Dahlhaus und die Poetik des Zweifels
Thomas Christensen
Es ist mir eine große Freude und Ehre, auf dieser Konferenz zu Carl Dahlhaus und der Musiktheorie zu Ihnen sprechen zu dürfen. Als einziger nichtdeutscher Teilnehmer fühle ich mich jedoch ein wenig befangen. Denn meine Perspektive ist eindeutig die eines Außenseiters: Ich stehe außerhalb der deutschen Institutionen für Musiktheorie und Musikwissenschaften und außerhalb der intellektuellen Tradition, in der sich Dahlhaus bewegte. Ich wurde durch die amerikanische Musiktheorie geprägt, die den Problemen und Antworten in vielerlei Hinsicht zwiespältig gegenübersteht, mit denen sich Carl Dahlhaus – ebenso wie viele von Ihnen hier – so eingehend beschäftigte. Meine Beziehung zu seinem Werk ist daher das Ergebnis einer langsamen Annäherung. Ich hoffe also, dass Sie mir verzeihen, wenn ich meine Ausführungen mit einer persönlichen Erinnerung an meine erste Begegnung mit diesem außergewöhnlichen Mann und seinem Werk beginne und Ihnen erzähle, wie ich zu einem Verständnis seiner Ansätze gekommen bin und sie schließlich für meine eigene Arbeit nutzen konnte.
In den frühen 1980er Jahren war ich ein eifriger junger Student der Musikwissenschaften an der Universität Yale. Damals hatte ich gerade angefangen, ein wenig Deutsch zu lernen. Ich erinnere mich jedoch nicht, als Student viel von Dahlhaus gelesen zu haben. Sie müssen bedenken, dass damals erst sehr wenige seiner Schriften ins Englische übersetzt waren. In Yale kannten wir damals vor allem ›Schenker and sets‹, wie wir es nannten. Zur Analyse tonaler Musik lernten wir mindestens zwei Jahre lang Schenker’sche Musiktheorie, und für die Analyse atonaler Musik des 20. Jahrhunderts stand Allen Fortes Theorie der pitch-class sets bereit. Das alles war streng systematische und positivistische Musiktheorie, die sich wenig um gesellschaftliche oder epistemologische Fragen kümmerte. Für uns war es ganz selbstverständlich, dass wir diese beiden zentralen theoretischen Ansätze auf die beiden grundlegenden Musikrepertoires – ›tonale‹ und ›atonale‹ Musik – anwendeten, mit denen wir uns zu beschäftigen hatten. Was brauchten wir mehr, um Musik zu analysieren und zu interpretieren?
Zu meinem Glück beschränkte sich meine Erfahrung nicht nur auf ›Schenker and sets‹, denn ich hatte noch andere Lehrmeister mit sehr viel weiterem Horizont. Zu meinen Professoren in Yale zählten auch Claude Palisca und David Lewin. Obwohl die beiden von ihrem intellektuellen Temperament her kaum unterschiedlicher hätten sein können, teilten sie doch ein tiefgehendes Interesse an historischer Musiktheorie. Und ich hatte das Glück, bei beiden Professoren Lehrveranstaltungen zu unterschiedlichen Aspekten der Musiktheoriegeschichte zu besuchen. Bei Palisca ging es um die Musiktheoriegeschichte vor 1700, in Lewins unvergesslichem Seminar um die Musiktheorie Rameaus und später Riemanns. Diese Veranstaltungen öffneten mir die Augen dafür, dass Musiktheorie keine immanent-empirische Wissenschaft ist, die außerhalb von Geschichte und Kultur existiert. Vielmehr belegte die Kurslektüre, von mittelalterlichen Abhandlungen über Rameaus Traité de l’harmonie bis zu Riemanns Vereinfachter Harmonielehre, dass die theoretischen Ansätze tief in der Kultur, Sprache und Erfahrung des jeweiligen Theoretikers verwurzelt sind. Dies war für mich eine persönliche kopernikanische Wende. Plötzlich wurde mir vieles an Schenkers Theorie klar, womit ich vorher zu kämpfen hatte und was mir so eigenartig und rhetorisch abstoßend vorgekommen war. Schenkers Theorie war – genau wie die von Rameau oder Hucbald – eng mit seinem intellektuellen und gesellschaftlichen Leben verknüpft. In seinem Fall waren dies seine Erfahrungen als assimilierter, bürgerlicher Jude im Wien des ausklingenden 19. Jahrhunderts. All dies mag für heutige Ohren vollkommen selbstverständlich klingen. Aber für mich war es damals, im Jahr 1982, eine Erleuchtung. Und ich wusste sofort, dass dieser entlegene Zweig unseres Fachs mein Forschungsgebiet werden würde: die Geschichte der Musiktheorie.
Ungefähr zu jener Zeit stieß ich zum ersten Mal auf einige Schriften von Carl Dahlhaus. Ich erinnere nicht mehr, welche es waren. Aber ich weiß noch, wie ich mich durch seine sehr dichten, deutschen Texte quälte und dachte, was für eine faszinierende und für mich völlig neue Art dies war, über Musik zu sprechen. Gleichzeitig verunsicherte es mich, denn was ich von Dahlhaus las, begegnete vielen meiner grundlegendsten Annahmen über Musikgeschichte und Musiktheorie scheinbar mit Verdacht und Argwohn. Kein Dogma schien seiner unerbittlichen Dialektik standhalten zu können. Ich fragte mich schließlich, ob sich überhaupt noch irgendetwas mit einem Rest von Sicherheit über Musik sagen ließe. Könnte je eine analytische Beobachtung unter seinem skeptischen Blick bestehen? Tief in meinem Herzen war ich wohl immer noch Positivist.
Und doch war die Lektüre unwiderstehlich. Nie zuvor war mir ein Musikwissenschaftler begegnet, der sich so gut mit historischer Musik auskannte, dessen Kenntnis der theoretischen Literatur so unerschöpflich schien und der ein so breites, humanistisches Verständnis der geschichtlichen, ästhetischen und philosophischen Kontexte von Musik hatte. Außerdem hatte ich nie einen Musikwissenschaftler gelesen, der seine Vorgänger und Zeitgenossen so furchtlos kritisierte und aburteilte – jedenfalls bis ich auf Richard Taruskin stieß. Ich war vollkommen eingeschüchtert. Wie wahrscheinlich uns allen hier war mir schleierhaft, wie ein einzelner Mensch sich so viel Wissen aneignen konnte, und wie um alles in der Welt er die Zeit fand, eine derart Ehrfurcht erregende Menge an Texten zu produzieren.
Natürlich war der Weg dorthin kein leichter. Dahlhaus’ Texte sind für niemanden einfach zu verstehen, und erst Recht nicht für einen Amerikaner mit sehr rudimentären Deutschkenntnissen. In den folgenden Jahren versuchte ich, einige seiner wichtigsten Werke systematischer zu lesen. Ich weiß noch, dass ich viel Zeit mit den Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität verbrachte und dabei seitenweise Notizen schrieb. Wenn ich mir diese Notizen heute ansehe, sehe ich immer wieder Fragezeichen neben vielen Textpassagen. Es fiel mir nach wie vor schwer, seine Denkweise mit meinem eigenen kulturellen Hintergrund in Einklang zu bringen. Aber ich erkannte auch, dass dieser Text jeden, der sich mit historischer Theorie befasste, vor eine grundlegende epistemologische Herausforderung stellte. Das alles war sehr irritierend. Und es war klar, dass ich es nicht länger vermeiden konnte, mich eingehender mit seinen Ideen zu beschäftigen.
Kurz vor meinem Abschluss in Yale, im Jahre 1985, fasste ich also den Entschluss, nach Europa zu gehen und bei Dahlhaus zu studieren. Ich war zuvor bereits ein paar Mal in Deutschland gewesen und dachte, ich könne genug Deutsch, um mich durchzuschlagen. (Eine naive Annahme, wie sich bald herausstellen sollte!) Ich war auch schon mehrmals nach Berlin gereist. Bei einem dieser Aufenthalte stellte mir Claude Palisca den damaligen Leiter des Instituts für Musikforschung und Herausgeber der gerade begonnenen Buchreihe Geschichte der Musiktheorie vor, Frieder Zaminer. Über Zaminer wiederum lernte ich Dahlhaus kennen und hatte Gelegenheit, mit ihm über meine Dissertation zu Rameau zu sprechen. Das war eine nervenaufreibende Erfahrung, aber gleichzeitig auch extrem bereichernd. Seine Reaktion auf meine Arbeit war sehr warmherzig, und er bestärkte mich in meiner Absicht, nach Berlin zu kommen. Weiterer Aufforderung bedurfte es nicht. Dank seiner Unterstützung und einem Post-Doc-Stipendium des DAAD genau zur rechten Zeit konnte ich im Januar 1986 nach Berlin fliegen, um dort ein neues Kapitel meiner Laufbahn als Musikwissenschaftler aufzuschlagen.
Doch wie sich herausstellte, war das Schicksal nicht auf meiner Seite. Denn zu diesem Zeitpunkt verschlechterte sich Dahlhaus’ Gesundheit, die ohnehin nicht sehr stabil war, immer stärker. Einen Großteil des Semesters, in dem ich seine Seminare an der Technischen Universität belegen wollte, war er krank. (Ich weiß noch, dass es in seinen Vorlesungen um Beethoven ging.) Doch selbst wenn er in der Universität war, war es schwer, ihn zu treffen. So viele Studenten buhlten um seine Zeit und Aufmerksamkeit. Ich war an ein amerikanisches System gewöhnt, bei dem ein Seminar von höchstens 4 bis 5 Studenten besucht wurde, jedenfalls in Yale. In Berlin waren es 20 bis 30. Ich hatte Wunschträume gehabt, in denen Dahlhaus und ich entspannte Nachmittage im Biergarten mit idyllischem Blick auf den Wannsee verbrachten und kalte Berliner Kindl tranken oder durch den Grunewald schlenderten, vertieft in stundenlange Gespräche über die Feinheiten von Rameaus ›basse fondamentale‹ oder Schenkers Theorie der Urlinie. Diese Wunschvorstellungen verpufften im Nichts. Ehrlich gesagt bin ich ihm in jenem Jahr kaum begegnet.
Das bedeutet jedoch nicht, dass meine Zeit in Berlin umsonst war. Ich hatte trotz allem den Eindruck, sehr viel von Dahlhaus zu lernen. Nicht in den langen gemeinsamen Spaziergängen, die ich mir vorgestellt hatte, und auch nicht in intensiven Seminaren, sondern ganz altmodisch über das gedruckte Wort: Ich las in jenem Jahr viele seiner Texte. Außerdem lernte ich viel in Diskussionen mit einigen seiner Studenten und Assistenten. Zu meinen Gesprächspartnern zählte auch Stephen Hinton, der heute an der Universität Stanford lehrt. Stephen war mehrere Jahre lang Assistent von Dahlhaus gewesen und konnte dessen Einwände besser als irgendjemand sonst erklären – so gut, dass auch ein blauäugiger amerikanischer Student zu verstehen begann.
Obwohl ich also streng genommen nicht behaupten kann, dass ich bei Dahlhaus selbst studiert habe, hatte er in jenem Jahr einen deutlich spürbaren Einfluss auf mich. Ich hielt, wie wir alle damals, an der Hoffnung fest, dass sein Gesundheitszustand sich wieder stabilisieren würde. Doch es wurde klar, dass seine Erkrankung schwerer wog als unsere Hoffnung. In den folgenden Jahren hatte ich ein paar weitere Gelegenheiten, ihn zu sehen, wenn ich in Europa war. Einmal zeigte ich ihm eine meine ersten Veröffentlichungen als junger Assistant Professor, damals noch an der University of Pennsylvania. Es war eine Rezension der Grundzüge einer Systematik[1], und ich habe keine Ahnung, warum ich sie ihm zeigte. Obwohl es eine begeisterte Kritik seines Buches war, hatte ich die Unverfrorenheit besessen, seinen Stil zu bemängeln, worüber er sich sicher nicht freute. Doch er nahm es mir nicht übel. Wir sprachen über einen möglichen Amerikabesuch, wenngleich er bezweifelte, dass sein Gesundheitszustand es ihm erlauben würde, die Einladung anzunehmen. Doch ich hoffte weiterhin. Das letzte Mal sah ich Dahlhaus im Sommer 1988 bei einer Konferenz der International Musicological Society in Bologna. Er war eindeutig sehr krank, dabei jedoch geistig vollkommen bei Kräften und voller Interesse für die Vorträge. Wie wir heute wissen, hatte er damals noch weniger als ein Jahr zu leben. Im Herbst 1989 erhielt ich ein Fulbright-Stipendium, das es mir ermöglichte, nach Deutschland zurückzukehren – ausgerechnet nach Ostberlin, zur rechten Zeit am rechten Ort. Ich wollte auch nach Westberlin reisen und ihn besuchen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Dahlhaus verstarb im März 1989. Ich sah ihn nie wieder, und er konnte leider nicht mehr Zeuge der erstaunlichen Ereignisse im Herbst 1989 werden, die ich glücklicherweise miterleben durfte.
Ich habe meine Ausführungen nicht deshalb mit diesem langen persönlichen Rückblick begonnen, weil es vielleicht die einzige Gelegenheit ist, meine Erinnerungen aufzuschreiben (auch wenn es wahrscheinlich so ist). Sondern ich hoffe, dass ich damit die intellektuelle Naivität beschreiben kann, mit der ich Dahlhaus’ Texte zum ersten Mal las. Ich frage mich heute, ob diese Naivität nicht in Wirklichkeit ein Vorteil war.
In der verbleibenden Zeit meines Vortrags möchte ich Ihnen nun einige allgemeine Beobachtungen zu Dahlhaus’ Beitrag zur Musiktheorie vorstellen, die mir besonders wichtig erscheinen. Zum Teil sind dies Eindrücke, die ich bereits sehr früh hatte. Der Großteil sind Dinge, die mir nach einer umfassenderen Lektüre seiner Schriften über die Jahre hinweg aufgefallen sind. Vor allem sind es Eindrücke, die sich mit dem zeitlichen Abstand verfestigt haben.
1991 schrieb mein amerikanischer Kollege James Hepokoski eine einfühlsame Analyse von Dahlhaus’ Texten zur Musikgeschichte, mit der er versuchte, Dahlhaus in den intellektuellen und historischen Debatten zu verorten, die die westdeutsche Universitätslandschaft in den 1960er und 70er Jahren prägten.[2] Dieses »Dahlhaus Project«, wie er es nannte, fasste er als nachträglichen Versuch zusammen, das Erbe einer österreichisch-deutschen Musiktradition vor den aggressiven Angriffen der sozio-politischen Interpretation zu retten, die besonders von der politischen Linken kamen. Wir können wahrscheinlich auch Dahlhaus’ theoretische Schriften in einen solchen Kontext stellen, besonders seine Bemühungen, die ästhetische Integrität des autonomen Kunstwerks gegen materialistische Kritiker zu verteidigen, die in der analytischen Interpretation von Musik lediglich eine Fortsetzung überkommener bourgeoiser Werte und eines fragwürdigen Konservatismus sahen.
Natürlich war Dahlhaus kein verspäteter Hanslick-Anhänger. Besser als jeder andere erkannte er, wie gesellschaftlich bedingt und geschichtlich beeinflusst jede analytische Aussage über Musik sein kann. In seinen Schriften erinnert er uns immer wieder an die historische Verankerung der Musiktheorie. Keine Musiktheorie kann je immun gegen die Bedingungen und Umstände der Geschichte sein. Gleichzeitig kann es keine Analyse geben, die nicht auch historische und ästhetische Befangenheiten offen legt. Dies ist meiner Meinung nach der Grund, warum gerade Dahlhaus’ Arbeit als Historiker den Schlüssel zum Verständnis seiner Schriften zu Theorie und Analyse liefert. Denn die Theoriegeschichte wird zum unerlässlichen Fundament für jegliches Verständnis einer analytischen Interpretation von Musik und zur Basis, ohne die das Unterfangen der analytischen Musikinterpretation keine Gültigkeit hat. Da auch wir Teil der Geschichte und Traditionen unserer Disziplin sind, deren Horizont in die Gegenwart reicht, ist das, was wir tun, Teil einer fortdauernden und sich immer weiter entwickelnden Unterhaltung mit der Vergangenheit. Geschichte und Theorie sind also alles andere als Gegensätze: Innerhalb der legendären hermeneutischen ›Verschmelzung der Horizonte‹ sind sie eng miteinander verwoben.
Ich verstehe Dahlhaus so, dass er die Aufgabe des Historikers darin sieht, die jeder Theorie bzw. Analyse zugrunde liegenden Annahmen, Urteile und Spannungen aufzudecken und sie dann innerhalb der unterschiedlichen intellektuellen Traditionen zu verorten, an denen sie teilhat. An diesem Punkt kommt seine legendäre Dialektik ins Spiel. Dahlhaus kann jedes beliebige theoretische Argument, jede analytische Beobachtung nehmen und sie in ihre Einzelteile zerlegen, um so, wo immer möglich, die potenziellen Widersprüche zwischen diesen Bestandteilen offen zu legen. Er hatte eine beinahe unheimliche Gabe, ideologische Verflechtungen aufzudecken, die als objektiver Empirismus oder Logik daherkamen. Er verfügte über eine untrügliche Fähigkeit, selbst die scheinbar harmlosesten Aussagen oder analytischen Annahmen zu sezieren, Schicht um Schicht verdeckter Befangenheiten abzutragen und so die darunter liegenden Widersprüche und Kompromisse zu zeigen. Denn letzten Endes enthielt jede Theorie und jede Analyse irgendeinen Kompromiss, genau wie jede historische Rekonstruktion. Ob es darum ging, die Ideologie vom ›Organischen‹ in der Schenker’schen Theorie infrage zu stellen, den Physikalismus Rameaus oder den Hegelschen Idealismus von Hauptmann: Jede Theorie hatte ihren Preis. Behandelte man die Analyse wie eine autonome, geschichtslose Wissenschaft, so lief sie ständig Gefahr, sich selbst zu widersprechen oder Tautologien zu produzieren.
Paradigmatisch waren Dahlhaus’ Betrachtungen zur harmonischen Tonalität. Für Dahlhaus ist Tonalität alles andere als ein transzendentales, immanentes, natürliches System. Er sieht sie als stark diskursiv geprägte Konstruktion.[3] Wichtig war, zu erkennen, aus welchen Gründen ein bestimmter Theoretiker seine jeweiligen Kriterien auswählte, und welche Konsequenzen seine Wahl hatte. Dasselbe gilt natürlich für jede analytische Aussage, die wir über ein Musikstück machen können. Keine Analyse ist empirisch einfach gegeben. Kein Analysesystem ist wertfrei. Mit einer Anleihe an Collingwoods Autobiographie formuliert Dahlhaus diesen Punkt sehr prägnant: Was ist die Frage, die ein theoretischer Text zu beantworten vorgibt?
Das alles heißt nicht, dass wir aufhören sollen, Musik zu analysieren und an Musiktheorie zu ›glauben‹. Dahlhaus war schließlich kein epistemologischer Agnostiker. Theorien und Analysen können immer noch einen Wert und eine Bedeutung haben, wenn diese auch nicht ontisch sind. Für mich ist seine Botschaft eine eher ethische: Geht und macht Eure Analysen, aber achtet auf die Annahmen, die Ihr ihnen zugrunde legt – seid Euch also Eures eigenen historischen und kognitiven Standpunkts so bewusst wie nur möglich. Denkt daran, dass niemand außerhalb der Einflusskräfte unserer Kultur und Geschichte leben kann. Dies ist auch der Grund, so denke ich, dass Dahlhaus sich so oft für Pluralismus und Eklektizismus in der Musikanalyse ausgesprochen hat. Sie schienen ihm eine der wenigen Möglichkeiten zu bieten, nicht dem Dogmatismus und Sektierertum anheim zu fallen. Als jemand, der vom Akt der musikalischen Analyse fasziniert war, empfand ich dies sowohl als Ernüchterung als auch als Befreiung. (Was die epistemologische Gültigkeit von analytischen Musikinterpretationen betraf, fühlte ich mich jedoch zutiefst verunsichert.)
Doch obwohl eines der bezeichnenden Merkmale von Dahlhaus’ dialektischer Methode darin bestand, scheinbare Holismen in Splittergruppen voller Spannungen, Dissonanzen und uneingestandener Kompromisse aufzusprengen, so gab es auch eine zweite, beinahe gegenläufige Tendenz, zu vergleichen, gegenüberzustellen und zu vereinen. Ungleiche Elemente wurden dazu eng nebeneinander platziert, um so unerwartete Kongruenzen und Homologien zu offenbaren. Ich bin versucht zu behaupten, dass diese Synthese die dialektische Umkehrung seiner ersten Neigung zur Auflösung ist.
Hierzu ein Beispiel:
In seinen Untersuchungen analysiert Dahlhaus die Theorie der »kontrastierenden Sonoritäten«. Der Begriff, den er von Joseph Smits van Waesberghe übernimmt, bezeichnet eine Anfangsphase im Verhalten von Harmonien, die in der Polyphonie des 12. bis 14. Jahrhunderts auftritt. Dahlhaus hat den brillanten Gedanken, dass die kontrastierenden Sonoritäten eine Entsprechung im modalen Rhythmus der damaligen Zeit haben, da beide auf einem Wechsel oder einer Gegenüberstellung von langen und kurzen Werten einerseits und primären und sekundären Konsonanzen andererseits basieren. Er weist darauf hin, dass der erstgenannten die »innere Dynamik« einer metrischen Gliederung fehlt, der zweiten die funktionale Hierarchie der harmonischen Tonalität. Die ›Taktperiode‹ des 17. Jahrhunderts hingegen weise eine starke Analogie zur tonalen Kadenz auf, denn beide basierten auf dem Prinzip der Unterordnung: Die unbetonte Taktzeit ordne sich der betonten unter, die sekundären harmonischen Funktionen der tonischen.[4] Dies war eine brillante These, die Waesberghe selbst nicht aufzustellen wagte. Und sie beweist, welch atemberaubend synthetisierende Vorstellungskraft Dahlhaus besaß. Lassen Sie mich noch ein weiteres Beispiel anführen:
In seinen berühmten Betrachtungen zu Modus und Transpositionen, die ihren ersten Höhepunkt in dem bereits 1955 erschienenen Artikel zur Terminologie von Dur und Moll finden, liefert Dahlhaus einen faszinierenden Denkanstoß: Er stellt den modalen und den tonalen Ansatz nebeneinander, indem er die Konzepte Tongeschlecht und Tonart umkehrt. Er schließt seine Betrachtungen mit den Worten:
Das logische Verhältnis von Modus und Transpositionsskalen kehrte sich damit um: Bis zum 17. Jahrhundert galten die Transpositionsskalen (der ›cantus durus‹ und der ›cantus mollis‹) als Tongeschlechter (Genera), die Modi (z.B. c-jonisch und a-äolisch) als Tonarten (Spezies). Seither betrachtet man die Modi als Genera (den jonischen Modus als Dur-Geschlecht, den äolischen Modus als Moll-Geschlecht) und die Transpositionsskalen als Spezies (C-Dur und a-moll als Tonarten).[5]
Hier haben wir eine weitere geistreiche Formulierung, die eine ungeahnte konzeptuelle Umkehrung aufdeckt. Das heißt jedoch nicht, dass man seine Behauptung nicht in Frage stellen darf. Wenn man sich daran macht, sie zu zerlegen – was ich hier nicht versuchen werde – erkennt man, dass diese so schön kompakte Aussage zahlreiche Probleme aufwirft. Das schmälert jedoch nicht die Genialität des Gedankens mit seinem hohen Potenzial an analytischen Schlussfolgerungen. So hat einer meiner amerikanischen Kollegen, Eric Chafe, diese Idee von Dahlhaus als Ausgangspunkt für seine wichtige Untersuchung zu Monteverdis tonalen Strategien genutzt.[6]
An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass die Erkenntnis über den komplementären Charakter von Spezies und Genera nicht allein Dahlhaus zuzuschreiben ist. Einen ähnlichen Gedanken finden wir in einer Untersuchung, die Jacques Handschin sieben Jahre zuvor in seinem Werke Der Toncharakter veröffentlichte.[7] Tatsächlich lassen sich viele der prägnantesten Ideen in Dahlhaus’ Habilitationsschrift auf frühere Autoren zurückführen, obwohl er oft nur spärliche Quellenverweise machte. Handschin ist einer dieser Autoren, deren Einfluss sicher katalytisch für Dahlhaus’ Untersuchungen war. Auch August Halms Einfluss auf Dahlhaus’ Texte zu Beethoven ist nicht hinreichend anerkannt. Dahlhaus’ Besprechung des ersten Themas der sogenannten Sturmsonate Beethovens arbeitet eine These aus, die Halm bereits 1913 in seiner Untersuchung Von zwei Kulturen der Musik vorgestellt hatte.[8] James Hepokoski, dessen Analyse zu Dahlhaus’ Texten ich eingangs erwähnte[9], hat eine beunruhigende Anzahl solcher Anleihen und Einflüsse gefunden, die Dahlhaus in seinen Texten nicht anzugeben scheint.
Meiner Meinung nach ist der Grund hierfür jedoch nicht, dass Dahlhaus unaufrichtig war, seine Quellen zu verschleiern suchte oder sogar Ideen plagiierte. Ich kann mir vorstellen, dass er dieselbe Reaktion wie Brahms gezeigt hätte, der von einem armen Tropf auf die Ähnlichkeit zwischen Beethovens Ode an die Freude und dem Höhepunkt der Brahms’schen ersten Symphonie hingewiesen wurde und die berühmte Antwort gab: »Das kann doch jeder Esel sehen.« Die Einflüsse der Autoren, auf deren Schultern Dahlhaus stand, müssten jedem lesekundigen Musikwissenschaftler klar sein. Nur ein extrem pedantischer Bibliophiler würde sie einzeln aufzählen wollen. Auch Adorno scheint als ständiger Schatten über Dahlhaus’ Werk zu schweben. Es ist offensichtlich, dass Dahlhaus in ein immerwährendes Streitgespräch mit seinem früheren Mentor vertieft ist, selbst wenn Adornos Name nicht genannt wird. Ein weiteres, positiveres Beispiel ist der Einfluss der philosophischen Hermeneutik von Hans Gadamer und Hans Robert Jauss. Jeder gebildete Leser von Dahlhaus’ Texten erkennt, dass seine Rechtfertigung einer Ästhetik der musikalischen Autonomie – und von Musiktheorie überhaupt – in der Rezeptionstheorie fußt. Gadamers Monumentalwerk Wahrheit und Methode[10] war offensichtlich grundlegend für einen Großteil von Dahlhaus’ eigener Philosophie, auch wenn er es selten zitiert.
Ich erwähnte zuvor, dass Dahlhaus uns immer wieder mahnt, historische Theorien in einer Reihe intellektueller und ästhetischer Traditionen zu verorten, die bis in die Gegenwart reichen. An dieser Stelle ist der Einfluss von Gadamers Hermeneutik unverkennbar. Aber warum sollte er uns das alles in seinen Fußnoten erzählen? Erkenntnisse über Musikgeschichte und Musiktheorie bilden, genau wie die musikalischen Werke selbst, ein ständig wachsendes Erbe, zu dem wir alle beitragen und das wir alle nutzen, manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Wir alle haben eine bestimmte Weltsicht, die einen Anteil früherer Anschauungen enthält, der unmöglich zu quantifizieren ist. Musikwissenschaft ist eine Disziplin, die sich besser im gemeinsamen Diskurs betreiben lässt, als wenn sie von Hermetik, Sektierertum und Eigentumsrechten geprägt wäre. Also halte ich es für unangemessen, Dahlhaus zu unterstellen, er habe frühere Ideen und Konzepte nur übernommen und neu zusammengesetzt. (Und doch gebe ich zu, dass ich mir oft wünsche, er wäre mit den Fußnoten und Quellenangaben in seinen Schriften etwas großzügiger gewesen!)
Eine Kritik mit mehr Bestand und Berechtigung würde meiner Meinung in die entgegen gesetzte Richtung gehen. Manchmal scheint es, er habe weniger Autoren und Ideen aufgegriffen, als er hätte können und sollen. Zu häufig verließ er sich auf überholte musikwissenschaftliche Texte, sodass seine Angriffe auf Vorgänger kurios altmodisch wirken. Immer wieder trifft man in seinen Schriften auf dieselben Argumente, dieselben oft wiederholten musikalischen Beispiele. Die Musikwissenschaft entwickelte sich unterdessen weiter. Ich habe vor allem den Eindruck, dass Dahlhaus sich nicht auf dem Laufenden darüber hielt, was in Nordamerika geschah. So offenbaren viele seiner Kritikpunkte an der Schenker’schen Analyse, dass er eine sehr viel dogmatischere Vorstellung der Theorie hatte, als nötig war. Dahlhaus, der verdeckte Voreingenommenheiten bei anderen so sensibel erspüren und aufdecken konnte, neigte selbst manchmal dazu, karikaturenhafte Vereinfachungen zu wiederholen, für die es einfach keine Rechtfertigung gab. Auch wenn ich kein ergebener Anhänger der amerikanischen Schenker-Schule bin, glaube ich fest daran, dass Schenkers Theorie einige wertvolle Erkenntnisse bietet. Wenn es gelingt, Schenkers anstößige chauvinistische Formulierungen in einen historischen Kontext zu bringen, teilen wohl auch viele Musiktheoretiker in Deutschland meine Meinung. Doch Dahlhaus schien eine ganze Generation differenzierter analytischer Untersuchungen vollkommen ignoriert zu haben, die auf unserer Seite des Atlantiks entstanden. (Was im Übrigens nicht heißt, dass wir zu dieser Zeit nicht ebenso wenig oder gar weniger wussten, was man in Europa machte.)
Manchmal hatte ich auch den Eindruck, als sei Dahlhaus einfach nur ein nachlässiger Leser. Er konnte einige kraftvolle Gedanken aus einem musiktheoretischen Text ziehen – oder vielleicht aus der Sekundärliteratur – um künftig nicht mehr davon abzuweichen. Im Zusammenhang mit meiner Arbeit zur Theorie des 18. Jahrhunderts frustrierte es mich oft, dass in Dahlhaus’ Texten über 30 Jahre hinweg immer wieder dieselben Passagen von Rameau auftauchten, dass er so häufig dieselben Beispiele für den ›basse fondamentale‹ oder Kirnbergers Dissonanzbegriff verwendete. Zu oft führte dies bei ihm zu denselben schnellen Verallgemeinerungen oder vereinfachten Darstellungen, die er bei anderen zu Recht anprangerte. Ich hätte ihn mir manchmal als selbstkritischeren Leser gewünscht.
Dies ist möglicherweise der kühnste, aber auch scheinheiligste Vorwurf, den Sie auf diesem Symposium zu hören bekommen. Denn wer von uns verfügt auch nur über einen Bruchteil von Dahlhaus’ Wissen? Bedenkt man, wie unglaublich breit gefächert seine Bildung und Interessen waren, so fragt man sich: Wie hätte er über die vielen wissenschaftlichen Publikationen zur Musikwissenschaft auf dem Laufenden bleiben sollen, die auf beiden Seiten des Atlantiks nur so aus den Druckerpressen quollen? Das war nicht möglich, und es wäre verlogen ihm vorzuwerfen, etwas nicht getan zu haben, das kein Mensch hätte tun können. Denn letzten Endes war auch Carl Dahlhaus ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Und vielleicht hätte es auch nicht genutzt. Vielleicht hatte es Vorteile, dass er sich von den ›schmutzigen Niederungen‹ der empirischen Forschung und der Musikanalyse fernhielt. Denn so konnte Dahlhaus weiter ›hinaufsteigen‹ und unser Fach von ›ganz oben‹ betrachten. Sollten wir ihm dafür nicht dankbar sein? Klarer und schärfer als jeder andere Autor der Musikwissenschaft hat er uns gelehrt, was bei unserer Arbeit auf dem Spiel steht. Er hat uns angehalten, immer wieder infrage zu stellen, was wir als Musiktheoretiker und -analytiker zu leisten behaupten. Dabei hat er in keiner Weise den Wert unserer Arbeit unterwandert oder geschmälert. Im Gegenteil: Ich denke, dass Dahlhaus’ Poetik des Zweifels uns auch heute noch die Rechtfertigung liefert, mit der wir uns weiter entwickeln – nicht mit selbstzufriedenem Vertrauen, sondern mit skeptischer Selbstreflexion. Es mag nicht die eine, richtige Theorie oder Analyse geben, die eine, gültige Wahrheit oder Methode. Was das betrifft, so besteht Dahlhaus’ größtes Geschenk an uns darin, dass er uns geholfen hat, einen methodologischen Unterschlupf für unsere zerbrechliche Berufung als Musiktheoretiker zu finden. Eine kritische Herangehensweise an die Motive, die einem Akt der Musiktheorie und der analytischen Interpretation zugrunde liegen, muss nicht zwangsläufig eine Lähmung unserer selbst beinhalten. Im Gegenteil: Sie ist der einzige Weg nach vorne.
Anmerkungen
Christensen 1988. | |
Hepokoski 1991. | |
Vgl. hierzu meinen Beitrag »Die Entstehung der Entstehung« und den Beitrag von Michael Polth in diesem Band. | |
Vgl. Dahlhaus 2001a/GS3, 72ff. | |
Dahlhaus 2001b/GS3, 328 (Hervorhebungen original). | |
Chafe 1992. | |
Handschin 1948. | |
Vgl. Halm 1913, 38ff. und Dahlhaus 2003/GS6, 178–191 bzw. Dahlhaus 1975. | |
Vgl. Anm. 1. | |
Gadamer 1990. |
Literatur
Chafe, Eric (1992), Monteverdi's tonal language, New York: Schirmer.
Christensen, Thomas (1988), Rezension »Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert: Grundzüge einer Systematik«, Music Theory Spectrum 10, 127–137.
Dahlhaus, Carl (1975), »Beethovens ›Neuer Weg‹«, in: SIM-JB 1974, 46–62.
––– (2001/GS3), Alte Musik. Musiktheorie bis zum 17. Jahrhundert – 18. Jahrhundert (= Gesammelte Schriften 3), hg. von Hermann Danuser in Verbindung mit Hans-Joachim Hinrichsen und Tobias Plebuch, Laaber: Laaber.
––– (2001a/GS3), »Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität (= Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft 2), in: ––– 2001/GS3, 11–307 [Erstdruck: Kassel u.a.: Bärenreiter 1967].
––– (2001b/GS3), »Die Termini Dur und Moll«, in: ––– 2001/GS3, 312–328 [Erstdruck in: Archiv für Musikwissenschaft 12 (1955), 280–296].
––– (2003/GS6), »Ludwig van Beethoven und seine Zeit«, in: 19. Jahrhundert III. Ludwig van Beethoven – Aufsätze zur Ideen- und Kompositionsgeschichte – Texte zur Instrumentalmusik (= Gesammelte Schriften 6), hg. von Hermann Danuser in Verbindung mit Hans-Joachim Hinrichsen und Tobias Plebuch, Laaber: Laaber, 11–251 [Erstdruck: Laaber: Laaber 1987].
Gadamer, Hans-Georg (1990) [1960], Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (= Gesammelte Werke 1. Hermeneutik I), Tübingen: Mohr (Siebeck).
Halm, August (1913), Von zwei Kulturen der Musik, München: Müller.
Handschin, Jacques (1948), Der Toncharakter. Eine Einführung in die Tonpsychologie, Zürich: Atlantis.
Hepokoski, James (1991), »The Dahlhaus Project and Its Extra-Musicological Sources«, 19th-Century Music 14/3, 221–246.
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