zweite Wert der »›Dauern‹-Oktave« wurde verwendet.
Tabelle 3: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Tonhöhen/Metronomwerte (Druckfassung)
Im Hinblick auf die Tempoangaben unterscheidet sich das Klavierstück V von den älteren Klavierstücken ganz fundamental: Während in den Stücken des ersten Zyklus das Tempo jeweils »vom kleinsten zu spielenden Zeitwert« bestimmt ist und dieser »[s]o schnell, wie möglich [sic]«[45] auszuführen ist, ist jeder Abschnitt des Klavierstück V mit einer (durch Accelerando und Ritardando) nur geringfügig zu variierenden präzisen Tempoangabe versehen.
Die durch die Tempoangaben bestimmten sechs Abschnitte des Stücks bestehen aus ebenfalls seriell organisierten ›Makrogruppen‹, d.h. aus Gruppierungen der tonzentrenbasierten ›Mikrogruppen‹. In der Druckfassung sind die Makrogruppen durch dicke vertikale Striche oberhalb des Notensystems markiert (vgl. Bsp. 8). Auch auf dieser Ebene folgt das Prinzip der ersten Matrix: Folgt man deren erster Zeile 2-6-1-4-3-5, erhält man für den ersten Abschnitt zwei Makrogruppen, für den zweiten sechs usw. – insgesamt also 21 Makrogruppen. Diese wiederum enthalten eine ebenfalls der Matrix folgende Anzahl an Mikrogruppen, die erste Makrogruppe besteht also aus zwei, die zweite aus sechs Mikrogruppen usw. (Tab. 4).
Tabelle 4: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, formale Gruppierungen
Die Anzahl der Mikrogruppen folgt so lange dem Verlauf der ersten Matrix, bis jeder der 21 Makrogruppen ein Wert zugeordnet wurde (bis zur Ziffer 3 in der vierten Zeile der ersten Matrix). Daraus ergeben sich in Summe 72 Mikrogruppen. Vergleicht man die Partitur mit dieser Ordnung, fällt auf, dass am Ende des Stücks noch weitere sechs Mikrogruppen hinzugefügt wurden, das Stück also tatsächlich insgesamt 78 (72+6) Mikrogruppen umfasst. Die Ziffer 6 entspricht der nächsten Zahl in der Matrix (an der vierten Stelle der vierten Zeile der ersten Matrix). Die ersten beiden Makrogruppen des Abschnitts [F] werden zu einer zusammengefasst (zu 2+4 = 6 Mikrogruppen), um die Anzahl von fünf Makrogruppen für diesen Abschnitt nicht zu überschreiten. Die Anzahl der Töne innerhalb der sechs am Ende hinzugefügten Mikrogruppen folgt der ersten Reihe der dritten Matrix (1-5-6-3-2-4).
Das Notenmaterial der ersten Fassung des Stücks gibt uns auch Aufschluss über ein weiteres der ersten Matrix folgendes Konstruktionsprinzip. Die erste Ausarbeitung beinhaltet Proportionsangaben zwischen der Dauer der Tonzentren und dem Einsatzabstand zwischen den Tonzentren. Zum Beispiel erhält man in [A2]1[46] für das Tonzentrum cis4 eine Dauer von 16 Zweiunddreißigsteln. Diese Dauer, addiert mit der folgenden Pause von vier Zweiunddreißigsteln, ergibt einen Einsatzabstand von 20 Zweiunddreißigsteln zum folgenden Tonzentrum. Dadurch entsteht eine Proportion von 16/20, also 4/5 (Bsp. 6).
Beispiel 6: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Proportionen zwischen Dauer und Einsatzabstand in [A2]1
In der ersten Fassung sind diese Proportionen zu Beginn jeder Makrogruppe angegeben, z.B. für die obengenannte Makrogruppe [A2] 4:5.[47] Für das gesamte Stück sehen diese Proportionen je Abschnitt folgendermaßen aus (Tab. 5):
Tabelle 5: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Proportionen zwischen Dauer und Einsatzabstand der Tonzentren
Diese Proportionen gelten auch für die Druckfassung; Beispiel 7 (Reduktion auf Gerüstnoten nach der gedruckten Partitur) zeigt die Verhältnisse im Abschnitt [A] (zwei Makrogruppen, acht Tonzentren/Mikrogruppen):
Beispiel 7: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Proportionen zwischen Dauer und Einsatzabstand in [A] (nur Tonzentren)
Die Makrogruppe [A1] basiert auf dem Verhältnis 6:1, die Makrogruppe [A2] auf dem Verhältnis 4:5. Die Proportion wird jeweils mit einem anderen Faktor multipliziert (in Beispiel 7 6:1 x2 und 4:5 x4, x11, x7, x10, x6 und x9). Dabei tritt beim Hauptton E eine Abweichung auf: Statt den erwarteten 24:30 (4:5 x6) Zweiunddreißigstel finden sich hier, wie auch in der Skizze zur ersten Fassung (Bsp. 5), 24:31. Auch die darauffolgende Hauptnote (cis3) weicht vom Schema ab: Sie umfasst 37 Zweiunddreißigstel bzw. das Verhältnis 37:43 (statt 4:5 x9 = 36:45). Dies kommt dadurch zustande, dass das Tonzentrum cis3 um eine Zweiunddreißigstel verlängert bis in [B] hinein ausgehalten wird und die darauffolgende Pause um zwei Zweiunddreißigstel verkürzt wird. Die zum Tonzentrum gehörigen Pausen sind strukturell als Teil des Abschnitts [A] zu betrachten, sind jedoch bereits in Abschnitt [B] notiert, welcher in diesem Fall ausschließlich durch den Tempowechsel markiert wird. In der ersten Fassung beträgt das Verhältnis an dieser Stelle 28:35 (4:5 x7), wobei das Tonzentrum (des3) eine doppelt punktierte Halbe beträgt und ihm eine doppelt punktierte Achtelpause folgt (Bsp. 5). Diese Änderung des Multiplikators (x9 statt x7) in der Partitur liegt möglicherweise darin begründet, dass der Multiplikator 7 bereits beim Tonzentrum cis4 angewendet wurde.
Vermutlich ist der Überschuss von einer Zweiunddreißigstel beim Tonzentrum E (31 statt 30) und das Defizit von zwei Zweiunddreißigsteln beim Tonzentrum cis3 (43 statt 45) von geringer Bedeutung, da die Abschnitte des Stücks in der Einheit Achtel konstruiert sind: Die verschiedenen Abschnitte haben jeweils eine in Achteln ganzzahlig angebbare Dauer; analog dazu sind auch die die Abschnitte trennenden Tempoangaben in Achtel vorgeschrieben. Das Quantum der Zeitstruktur ist jedoch die Zweiunddreißigstel, weswegen bei der Übertragung der Proportionen aus der Matrix leicht – in Achteln betrachtet – unganzzahlige Tondauern entstehen.
Pereira de Tugny beschreibt diese Proportionen als direktes Ergebnis der Matrix-Zahlenreihe, bietet jedoch keine Begründung für diese Vermutung. In ihrem Artikel werden die Zahlenverhältnisse je Abschnitt aufgelistet und die erste Zeile der ersten Fassung abgebildet[48], jedoch wird auf die Matrix bzw. auf die Ableitung der Proportionen daraus nicht eingegangen.
Schreibt man alle solchen Proportionen des Stücks wiederum in Zeilen von sechs Elementen untereinander, wird schnell klar, auf welche Weise diese von der Matrix abgeleitet wurden (Tab. 6).
Tabelle 6: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Proportionen zwischen Dauer und Einsatzabstand aller 21 Makrogruppen (vgl. Tab. 5)
Die ersten sechs Proportionen ergeben sich ohne weitere Änderungen durch Ablesen der zweiten und dritten Zeile der ersten Matrix, wenn man die Zahlenpaare von oben nach unten abliest: 6:1, 4:5, 5:6, 2:3, 1:2, 3:4 (Tab. 7, oben). Die zweite Folge von sechs Proportionen entsteht durch eine Rotation: Rotiert man die dritte Zeile der Matrix um ein Element, erhält man eine neue Ordnung: 5:3, 1:4, 6:5, 4:6, 2:2, 3:1 (Tab. 7, Rotation 1, gelesen in der Spaltenfolge 3-5-1-2-4-6). Zwei weitere Rotationen der dritten Zeile ergeben die restlichen Proportionen: 1:1, 4:3, 2:4, 6:6, 5:2, 3:5 (Tab. 7, Rotation 2, gelesen in der Spaltenfolge 5-2-4-1-3-6) und 6:3, 2:1, 4:2 (Tab. 7, Rotation 3, gelesen in der Spaltenfolge 1-4-2).
Tabelle 7: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Ableitung der Proportionen zwischen Dauer und Einsatzabstand aus den Zeilen 2 und 3 der ersten Matrix (vgl. Tab. 1)
Tabelle 8 fasst diese Proportionen für das gesamte Stück zusammen:
Tabelle 8: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Proportionen zwischen Dauer und Einsatzabstand, Gesamtübersicht
3. Detailanalyse des Abschnitts [A]
Bisher wurde das Stück ausgehend von den Skizzen und Fassungen nur rein strukturell auf makroformaler Ebene betrachtet. Das eingehendere Analysieren serieller Musik bereitet, wie bekannt, einige Schwierigkeiten, da sie mit konventionellen Ansätzen oft nicht hinlänglich erfasst werden kann. Aus diesem Grund sind Analysen serieller Werke oftmals auf das Offenlegen zugrundeliegender Kompositionsskizzen, Reihenstrukturen etc. reduziert worden. Ulrich Mosch beschreibt diesen Sachverhalt wie folgt:
Serielle Musik scheint, wenn man die Reihenableitungsmechanismen auf den verschiedenen Ebenen einmal kennt, der Analyse keine großen Schwierigkeiten mehr zu bereiten, es sei denn, der Komponist hätte sich starke Abweichungen von den seriellen Schemata und Materialvorräten erlaubt. Mittlerweile sind hier jedoch viele Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt, da zahlreiche Komponisten die Skizzen und Reihentabellen zu den einschlägigen Werken der Forschung zugänglich gemacht haben. Die Aufschlüsselung der Kompositionen in ihre Reihenbestandteile scheint daher nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Dennoch lohnt es sich, wenn man über die Gründe der Kluft zwischen Analyse und Hören serieller Musik nachdenkt, kurz eine ›Analyse des Analysierens‹ zu unternehmen […].[49]
Solche Analysen, von Pierre Boulez polemisch als »Buchführungsanalysen«[50] abgewertet, erschöpfen sich meist darin, deskriptiv Elemente eines Stücks und ihre Anordnung aufzulisten.
Die Gründe für [die Kluft zwischen Analyse und Hören] und den weitgehenden Rückzug auf Deskription sind sowohl in der Geschichte der Zwölftonanalyse zu suchen als auch und vor allem in einem bezüglich serieller Musik ungeklärten Kompositionsbegriff. Fragt man nämlich nach dem Zweck dieser Analysen, so stellt sich heraus, daß sie meist […] keine ›Kompositionsanalysen‹ sind, sondern Analysen der Materialstruktur der entsprechenden Werke. Dies ist aber ein wesentlicher Unterschied. Strenggenommen wären sie […] noch nicht einmal eine Beschreibung dessen, wie das Werk gemacht ist. Vielmehr wird nur beschrieben, woraus es besteht: seine Bestandteile.[51]
Demnach lassen sich von Ergebnissen solcher Analysemethoden ausgehend in Hinblick auf das musikalische Hören keine aussagekräftigen Schlüsse ziehen; Mosch nennt »diesbezügliche Folgerungen auf solcher Basis vielfach irreführend oder unbrauchbar«[52].
Im Folgenden soll zunächst eine ›statistische‹ Analyse des Klavierstücks (ohne Berücksichtigung der Kompositionsskizzen) durchgeführt werden. Diese Analyse soll nicht eine Umsetzung von Konstruktionsgesetzen durch den Komponisten dokumentieren, sondern ausschließlich einer Erfassung und Interpretation der Materialien dienen, wie sie in der gedruckten Partitur vorliegen. Auch das greift freilich für eine das musikalische Hören einbeziehende Sichtweise noch zu kurz. Daher wird die folgende Analyse neben der quantitativen Darstellung von Materialelementen und Kompositionsprinzipien zusätzlich auch qualitative Kriterien anwenden, also den Höreindruck prominent mit einbeziehen (vgl. 4.). Exemplarisch wird zu diesem Zweck der erste Abschnitt [A] im Detail betrachtet werden.
Mosch schreibt im Zusammenhang mit Boulez’ Le Marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–57), dass, obwohl sich selbstverständlich der Großteil der Abfolgen verschiedener Teile dieses Werks »aus dem systematischen Abtastschema« ergibt, im Kompositionsprozess auf anderen Ebenen trotzdem weitere Entscheidungen getroffen werden mussten, nämlich
hinsichtlich
– der Koppelung der Dauern, der Dynamik und bis zu einem gewissen Grade der Artikulation an die Klangkomplexe;
– der Satzart und Satzdichte […];
– der Artikulation der Töne eines jeden Komplexes […];
– der Registerlagen […];
– der Artikulation der rhythmischen Zellen […] sowie hinsichtlich
– der Klangfarbenverwendung […].[53]
Schon in seinem Aufsatz »Von Webern zu Debussy« spricht Stockhausen über ähnliche Parameter. Er analysiert hier die Ballettmusik Jeux (1912) von Claude Debussy auf ›statistische‹ Weise, d.h. er untersucht das Stück unter Berücksichtigung der
Grade der Dichte von Tongruppen; Grade der Tonhöhenlagen, der Bewegungsrichtung; der Geschwindigkeit, der Geschwindigkeitsveränderung[;] der durchschnittlichen Lautstärke, der Lautstärkenveränderung; der Klangfarbe und der Klangfarbenmutation.[54]
Daraus ergeben sich zusammengefasst fünf Parameter: Dichte, Tonhöhenlage, Geschwindigkeit, Lautstärke und Klangfarbe. Diese werden auf ihre Veränderung hin untersucht, d.h. es wird geprüft, ob sie zunehmen, abnehmen oder konstant bleiben.[55] Am Schluss des Aufsatzes heißt es:
Die hier mitgeteilten Überlegungen mögen dazu dienen, daß nicht nur die Musik Weberns oder Debussys, sondern auch diejenige, der es um Verschmelzung dieser beiden geht, richtig verstanden wird und intensiven Kontakt mit den Hörern findet.[56]
Dies mag so interpretiert werden, dass Stockhausen die statistische Methode hier auch für die Analyse seiner eigenen Werke als nützlich befindet. In diesem Sinne soll daher exemplarisch der Abschnitt [A] des Klavierstück V (Bsp. 8) in Stockhausens Sinn ›statistisch‹ betrachtet werden, wobei die Spannung zwischen seriellen Gerüststrukturen und Hinzufügungen im Vordergrund steht.
Beispiel 8: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Abschnitt [A] = Makrogruppen [A1] und [A2],
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Audiobeispiel 1: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Abschnitt [A]
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Wie bereits erwähnt, bestehen zwischen den verschiedenen Fassungen des Stücks zahlreiche Unterschiede; im Vergleich zur ersten Fassung gibt es in den späteren Fassungen einige hinzugefügte Töne, die in der Tonhöhenskizze noch nicht auftreten. Außerdem wurde die Lage der meisten Töne verändert; sie befinden sich in der zweiten und dritten Fassung vorwiegend in einer mittleren Lage, es gibt keine Extrempunkte mehr. Dieser Lagenänderung könnten pianistische Überlegungen zugrunde gelegen haben: Die Intervalle zwischen den Tönen sind jetzt kleiner, die Hände müssen auf der Tastatur insgesamt weniger große Distanzen zurücklegen.
Betrachtet man die erste Fassung als einen Grundriss des Stücks, zeigt die Druckfassung, dass die hinzugefügten Töne eher lange Dauern ausfüllen. Außerdem sind aber auch alle einzelnen Zweiunddreißigstelnoten ohne Vorschläge hinzugefügte Töne. In der ersten Zeile des Stücks z.B. wurden alle auf das Tonzentrum f2 ([A2]2) folgenden Töne hinzugefügt.
In [A1] der Druckfassung fällt auf, dass sechs der Grundreihe (R0; Bsp. 2) und zwei deren erster Transposition (R8; Bsp. 3, erste zwei Töne) entstammende Töne aus der ersten Fassung zusammen mit den in der Druckfassung hinzugefügten Tönen das Zwölftontotal abdecken[57] – das als Vorschlag bereits zu [A2]1 gehörende fis1 mitgezählt. Die acht Töne, die bereits in der ersten Fassung auftreten, sind der Matrix (und nicht ihrer Stammreihe) entsprechend gruppiert (2+6). Die insgesamt 13 Töne in [A1] enthalten zwölf verschiedene Tonhöhen (Tab. 9; Bsp. 9).
Tabelle 9: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A1], Tonvorrat
Beispiel 9: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A1], © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
Audiobeispiel 2: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A1]
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Diese Tatsache legt eine Interpretation der Makrogruppe [A1] als eine geschlossene Gruppe nahe, obwohl sie eigentlich aus zwei (auch durch den Pedalwechsel getrennten) Mikrogruppen mit zwei sich überlappenden Tonzentren (e3 und d2) und deren Vor- und Nachschlagsnoten besteht. Das als Vorschlag zum cis4 notierte fis1 dient als Übergang zu [A2]: Es gehört zum Tonmaterial der Makrogruppe [A1] (als eine der zwölf Tonhöhen), ist strukturell aber – als Vorschlag – eine zum cis4 führende Geste.
Betrachtet man [A1] genauer, fällt eine zweifache Terzkonstruktion auf (Bsp. 10). Notiert man alle in der Makrogruppe vorkommenden Töne in ihrer tatsächlichen Lage übereinander, erhält man einen zwölftönigen Akkord, der vorwiegend aus Schichtungen kleiner und großer Terzen konstruiert ist. Hier findet sich also ein simultaner Terzaufbau. Notiert man alle in der Makrogruppe vorkommenden Töne (in enger Lage oktaviert) in ihrer tatsächlichen Reihenfolge jeweils paarweise nacheinander, erhält man eine chromatisierte Terzfolge. Das lässt also einen sukzessiven Terzaufbau erkennen.
Beispiel 10: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A1], simultaner und sukzessiver Terzaufbau
Abgesehen vom bereits erwähnten Vorschlag fis1 gibt es ein weiteres Element, das direkt von [A1] zu [A2] führt: das in [A1]2 angeschlagene Tonzentrum d2. Dieses wird bis über [A2]1 und den Großteil von [A2]2 ausgehalten (insgesamt über 17 Achtel). Diese Überlappung stärkt die Verbindung der beiden Abschnitte.
[A2] beginnt in [A2]1 mit dem Tonzentrum cis4 und der vorangehenden Vorschlagsnote fis1. Das Tempo ist hier stabil, das Tonzentrum erscheint in sehr hoher Lage (und verklingt damit sehr rasch), der Gesamtcharakter der Mikrogruppe ist sehr statisch (da keine weiteren Töne auftreten). Die Mikrogruppe [A2]2 bietet im Anschluss daran einen sehr großen Kontrast, sie ist viel aktiver: Die zwei Tonzentren (das liegengebliebene d2 und das neue Tonzentrum f2) werden von zahlreichen Tönen umspielt. Stand [A2]1 noch im piano, ist hier fff und ff sempre notiert. Die Lage bleibt eher hoch (e1-c5).
Audiobeispiel 3: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]1
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Notiert man für [A2]2 (wie zuvor bei [A1]) alle Töne in ihrer tatsächlichen Lage übereinander, ergibt sich ein elftöniger Akkord, der wiederum großteils aus Terzschichtungen besteht (Bsp. 11). Zu einem zwölftönigen Akkord fehlt hier ein gis. Wurde in [A1] nur ein Ton (c3) wiederholt, treten hier einige Töne mehrmals auf. Auffallend ist, dass jedem Ton eine fixierte Lage zugewiesen ist, d.h. jeder wiederholte Ton tritt immer in derselben Lage auf, in welcher er zuvor angeschlagen wurde.
Beispiel 11: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]2, Terzenschichtungen, Länge der Pausen (Ziffern über Notensystem ohne Klammern), Anzahl der Anschläge (Ziffern über Notensystem in Klammern)
Audiobeispiel 4: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]2
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Sowohl die Anzahl der gruppierten sukzessiven Zweiunddreißigstel-Anschläge als auch die Pausen zwischen diesen kurzen Klangereignissen in [A2]2 folgen wiederum Reihen von sechs Werten: 2-1-4-3-5-6 (Anzahl der Anschläge), 2-6-5-3-1-4 (Länge der Pausen in Zweiunddreißigsteln) (Bsp. 11). Diese Folgen sind in den Matrizen der Skizzen nicht nachweisbar, tragen aber zur homogenen seriellen Organisation des Stücks bei. Die Dynamik ist hier weitgehend konstant (ff sempre über eine Dauer von 13 von 14 Achteln), während die Anschläge und die jene trennenden Pausen einer permutativen seriellen Logik folgen.
Die Fixierung der erklingenden Tonhöhen im Zwölftonfeld erinnert an das kompositorische Verfahren in Anton Weberns Symphonie op. 21 (1. Satz) bzw. an Weberns Streichquartett op. 28 (1. Satz), wo den zwölf Tonhöhen ebenfalls mit dem Zweck der Vermeidung von Oktaven fixe Lagen zugeordnet wurden. Dieses Verfahren wurde in der frühen seriellen Musik häufig angewendet, so etwa in Boulez’ Structures Ia und Le Marteau sans maître.
Neben den erwähnten Terzschichtungen, der Vorschlagsnote in [A2]1 und dem ausgehaltenen Tonzentrum d2 besitzen [A1] und [A2] ein weiteres verbindendes Element: In [A2]2 wird Material aus [A1] erweitert. In [A1] treten außer den Tonzentren und den Vor- und Nachschlägen zwei aus Zweiunddreißigsteln bestehende Zellen auf (cis1 und ais-A/g). Das Prinzip der voneinander isolierten kurzen Klangereignisse ist in [A2]2 erweitert und vervielfacht. Es entstehen so die beschriebenen durch Pausen getrennten sechs Gruppierungen von Anschlägen (Bsp. 11).
Eine ähnliche Art von ›Wucherung‹ lässt sich auch in [A2]3 feststellen. In dieser Mikrogruppe treten erweiterte Elemente sowohl aus [A1] und [A2]2 auf (Bsp. 12):
– Das Septim-Intervall A-g, das die beiden tiefsten Töne des Akkordes in [A2]3 bilden, wiederholt die Septim A-g aus [A1].
– Das Tonzentrum fis4 und dessen Vorschläge (also c5-cis4-fis4) permutieren die ersten beiden aufeinanderfolgenden Zweiunddreißigstel-Ereignisse in [A2]2 (cis4-c3-fis4).
– Die Dynamikangaben des Akkordes in [A2]3 sind seriell organisiert, erinnern also an die serielle Organisation von Anschlägen und Pausen in [A2]2. Der lauteste Ton in diesem Akkord ist gis1. Damit wird der einzige in [A2]2 zum Zwölftontotal fehlende Ton besonders herausgehoben.
– Die Lage der vorkommenden Töne bleibt hoch bzw. mittel und setzt in diesem Sinn [A2]1–2 und [A1] fort.
Beispiel 12: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]3 als ›Wucherung‹ von [A1] und [A2]2, © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
Audiobeispiel 5: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]3
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Auch die Mikrogruppe [A2]4 knüpft an zuvor präsentierte Merkmale an (vgl. Bsp. 8):
– Die am Anfang stehenden Vor- und Nachschlagsnoten bilden zusammen mit dem Tonzentrum cis die set class 5-1 (01234) und damit, wie in [A1], einen chromatischen Tonvorrat, der (ebenfalls chromatisch) zum darauffolgenden Ton (H1) führt (Bsp. 13).
– Hier treten zum ersten Mal Töne in einer deutlich tieferen Lage auf. Diese sind in den ersten sechs Klangereignissen wie in [A2]2 seriell organisiert; das Prinzip einer Reihe aus sechs Elementen wird hier auf die Anzahl der simultanen Tonhöhen (1-3-2-4-5-6) und deren notierte Dauern (4-1-6-5-3-2 Zweiunddreißigstel) angewandt (Bsp. 14).
– Während die Dynamik in [A2]2 annähernd konstant bleibt, folgen die kontrastreichen dynamischen Angaben der Klangereignisse in [A2]4 ebenfalls einer seriellen Organisation (ff-sfz-pp-ppp-f-fff-p).
– Bis auf zwei Ausnahmen (ais/Ais1 und H/H2) ist auch den Tonhöhen in [A2]4 eine fixierte Lage zugewiesen.
– Hier erhält man, notiert man alle angeschlagenen Töne in ihrer tatsächlichen Lage übereinander, einen zwölftönigen Akkord, vergleichbar der Tendenz zum Zwölftontotal in [A2]2 (Bsp. 14).
– Wiederum ist dieser Akkord aus Terzschichtungen aufgebaut, denen hier Ganztonintervalle zur Seite treten (Bsp. 14).
Beispiel 13: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]4, Tonzentrum cis mit Vor- und Nachschlagsnoten
Beispiel 14: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]4, Zwölftonakkord/Terzschichtungen (links), Anzahl der simultanen Tonhöhen und Dauern der ersten sechs Klangereignisse (rechts)
Audiobeispiel 6: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]4
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Strukturell gesehen variiert auch die Mikrogruppe [A2]5 bereits vorgestellte Strukturen:
– Die statische Struktur eines einzigen Tonzentrums mit Vor- und Nachschlagsnoten entspricht dem Aufbau von [A2]1. Die Lage in [A2]5 ist allerdings sehr tief, außerdem besitzt das Tonzentrum hier mehrere Vor- und Nachschläge.
– Die Intervallstruktur der Vor- und Nachschläge des Tonzentrums (E1) entspricht beinahe zur Gänze dem Aufbau der Grundreihe (Bsp. 15, vgl. Bsp. 3). Eine Abweichung stellt das A2 dar – die Transposition der Originalreihe würde an dieser Stelle ein ais verlangen.
Beispiel 15: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]5, Tonhöhenreihe (links); Reihenform R11 (rechts)
Audiobeispiel 7: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]5
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Schließlich werden auch in [A2]6 zuvor benutzte Verfahren verwendet (Bsp. 16):
– Alle vorkommenden Tonhöhen ergeben einen elftönigen Akkord (zu einem Zwölftonakkord fehlt ein c).
– Die Struktur der Mikrogruppe entspricht großteils dem schrittweisen Aufbau eines komplexen Akkordes (inklusive der am Beginn stehenden Vorschlagsnoten). Dabei sind wiederum (mit drei Ausnahmen), wie in [A1] und [A2]2, Terzschichtungen im Tonvorrat der Gruppe zu erkennen, wenn man die Tonhöhen in ihrer tatsächlichen Lage notiert (ais-d1-f1-gis1-h1 / fis2-a2-cis3 / dis3-g3).
– Zudem enthält auch [A2]6 eine Reihe sukzessiver Terzfortschreitungen. Besonders fallen die beiden Schritte cis3-a2 und g3-dis3 auf, welche strukturell gesehen den Beginn des Stücks (e3-c3 im Vorschlag zum ersten Tonzentrum) in Erinnerung rufen können.
Beispiel 16: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]6, Elftonakkord (links); Terzfolgen (rechts)
Audiobeispiel 8: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]6
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Diese Detailanalyse des Abschnitts [A] zeigt insgesamt, wie die Struktur eines seriellen Stücks im Zusammenhang mit ihrer musikalischen Klanglichkeit beschrieben werden könnte. Das Stück basiert in erster Linie auf sechswertigen Reihenstrukturen; diesem Grundriss sind allerdings verschiedene Materialien hinzugefügt. Da es zu diesen Hinzufügungen keine spezifischen Skizzen gibt, wurden sie hier deskriptiv bzw. statistisch analysiert. Die kompositorischen Entscheidungen halten also eine Balance zwischen struktureller Homogenität und Variabilität; der Homogenität dienen u.a. die Beschränkung auf sechswertige Reihenformen und deren Anwendung auf alle Parameter sowie die Entscheidung für fixierte Oktavlagen, während etwa Ergänzungen durch reihenfremde Töne Variabilität schaffen. In diesem Zwischenraum oder Spannungsfeld von serieller Homogenität und unvorhersehbarer, jedoch durch den Kontextbezug stets nachvollziehbarer Variabilität zeigt sich die Entwicklung von der Matrix zur Geste.
4. Aspekte der Hörwahrnehmung
Wie zuvor schon angedeutet, lässt sich besonders bei Werken serieller Musik von einer strukturellen Analyse des Materials kaum direkt auf den Höreindruck schließen. Die für den Kompositionsprozess und die Konstruktion relevanten Elemente eines seriell konzipierten Stücks schlagen sich auf das musikalische Hören nicht unbedingt in linearer Weise wahrnehmbar nieder. Im folgenden Abschnitt soll daher nun besonderes Augenmerk auf solche Elemente des Klavierstück V gerichtet werden, die sich deutlich auf die wahrnehmbare Form und Struktur auswirken. In dieser grundsätzlich morphologisch orientierten Annäherung an die Klangstrukturen des Klavierstücks unterscheide ich dabei zwischen drei Typen von Gestalten (a. aktive Flächen, b. Akkorde mit Auftakt, c. steigernde Gesten) und zwei Typen von strukturbildenden Merkmalen (a. Intervalle, b. fixierte Tonhöhenlagen). Alle fünf Typen wirken zusammen mit weiteren Faktoren (agogische Eigenschaften, Pausen bzw. Töne von auffallend langer Dauer, abrupte Lagenwechsel) als wahrnehmungsrelevante formbildende Merkmale.
Gestalten
Wie anhand des Abschnitts [A] festgestellt wurde, bildet sich der Verlauf des Klavierstück V oftmals durch ›wuchernde‹ Erweiterungen bereits vorgestellten Materials. Diese Art des Wachstums erstreckt sich über das gesamte Stück. Gleichzeitig ist noch eine andere Form der Weiterentwicklung zu beobachten, die aus einzelnen klar konturierten Gestalten mittels einer Art variierter Wiederholung verwandte neue Gestalten entstehen lässt. Fallweise treten auch Mischungen mehrerer untereinander verwandter oder kontrastierender Gestalten auf. Einige dieser Gestalten sollen im Folgenden kurz charakterisiert werden:
a) Aktive Flächen
Hier als ›aktive Flächen‹ bezeichnete Mikrogruppen des Stücks besitzen im Allgemeinen folgende typische Eigenschaften: eine zu den vorangegangenen oder nachfolgenden Mikrogruppen in Kontrast stehende Vielzahl an Klangereignissen, serielle Organisation (z.B. der Anzahl der Anschläge, der dynamischen Anweisungen usw.) und fast ausschließlich fixierte Lagen der Tonhöhen (bei Tonwiederholungen).
Die erste im Stück auftretende aktive Fläche ist die Mikrogruppe [A2]2 (Bsp. 17, vgl. Bsp. 8). In Folge treten verschiedene Varianten ähnlich konstruierter Flächen auf, z.B. [A2]4, [B1], [C1]3.
Beispiel 17: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]2, ›aktive Fläche‹, © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
Audiobeispiel 9: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]2, ›aktive Fläche‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Audiobeispiel 10: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]4, ›aktive Fläche‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Audiobeispiel 11: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [B1], ›aktive Fläche‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Audiobeispiel 12: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [C1]3, ›aktive Fläche‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Ein Extremfall erscheint in [D2]1 (Bsp. 18): An dieser Stelle treten die für die aktiven Flächen typischen Zweiunddreißigstelfolgen ohne Pausen, d.h. in ihrer dichtesten Form auf. Diese Mikrogruppe umfasst zudem drei sehr dicht aufeinander folgende agogische Anweisungen: a tempo, ritardando und accelerando.
Beispiel 18: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [D2]1, ›aktive Fläche‹, © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
Audiobeispiel 13: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [D2]1, ›aktive Fläche‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
b) Akkorde mit Auftakt
Ein ›Akkord mit Auftakt‹ bezeichnet hier die Abfolge eines oder mehrerer vorbereitender Klangereignisse und eines mit oder ohne trennende Pause anschließenden Akkordes, d.h. eines komplexen mehrtönigen Klangs. In den meisten Fällen geschieht die Vorbereitung durch einen Einzelton, der, obwohl meist nicht so notiert, quasi als Vorschlag zum Akkord fungiert. Der Abstand zwischen dem vorangehenden Ereignis und dem Akkord kann variieren.
Eine solche Figur tritt im Klavierstück V zum ersten Mal in [A2]3 auf (Bsp. 19).
Beispiel 19: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]3, ›Akkord mit Auftakt‹, © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
Audiobeispiel 14: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A2]3, ›Akkord mit Auftakt‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Im Verlauf des Stücks finden sich mehrere Varianten (z.B. [B2]4, [E2]6, [F1]2). An der Stelle [B2]4 (Bsp. 20) besteht der Auftakt der Figur aus einem Einzelton in der linken Hand. Der darauffolgende Akkord wird hier – quasi ›tonal‹ – ›aufgelöst‹.
Beispiel 20: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [B2]4, ›Akkord mit Auftakt‹, © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
Audiobeispiel 15: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [B2]4, ›Akkord mit Auftakt‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Audiobeispiel 16: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [E2]6, ›Akkord mit Auftakt‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Audiobeispiel 17: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [F1]2, ›Akkord mit Auftakt‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Einen Sonderfall stellt [E1]2 dar (Bsp. 21): An dieser Stelle ist das vorbereitende Ereignis (das Tonzentrum e1) außergewöhnlich lang und laut (forte), wird zunächst über verschiedene Klangereignisse hinweg, welche von einem piano ausgehen, ausgehalten, dann nochmals (innerhalb eines Akkords) forte angeschlagen und ausgehalten, bevor der Zielakkord erreicht wird und verklingt.
Beispiel 21: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [E1]2, ›Akkord mit Auftakt‹, © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
Audiobeispiel 18: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [E1]2, ›Akkord mit Auftakt‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
c) Steigernde Gesten
›Steigernde Gesten‹ treten im Klavierstück V an drei Stellen auf: [B3]1 (Bsp. 22), [B6]4, [F5]1. Diesen drei Gestalten ist gemein, dass sie einen dichten, ›explosiven‹ Verlauf darstellen: Sie sind steigende oder fallende crescendierende Motive, deren heftig anschwellender Klang jeweils durch gehaltenes Pedal verstärkt wird. Ihre Rhythmik ist relativ schlicht und die Tonhöhen tendieren zu extremen Lagen.
Beispiel 22: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [B3]1, ›steigernde Geste‹; © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
Audiobeispiel 19: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [B3]1, ›steigernde Geste‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Audiobeispiel 20: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [B6]4, ›steigernde Geste‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Audiobeispiel 21: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [F5]1, ›steigernde Geste‹
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Strukturbildende Merkmale
Zu den deutlich wahrnehmbaren strukturellen Elementen im Klavierstück V zählen auch durch Wiederholung oder Wiederkehr hervorgehobene Intervalle sowie fixierte Tonhöhenlagen. Durch das wiederholte Auftreten von Intervallen und Tonhöhen entstehen beim Hören gut nachvollziehbare Konstellationen.
a) Intervalle
Abgesehen von der wichtigen Bedeutung von Terzen für die Tonhöhendisposition (vgl. 3.) treten Terzen auch immer wieder als distinkt wahrnehmbare Intervallschritte bzw. Zusammenklänge auf. Der konsonante Eindruck dieser Momente hebt sich stark von dem durch eine serielle Streuung von Intervallen geprägten Gesamtklang des Klavierstück V ab. Solche exponiert auftretenden Terzschritte gibt es z.B. in [A1] (zum Beginn des Stücks), in [A2]6 und in [F4]2 (Bsp. 23). In der ersten und zweiten Fassung steht an dieser Stelle nur ein Einzelton (H1).
Beispiel 23: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, Terz in [F4]2, © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
b) Fixierte Tonhöhenlagen
Die Zuordnung bestimmter Tonhöhen zu einer bestimmten Lage innerhalb eines Abschnitts kann, wie oben bereits erwähnt, beim Hörer das Gefühl eines stehenden Klangs hervorrufen. Die durch die Lagenfixierung entstehenden Tonwiederholungen vermitteln Zusammenhang und Strukturiertheit. Besonders die dichteren Stellen des Stücks (z.B. [A2]2, [A2]4, [C1]3) erhalten durch Tonwiederholungen in derselben Lage eine spezifische Ordnung, wobei alle zwölf Tonhöhen in der Lage fixiert sein können (vgl. [C1]3, Bsp. 24/25).
Beispiel 24: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [C1]3, © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
Beispiel 25: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [C1]3, fixierte Tonhöhenlagen
Formbildende Merkmale
Die eben beschriebenen strukturbildenden Eigenschaften des Klavierstück V wirken zusammen mit den zuvor diskutierten Gestalten und weiteren Faktoren als formbildende Qualitäten. Zu diesen weiteren Faktoren zählen z.B. agogische Eigenschaften, Pausen bzw. Töne von auffallend langer Dauer und akute Lagenwechsel.
Deren Effekt sei an folgendem Beispiel verdeutlicht: In der Hörwahrnehmung besitzt der Abschnitt [A] eine gewisse Symmetrie (vgl. Bsp. 8): Die Mikrogruppen [A1] bis [A2]3 können als eine musikalische Phrase, die Mikrogruppen [A2]4 bis [A2]6 als eine zweite wahrgenommen werden. Dies ist dadurch bedingt, dass [A2]3 und [A2]6 ruhigen, schließenden Charakter haben, der durch Reduktion der Klangereignisse, Ritardando, (vergleichsweise langes) Ausklingen der Töne und/oder den Einsatz von Pausen und leise bzw. leiser werdende Dynamik hervorgerufen wird.[58] Das Ritardando in [A2]6 ist analog zu jenem in [A2]3 zu sehen, wirkt in seiner Ausführung jedoch deutlicher, da der schließlich liegenbleibende Akkord nicht wie in [A2]3 simultan, sondern vorwiegend aufwärts arpeggierend angeschlagen wird. Dadurch kann der Abschnitt [A1]1–[A2]6 beim Hören als eine zweigeteilte große musikalische Phrase wahrgenommen werden, während dieser Abschnitt konzeptionell in acht Mikrogruppen unterteilt ist (vgl. Tab. 10).
Tabelle 10: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, notierter Aufbau vs. gehörte Phrasen in [A] und [B]
(Seitenangaben beziehen sich auf die gedruckte Partitur)
Audiobeispiel 22: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [A] und [B]
(Karlheinz Stockhausen. Klavierstücke I–XI, Herbert Henck, Wergo WER 60135/36-50, 1987, Aufnahme 1985/1986)
Auch der Abschnitt [B] kann auf analoge Weise interpretiert werden (vgl. Tab. 10). Eine erste Phrase bildet sich hier zunächst von Dis1 bis Fis (Phrase III) und wird begrenzt durch einen abschließenden Akkord mit Auftakt vor a tempo. Die darauffolgende lange Phrase reicht von Gis1 bis D1 (Phrase IV) und beschreibt zunächst eine aufsteigende, dann eine absteigende Geste bis sie auf einem im Kontext sehr tiefen Einzelton endet. Die nächste Phrase (Phrase V) umfasst einen sehr reichen Tonvorrat und verläuft zunächst in einem kontinuierlichen molto accelerando bis zum folgenden a tempo. Sie endet auf dem c5 mit einem Akkord mit Auftakt, vergleichbar mit dem Ende von Phrase III. Hier wird der schließende Eindruck durch eine anschließende lange Pause zusätzlich verstärkt. Die letzte Phrase des Abschnitts [B] (Phrase VI) verläuft zwischen dem c5 und dem folgenden, durch ein neues Tempo bezeichneten Abschnitt [C].
Dies zeigt, dass notierte Gruppierung und gehörte Gruppierung einander nicht immer entsprechen. Dieser Unterschied ist in Tabelle 10 verdeutlicht und zusammengefasst. Auf dieselbe Weise lässt sich das gesamte Stück unter Verwendung der oben dargestellten Merkmale im Hinblick auf die Phrasenwahrnehmung untersuchen; in [E3]3 z.B. trennt ein einschneidender akuter Lagenwechsel zwei gehörte Phrasen voneinander. Hier wird nahtlos von einer sehr tiefen Lage (Gis1) zu einer im Vergleich sehr hohen (e3) übergegangen (Bsp. 26). An dieser Stelle ist das Zusammenfallen von Phrasenende und -beginn deutlich hörbar, wobei dieser Übergang keine Analogie in der Gliederung der Mikrogruppen besitzt.
Beispiel 26: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück V, [E3]3, Lagenwechsel, © copyright 1965 by Universal Edition (London) Ltd. London
5. Zusammenfassung und Diskussion
»Die ›serielle‹ Entwicklung der fünfziger Jahre«, so Boulez, »beruhte im Wesentlichen auf der Utopie, dass die Schreibweise das Phänomen hervorbringe; die Strenge des technischen Apparats sollte unausgesprochen die ästhetische Gültigkeit garantieren.«[59] Dennoch war auch in der seriellen Musik die minutiöse Ausführung von Kompositionsgesetzen nicht allein Garant einer Verwirklichung der ästhetischen Intention. Wie die Analyse gezeigt hat, sind neben der mehrheitlich strengen Einhaltung von zuvor aufgestellten Kompositionsprinzipien zahlreiche weitere kompositorische Entscheidungen zu treffen, die nicht auf diesen im Vorfeld bestimmten Gesetzmäßigkeiten basieren.
Ein Verweis auf vorkompositorische Stadien (Reihen, Tabellen usw.) oder das Aufzeigen von Beziehungen zwischen einzelnen Materialebenen des Stücks ist für eine substantielle Annäherung an ein serielles Werk zwar unerlässlich, greift allein aber zu kurz. Erst das Wechselspiel von Struktur und Hörerfahrung lässt die analysierbaren Elemente eines seriellen Werks greifbar werden:
Für ästhetische Überlegungen müßte demnach ein anderer Beziehungsbegriff zugrunde gelegt werden. Relevant für diese Fragen sind nicht die Beziehungen zu Materialfeldern, sondern die konkreten Beziehungen, in welche der Komponist das Material »gesetzt« hat, und das sind zeitliche Beziehungen, in denen die musikalischen Figuren oder Gewebe erscheinen.[60]
Auch im Falle von Stockhausens Klavierstück V muss eine Analyse über die Dokumentation der seriellen Organisationsprinzipien hinausgehen. Formal gesprochen ist in diesem Werk ein durchaus als ›klassisch‹ zu bezeichnendes Form-Zeit-Modell zu erkennen, in dem Detail und Ganzes eng aufeinander bezogen sind. Die Analyse legt die Vermutung nahe, dass das Klavierstück V in einem deduktiven kompositorischen Prozess entstanden sein dürfte: vom Großen ins Kleine. Es ist ein selbstähnliches Schema der formalen Organisation festzustellen, das, mit Hilfe der sechswertigen Matrix-Reihen, von der formal größten Ebene bis in die formal kleinste angewendet – und dabei vielfach modifiziert – wird.
In diesem Zusammenhang ist zudem zu erwähnen, dass nicht nur die formale Organisation des Stücks an historische Kompositionsmethoden erinnert. Verschiedene expressive Elemente im Klavierstück V beziehen sich deutlich auf charakteristische Figuren und Gesten in der Klaviermusik der Spätromantik und des Expressionismus: agogische Anweisungen, lange Pausen, die Inszenierung musikalischer Erwartung bzw. Ungewissheit sowie nicht seriell organisierte dynamische Anweisungen (z.B. Crescendi/Decrescendi, mit sempre bezeichnete dynamische Angaben etc.). Auch viele weitere der im Abschnitt über Hörwahrnehmung benannten Elemente fallen in diese Kategorie. In diesem Sinne greift Stockhausen abgesehen von unverkennbar seriellen Kompositionsprinzipien – bewusst oder unbewusst – auch auf historische Ausdruckstopoi zurück.
Wie im Falle anderer serieller Werke, so erfordert auch die analytische Betrachtung des Klavierstück V neue Methoden. Wie die in diesem Aufsatz vorgelegte Analyse gezeigt hat, ist ausschließlich durch deskriptive Vorgehensweisen keine zufriedenstellende Annäherung an den ästhetischen Gehalt des Stücks zu erreichen. Erst eine behutsame Interaktion zwischen Strukturanalyse und der Integration von Dimensionen der Hörerfahrung enthüllt Elemente, die geeignet sind, die in serieller Analyse stets besonders deutlich drohende Kluft zwischen Geschriebenem und Gehörtem zu schließen.
Anmerkungen
Dieser Aufsatz beruht auf meiner im Februar 2015 im Fach Musiktheorie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz eingereichten wissenschaftlichen Bachelorarbeit mit dem Titel Analytische Betrachtungen zu Karlheinz Stockhausens Klavierstück V. Ich bedanke mich ganz herzlich bei der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz für die finanzielle Unterstützung meiner Reise ins Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik Kürten im Sommer 2016. | |
Vgl. Kurtz 1988, 47f. | |
Vgl. Maconie 1990, 8. | |
Stockhausen 1951/64, 11. | |
Ebd. | |
Eggebrecht 1972, 1. | |
Ebd., 3. | |
Stockhausen 1952/53/63, 18f. | |
Stockhausen 1958/63, 32. | |
Ebd., 35. | |
Vgl. Stockhausen 1961/63, 230. Das Klavierstück III findet sich in dieser Einteilung Stockhausens nicht unter den punktuellen, sondern unter den Gruppenkompositionen. Blumröder scheint allerdings für eine Zuordnung des Stücks zur punktuellen Musik zu plädieren. Er verweist auf Eggebrechts Definition der punktuellen Komposition als »auf die Determination des jeweiligen Einzeltons gerichtete Phase seriellen Komponierens« (Blumröder 1993, 153). | |
Stockhausen 1952/53/63, 19. | |
Stockhausen 1955/63, 63 (Hervorhebungen original). | |
Vgl. Frisius 1996, 133. | |
Ebd. | |
Vgl. Blumröder 1985, 7. | |
Vgl. Stockhausen 1955/63. | |
Ebd. | |
Stockhausen 1953/63, 24 | |
Stockhausen 1955/63, 63. | |
Stockhausen 1953/63, 26 (Hervorhebung original). | |
Vgl. Stockhausen 1961/63, 232. | |
Stockhausen schreibt im Juni 1953 an Wolfgang Steinecke, dass sich das Manuskript für die Klavierstücke entweder bei Pierre Boulez oder der Pianistin Yvonne Loriod befinde (vgl. handschriftlicher Brief von Stockhausen an Wolfgang Steinecke, 14.6.1953, in: Misch/Bandur 2001, 70). | |
Kontra-Punkte war zu diesem Zeitpunkt schon unter der Leitung von Hermann Scherchen eingespielt worden; der Mitschnitt existierte auf Tonband (vgl. handschriftlicher Brief von Stockhausen an Wolfgang Steinecke, 4.7.1953, in: ebd., 71). | |
Vgl. Stockhausen 1961/63, 230. | |
Vgl. ebd., 231. | |
Vgl. Maconie 1990, 44. | |
Vgl. Harvey 1975, 21f. | |
Maconie 2016, 127. | |
Vgl. Misch/Bandur 2001, 76. | |
Vgl. Henck 1976 und 1980; Krystka 2015. | |
Archivnummern im Stockhausen-Archiv Kürten: erste Fassung: »Klavierstücke I–X #2.03–#2.05«; Reinschrift der ersten Fassung: »Klavierstücke I–X #2.09–#2.10«; zweite Fassung: »Klavierstücke I–X #3.01–#3.04«; Reinschrift der zweiten Fassung: »Klavierstücke I–X #3.09–#3.12«; Druckvorlage der zweiten Fassung: »Klavierstücke I–X #10.01–#10.07«; dritte Fassung: »Klavierstücke I–X #6.04–#6.06«. | |
Pereira de Tugny 1995. | |
Vgl. Decroupet 1997, 312–317. | |
Skizzenblatt »Klavierstücke I–X S. 01« im Stockhausen-Archiv Kürten. | |
Skizzenblatt »Klavierstücke I–X #2.01« im Stockhausen-Archiv Kürten. | |
Decroupet 1997, 316, Anm. 87. | |
Vgl. Maconie 1990, 69f. | |
Skizzenblatt »Klavierstücke I–X S. 01«, Stockhausen-Stiftung für Musik Kürten. | |
Skizzenblatt »Klavierstücke I–X #2.01«, Stockhausen-Stiftung für Musik Kürten. | |
Vgl. Pereira de Tugny 1995, 13. | |
Vgl. ebd., 13f. | |
Toop 1983, 349. | |
Stockhausen 1956/63, 114–117. | |
Stockhausen 1954, 1. | |
Im Folgenden werden die verschiedenen Makro- und Mikrogruppen des Stücks abgekürzt; [A2]1 bezeichnet demnach den ersten Abschnitt [A], dessen zweite Makrogruppe [A2] und deren erste Mikrogruppe. | |
Im Skizzenmaterial (Skizzenblatt »Klavierstücke I–X #2.01« im Stockhausen-Archiv Kürten) werden die Proportionen mit E und F bezeichnet (z.B. E4/F5), jedoch ist nicht zu klären, wofür diese Abkürzungen stehen. | |
Vgl. Pereira de Tugny 1995, 15. | |
Mosch 2004, 40. | |
Boulez 1963, 14. | |
Mosch 2004, 41f. | |
Ebd., 43. | |
Ebd., 82. | |
Stockhausen 1954/63, 77 (Hervorhebung original). | |
Vgl. ebd., 79; Stockhausen verwendet diese Begriffe in Bezug auf Dichteveränderung. | |
Ebd., 85. | |
Die ersten sechs Töne des Klavierstück V entsprechen dem transponierten Krebs der ersten sechs Töne des Klavierstück I (1952). Insgesamt ergeben diese beiden Hexachorde ein vollständiges Zwölftonaggregat. | |
[A2]3 und [A2]6 haben außerdem dieselbe Dauer (neun Achtel). | |
Boulez 1981/2000, 297. | |
Mosch 2004, 84f. |
Literatur
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Universität für Musik und darstellende Kunst Graz [University of Music and Performing Arts Graz]
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