»Das Andere in der Musiktheorie. Adjustierung und Kontingenz« – XIV. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) an der Haute Ecole de Musique de Genève, 17.–19. Oktober 2014
Stefan Fuchs, Hannes Oberrauter, Peter Tiefengraber, Benedikt Wagner
Der 14. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie fand vom 17.–19. Oktober 2014 in Genf statt und begab sich thematisch auf die Suche nach dem ›Anderen‹. Deren mögliches Ziel klang im Kongresstitel »Adjustierung und Kontingenz« an: Gespiegelt durch das Andere kann das Eigene neu wahrgenommen und ›adjustiert‹ werden. Der Begriff Kontingenz indes verweist auf die prinzipielle Offenheit menschlicher Erfahrung und im konkreten Fall wohl auf die anregende Vielfalt an Denkansätzen innerhalb des Fachs.
Gleich in zweifacher Hinsicht wurde der Blick über den Tellerrand der deutschsprachigen Musiktheorie geworfen: Zum einen ging mit der Wahl des Kongressorts Genf eine bemerkenswerte Öffnung zur frankophonen Welt einher, die auch im Kongressprogramm ihren Niederschlag fand. Fast ein Drittel der Beiträge war in französischer Sprache verfasst – ein absolutes Novum in der Kongress-Geschichte der GMTH. Zum anderen nahm die Untersuchung außereuropäischer Musikkulturen einen überaus breiten Raum ein, abzulesen etwa an einer eigens eingerichteten Special Session zum Thema »Non-Western Music Theories«.
Paradigmatisch für die Schwerpunktsetzung des Kongresses waren die ersten beiden Keynotes, mit denen der Kongress eröffnet wurde: Pascal Decroupet (Paris) beleuchtete die Differenzen zwischen französischer und deutschsprachiger Musiktheorie exemplarisch am Beispiel der harmonischen Analysetraditionen beider Länder und dem daraus folgenden unterschiedlichen Blick auf die Klangstrukturen der ›musique concrète‹. Martin Scherzinger (New York) beeindruckte durch die Anschaulichkeit seiner Analyse. Er verstand es, in der Musik der Shona – eine Bevölkerungsgruppe im Gebiet des Staates Zimbabwe – verborgene symmetrische Muster unterhaltsam aufzeigen, die infolge ihrer Überlagerung selbst einfachsten rhythmischen und harmonischen Modellen faszinierende Komplexität verleihen.
Auch der zweite Kongresstag wurde von zwei Keynotes eröffnet. Christian Utz (Graz) gab Einblicke in die Beschäftigung Hugo Riemanns mit ostasiatischer Musik und kam auf die Komplexität zu sprechen, die mit einer interkulturellen Rezeption auf musiktheoretischer und kompositionspraktischer Ebene einhergeht. Aufgrund dieser Komplexität seien kulturelle Identitäten in der Musik oft zu einem gewissen Grad konstruiert.
Die Komponistin Chaya Czernowin (Cambridge, USA) zeigte anhand ihres eigenen Lebenslaufs, wie sich die heutige Vorstellung einer ›dynamischen Identität‹ auf ihr kompositorisches Schaffen ausgewirkt hat und thematisierte dazu ihre Aufenthalte in Israel, Europa, Japan und den USA.
Die weiteren Vorträge der ersten beiden Kongresstage wurden in drei Sektionen gruppiert: »Anleihe und Fusion«, »Das Andere kennen – das Andere wahrnehmen« und »Die Paradigmen des Anderen verwenden«. Am Sonntag war zudem eine Sektion mit freien Referaten angesetzt. Die einzelnen Beiträge offenbarten ein breitgefächertes Spektrum an Ideen und Forschungsansätzen. Der Begriff des ›Anderen‹ wurde dabei von vielen Vortragenden sprachlich-kulturell aufgefasst, etwa Hubertus Dreyer aus Düsseldorf (»Japanische Polyphonie: Ein Theorieangebot für Mitsuzaki Kengyos ›Godan-Kinuta‹«), Ana Olic aus Wien (»Die Konstruktion einer kulturellen Identität Dalmatiens – Zu Josip Hatzes ›Adel i Mara‹«) und Florian Kleissle aus Weimar (»Ethnische Ursprünge und ihre Verschmelzung in der folkloristischen Musik Kubas«).
Einige Referenten platzierten das ›Andere‹ in einem historischen Kontext. Johannes Menke (Basel) stellte sieben neu entdeckte Kantaten des italienischen Barockkomponisten Alessandro Stradella vor und warf eine Frage auf, die sich Interpreten und Wissenschaftlern gleichermaßen stellt: Wie gelingt es, sich das Andere – in dem Fall eine bisher unbekannte Gruppe von Stücken – anzueignen und trotzdem genug Distanz zu wahren, um dessen Neuartigkeit wahrnehmen und würdigen zu können?
Als »Mittelweg« zwischen Anderem und Gemeinsamem charakterisierte Torsten Augenstein (Karlsruhe) eine Werksammlung Salomone Rossi Hebreos. Es handelt sich dabei um eine ca. 1623 veröffentlichte Sammlung mehrstimmiger Kompositionen für den jüdischen Gottesdienst, in der Rossi – ausgehend von der Seconda pratica – durch Aneignung, Vermischung und Transformation zu einem eigenen, neuen Musikstil findet. Augenstein arbeitete dabei eindrücklich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Stücken der Sammlung und Rossis weltlichen Werken sowie der Musik seines unmittelbaren Umfelds heraus.
Florian Edler (Bremen) und Ludwig Holtmeier (Freiburg i.B.) beschäftigten sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der deutschsprachigen Rameau-Rezeption. Florian Edler zufolge wurden Rameaus Werke in Deutschland hauptsächlich durch Friedrich Wilhelm Marpurg rezipiert. Ludwig Holtmeier dagegen sieht Georg Andreas Sorge als zentrale Figur der deutschen Rameau-Rezeption an und arbeitete dabei auch die Eindrücke des internationalen Rameau-Kongresses in seinen Beitrag ein. Aufgrund dieser unterschiedlichen Sichtweisen der beiden Referenten kam es im Anschluss an die Vorträge zu einer spannenden Diskussion.
Volker Helbing (Hannover) stellte in seinem Vortrag »Komponieren um 1500« interessante Überlegungen zur kompositorischen Vorgehensweise im Zeitalter der Vokalpolyphonie an. Die Vokalmusik dieser Epoche ist nahezu ausschließlich in Stimmbüchern überliefert, und es konnten nur verschwindend wenige Partiturskizzen gefunden werden, welche ihrerseits wohl eher zu Studien- denn zu Kompositionszwecken angefertigt wurden. Helbing geht daher von einem weitgehend mentalen Kompositionsprozess direkt in die Stimmbücher und ohne die Unterstützung durch eine ›tabula compositoria‹ aus. Er stützt sich dabei auf Forschungsergebnisse von Jessie Ann Owens. In seinem Vortrag wagte Helbing am Beispiel des ersten Kyrie aus Pierre de la Rues Missa Cum Jucunditate auf sehr anschauliche Weise den Versuch, einen solchen Schaffensprozess hypothetisch zu rekonstruieren.
Inwiefern sich die Herangehensweise der Musiktheorie an die Musik vergangener Epochen verändert hat, zeigte Kilian Sprau (Augsburg/München) auf gewohnt-pointierte Art und Weise in seinem Vortrag über August Reissmanns Geschichte des deutschen Lieds (1861). Reissmann, ein konservativ und anti-neudeutsch ausgerichteter Anhänger Moritz Hauptmanns, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit zahlreichen, teils populärwissenschaftlichen Büchern an die Öffentlichkeit trat, entwirft darin seine eigene Theorie von der Entwicklung des Tonsystems. So lieferte Reissmann zufolge das »natürliche und nicht artifiziell konstruierte« deutsche Volkslied den entscheidenden Impuls für den Übergang von der in Reissmanns Augen unvollkommenen und unflexiblen Moduslehre zur modernen Dur-Moll-Tonalität.
Einen besonderen Zugang zur Analyse von Musik lieferte Hannes Oberrauter (Wien) mit seinem Vortrag »Debussy spielt Debussy«. Er kombinierte traditionell-textorientierte mit computergestützten Analyseverfahren und konfrontierte Debussys eigene Welte-Mignon-Einspielung von La soirée dans Grenade mit anderen historischen sowie mit modernen Aufnahmen des Stückes. Vor allem im Hinblick auf Editionsfehler, aber natürlich auch auf die historisch informierte Aufführungspraxis können die Tondokumente eines Künstlers, der »sich selbst interpretiert«, eine nennenswerte Unterstützung und Anregung sein.
Die Vortrags-Sektionen wurden durch ein vielfältiges Rahmenprogramm ergänzt. Am Freitagabend fand zunächst die Preisverleihung der beiden GMTH-Wettbewerbe statt: Sören Sönksen (Hannover) erhielt einen ersten Preis für seinen Aufsatz »›Though this madness, yet there’s method in it‹. Zur Einordnung harmonischer ›Bizarrerien‹ im Klavierwerk Carl Philipp Emanuel Bachs«. Einen zweiten Preis erhielt Hannes Oberrauter (Wien) für seinen Aufsatz »Klang gegen Rhythmus: Die Entwicklung von Texturen in Vladimir Tarnopolkis ›Foucault’s Pendulum‹«. Im künstlerischen Wettbewerb galt es dieses Jahr, das Liedfragment Nächtliche Wanderung von Hugo Wolf zu vollenden. Die beiden ausgezeichneten Stücke von Sebastian Knappe (3. Preis) und Florian Kleissle (2. Preis) wurden im Rahmen der Preisverleihung von Studentinnen der Haute Ecole de Musique uraufgeführt.
Im Rahmen der Buchpräsentation wurden zunächst mehrere Sammelbände vorgestellt: »Musiktheorie und Vermittlung: Didaktik · Ästhetik · Satzlehre · Analyse · Improvisation« heißt der von Jörn Arnecke redigierte und von Ralf Kubicek bei Olms herausgegebene Band, der 24 der auf dem Jahreskongress der GMTH 2006 in Weimar gehaltene Beiträge enthält. In den von Felix Diergarten bei Laaber herausgegebenen Anleitungen zur musikalischen Analyse sind Beiträge von elf Autoren (allesamt Mitglieder der GMTH) versammelt, die je eine exemplarische Werkanalyse zu einem Themenfeld präsentieren. Dieter Torkewitz stellte den zweiten Band seiner Reihe Im Schatten des Kunstwerks mit dem Titel »Theorie und Interpretation des musikalischen Kunstwerks im 19. Jahrhundert« vor. Wie der offen formulierte Titel bereits vermuten lässt, finden sich darin sowohl Texte von Musiktheoretikern und -wissenschaftlern als auch solche von ausübenden Musikern.
Mit »Renaissance und Reformation. Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts« präsentierte sich Felix Diergarten auch als Autor. Anhand von sechs bedeutenden Quellen bietet sein Buch eine Einführung in die unterschiedlichen musikalischen Alltags- und Lebenswelten der Renaissance-Zeit. Immanuel Ott (»Methoden der Kanonkomposition bei Josquin Des Prez und seinen Zeitgenossen«) und Maria Kostakeva (»Metamorphose und Eruption. Annäherung an die Klangwelten Adriana Hölszkys«) stellten vertiefende Studien zu speziellen Themen vor. John Leigh präsentierte indes kein Buch, sondern das 56-seitige »Programmheft zur Dresdner Hochschulproduktion von G.F. Händels Xerxes«. Darin ist eine Vorlesungsreihe dokumentiert, die sich an Mitwirkende des im Titel genannten Opernprojekts richtete.
Im Rahmen eines runden Tisches wurde das Ergebnis einer Umfrage an Musikschulen präsentiert, mit deren Hilfe der Ist-Zustand der Musiktheorie-Angebote eruiert werden sollte. Zwar wird an den 19 Musikschulen, die sich an der Umfrage beteiligt hatten, Musiktheorie angeboten. Allerdings herrscht dort auch die Meinung vor, dass Musiktheorie eher etwas für Spezialisten sei. Es wäre wünschenswert, wenn dieses Missverständnis an Musikschulen bald ausgeräumt werden könnte.
Am zweiten Kongressabend fand die bereits eingangs erwähnte Special Session statt. Es handelte sich um eine echte Première: Während die intensive Auseinandersetzung mit historischen Quellen (etwa Lehrmethoden) bereits seit einigen Jahrzehnten floriert, ist die Öffnung des Faches Musiktheorie hin zu nicht-westlichen Musiktraditionen ein sehr junges Phänomen. Mit Xavier Bouvier (Genf) kam ein Vertreter der gastgebenden Hochschule zu Wort und umriss ein noch weitgehend unerschlossenes Forschungsfeld, dessen Problematik bereits bei der Unterscheidung zwischen westlichen und nicht-westlichen Kulturen beginnt: Eine Grenze zu ziehen, ist seinem Beitrag zufolge nahezu unmöglich.
Du Yaxiong (Hangzhou) demonstrierte auf pointierte und amüsante Weise die grundlegenden Unterschiede zwischen europäischer und chinesischer Musik. Letztere ist aufgrund der engen Anlehnung an die Sprache von einer hohen Variabilität der Tonhöhen und -dauern gekennzeichnet. Anders als in der europäischen Kunstmusik fallen diese jedoch nicht in den Zuständigkeitsbereich des Komponisten, sondern sind – auch in schriftlich festgehaltener Musik – wesentliche Ausdrucksmittel der Interpretation.
Nach einem gemeinsamen Abendessen fand ein Konzertbesuch in der Victoria Hall als Teil des Kongresses statt. Das Orchester der Musikhochschulen Genf und Zürich, dirigiert von Pierre-André Valade, führte Igor Stravinskys Petrouchka (Version von 1947) sowie Edgar Varèses Amériques (Version von 1927) auf. Orchester wie Dirigent agierten auf musikalisch höchst anspruchsvollem Niveau und sorgten für einen äußerst bereichernden Programmpunkt.
Waren die Inhalte der Referate durchgehend von hoher Qualität, so trifft dies auf deren Präsentation nur zum Teil zu. Vielen Vorträgen mangelte es – nicht zuletzt bedingt durch das Fehlen von Hörbeispielen – an Anschaulichkeit. Zudem kam es zu Problemen mit dem Zeitmanagement: Durch das Überziehen der 20-minütigen Redezeit wurde die Entfaltung einer sich an den jeweiligen Vortrag anschließenden Diskussion in mehreren Fällen erschwert, wenn nicht sogar ganz darauf verzichtet werden musste. Nur dank der gewissenhaften Arbeit der Chairs konnte der Zeitplan eingehalten werden.
Der Kongress war hervorragend organisiert, die Betreuung durch die Kongressleitung und die Mitarbeiter der Kongressbüros äußerst professionell. Besonders hervorzuheben ist die kostenlos inkludierte Kulinarik: Frühstück, Mittag- und Abendessen (kaltes und warmes Buffet mit regionalen Spezialitäten) waren exzellent und ließen keine Wünsche offen. Schließlich sorgte auch das spätsommerliche Wetter mit fast ungetrübtem, strahlendem Sonnenschein für ein äußerst erinnernswertes Kongresswochenende.
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