Manfred Hermann Schmid, Notationskunde. Schrift und Komposition 900–1900 (= Bärenreiter Studienbücher Musik 18), Kassel u.a.: Bärenreiter 2012
Irene Holzer
Die »Kenntniß der Notationen«[1] führte Guido Adler 1885 in seiner systematischen Darstellung des musikwissenschaftlichen Fächerkanons als ein Teilgebiet der historischen Musikwissenschaft an prominenter erster Stelle an; unter dem Namen ›Notationskunde‹ hatte dieses Fach bis vor kurzem denn auch seinen unumstrittenen Platz in den Curricula der meisten Universitäten und Hochschulen. Ausgehend von der generellen Erkenntnis, dass die verschiedenartigen »musikalischen Zeichen […] im innigen Zusammenhang mit der Kunst selbst«[2] stehen, wurden seither die unterschiedlichsten historischen Notationssysteme in umfang- und detailreichen Überblicksdarstellungen erfasst (Johannes Wolf[3], Willi Apel[4], Constantin Floros[5], Katrin Paulsmeier[6]), die schließlich auch die Grundlage für die meisten Notationskundekurse innerhalb der musikwissenschaftlichen Ausbildung stellten. Dieses historische, zunächst auf die europäische Musikgeschichte fokussierte Wissen wurde parallel dazu auch um grundlegende Erkenntnisse über moderne (auch sogenannte ›graphische‹) Notationen[7] sowie um Einblicke in völlig andersartig funktionierende Notationssysteme im Zuge der Erforschung außereuropäischer Musik erweitert. Jenseits der Fachgrenzen kamen darüber hinaus theoretische Aspekte zu Notation (Nelson Goodman[8]) und Schrift (Aleida und Jan Assmann[9]) im Allgemeinen sowie in der interdisziplinären Zusammenschau (bspw. Tanznotation[10]) hinzu. Dieser enormen inhaltlichen – historischen, systematischen und theoretischen – Fülle, die das Fach ›Notationskunde‹ damit heute umfasst, aber auch der in der (deutschsprachigen) Musikwissenschaft traditionellen Zurückhaltung im Verfassen von didaktisch orientierten Lehrwerken war es wohl geschuldet, dass bis vor kurzem keine Einführung in dieses Fachgebiet existierte. Mit seiner Notationskunde. Schrift und Komposition 900–1900 legte Manfred Hermann Schmid nun ein Studienbuch vor, das auf knapp 300 Seiten, nicht nur die ›klassischen‹ (d.i. historisch orientierten) Kerngebiete der europäischen Notationsgeschichte referiert, sowie eine systematische Darstellung von zwei wesentlichen Aspekten musikalischer Notation – Schrift und Komposition – bietet, sondern erstmals auch in Ansätzen die Einbindung theoretischer Reflexionen zu Schrift im Allgemeinen erprobt. Die Fokussierung auf die Wechselwirkung von Schriftlichkeit und Komposition begründet schließlich auch die gewählte Einschränkung des Stoffumfangs, die im Untertitel mit einer Dauer von 1000 Jahren allerdings mehr rhetorisch als realiter die chronologischen Grenzen des Buchinhaltes abbildet. Vielmehr stellt Schmid mit diesem Verweis die vorliegende Notationskunde in die Traditionslinie der Wiener und Münchner »Schule« (7), die von Anfang an den Zusammenhang von Zeichen und Produktion von Musik[11] systematisch betrachtet hat und den Grundstein der auch im vorliegenden Band dargestellten Konzentration auf die »Hauptstränge der Entwicklung« (8) eines bis heute verwendeten, standardisierten Notationssystems (89) legte. Bei Schmid beginnen diese »Hauptstränge« (8) konkret mit ersten Quellen zur Mehrstimmigkeit um 900 und enden mit einem »ungefähren Grenzpunkt« (13) um 1900.
Inhaltlich basiert der Band primär auf Schmids Unterrichtserfahrungen seit 1987 an der Universität Tübingen (7). In seinem Notationskundekurs bietet er in insgesamt 18 didaktischen Einheiten, denen die 18 Kapitel im Buch entsprechen, einen umfassenden, jedoch – notwendigerweise – stets knappen Einblick in verschiedenartige Notationssysteme: Nach einer kurzen Einleitung in die Musiktheorie und in musikalische Quellen der Antike (19–24) bereitet er chronologisch die Schriften der Theorie (Buchstabennotationen [25–41]) und Praxis (Neumen [41–87], Modalnotation [88–114], Trecento- [115–120] und Mensuralnotation [121–166], Tabulatursysteme [213–248]) mit einer bewussten Konzentration auf historische Entwicklungslinien didaktisch ansprechend auf. Schmids systematischem Ansatz entspricht hierbei, dass er nicht jedem Notationssystem ein Kapitel widmet, sondern vielmehr in den einzelnen Einheiten auf generelle Kategorien und Entwicklungsstufen (z.B. »Die Vereinigung zweier gegensätzlicher Schriftprinzipien« [52ff.] oder »Die Hinzugewinnung des Rhythmus« [89ff.]) fokussiert, die anhand konkreter musikalischer oder musiktheoretischer Quellen erläutert werden. Er versucht also, jeweils übergeordnete Fragestellungen einer quellenorientierten Musikgeschichtsschreibung mit den zu erlernenden Notationssystemen zu verknüpfen. Darüber hinaus laden zusätzliche Kapitel ein, systematisch über »Grundfragen« von Hören, Sehen und Schrift (14–18), »Unschreibbares« (228–274), die »piktographischen Qualitäten musikalischer Schrift« (275–282) oder auch über die Probleme, die Übertragungen historischer Schriften in moderne Notation mit sich bringen, zu reflektieren (283–287). Weitere Einheiten beschäftigen sich darüber hinaus mit (historischen und modernen) Partituren, Schlüsselungen (167–234) und der »Zeichenexpansion vom 17. bis zum 19. Jahrhundert« (249–258).
Der Aufbau der einzelnen Kapitel spiegelt ebenfalls die Unterrichtspraxis wider, indem jede Einheit mit einer kurzen, allgemein gehaltenen Einführung in die Thematik beginnt, anschließend der Stoff anschaulich und mit Hilfe ordentlich gesetzter Graphiken sowie Notenbeispielen und hochwertigen Quellenabbildungen erläutert und häufig zum Abschluss das Erlernte in größere Zusammenhänge eingebettet wird. Eine gut sortierte Bibliographie, welche die wichtigste Literatur, Faksimiles und Editionen aus 150 Jahren Notationsgeschichte repräsentiert, ergänzt die einzelnen Abschnitte, die zudem noch mit Übungsaufgaben versehen sind.
Eine Stärke des Buches ist zweifellos, dass der aktuelle Forschungsstand zu den zentralen Inhalten einer musikalischen Notationsgeschichte, i.e. die Gewinnung von Darstellungsmöglichkeiten von exakten Tonhöhen und -dauern, referiert wird. Besonders die für Studierende beim ersten Kontakt bisweilen verwirrenden und schwer zu begreifenden Veränderungen und Regeln gleicher oder ähnlicher Notenzeichen auf dem Weg zur Mensuralnotation sind visuell ansprechend gestaltet und auf die elementarsten Fakten reduziert. Die eingeführten Termini werden dabei allerdings nur selten näher erläutert. Ein Glossar für Fachfremde und Studierende sowie als Lernhilfe wäre daher wünschenswert gewesen.
In der gewählten systematisierenden Darstellungsweise zeigen sich jedoch gerade in Hinblick auf die Frage nach »der Vereinigung [der beiden] gegensätzliche[n] Schriftprinzipien« (52–63), der Tonhöhe und der Tondauer, generelle Probleme einer teleologisch orientierten Notationsgeschichte: So prägnant die Entstehung von Tondauern dargestellt werden kann, so assoziativ erscheinen hingegen die Erklärungen zur Findung eines Darstellungssystems von Tonhöhen. Dies beruht auf der Tatsache, dass hierfür traditionell – und auch Schmid wählt diesen Weg – einmal theoretische Quellen (z.B. Franco von Köln) für den »Hinzugewinn des Rhythmus« (88–114), ein andermal Erläuterungen eines vorwiegend didaktischen Systems (Guido von Arezzo) für die Fixierung der Tonhöhe verwendet werden und dass diese unterschiedlichen Darstellungsformen nie problematisiert werden. Obwohl Schmid mit seiner quellenorientierten Zugangsweise zahlreiche Facetten historischer Verschriftlichungsstrategien anhand konkreter Musikbeispiele (mit Faksimiles) zeigt und auch die Folgen des Liniensystems auf die tonalen Strukturen der Gesänge erörtert[12], vergibt er hierbei die Chance, die verwendeten musiktheoretischen Quellen kritisch zu hinterfragen und dementsprechend zu verorten. So liest er Guido von Arezzos Micrologus als Zeugnis und gleichsam Beweis für die Einführung eines normativen Notationssystems, das einen »latenten Totalitätsanspruch« (60) in sich trägt, der eine »Aufführungsschrift« (= Neumen) in eine »Strukturschrift« und damit eine »›Werkschrift‹« (60) verwandelte. Dieses Primat der simplifizierenden Schriftlichkeit setzt Schmid permanent einer (schriftlich fixierten!) Mündlichkeit in Form von Neumen als jenen Hauptstrang entgegen, der sich »im Sinne von Didaktik und Klarheit« (62) durchgesetzt hat. Selbst wenn der Autor der Vollständigkeit halber erwähnt, dass sich adiastematische Neumen lange hielten, zeigt seine Wortwahl, die davon spricht, dass sich die St. Galler Mönche erst im 15. Jahrhundert zur neuen Schrift »bekehren« (62) ließen und Schriftlichkeit die Mündlichkeit überwältigte, »ohne deren Spuren ganz verwischen zu können« (62), mit welch engem Schriftlichkeitsbegriff er die dargestellten Quellen liest und interpretiert.
Mit dieser didaktisch-simplifizierenden Lesart bildet Schmid jedoch gleichzeitig auch seine eigene Darstellungsform des vorliegenden Buches ab. Aus der Lehre entstanden und für die Lehre geschrieben, teilen sich die einzelnen Abschnitte in entweder inhaltlich äußerst anspruchsvolle Erläuterungen zur Notation oder sehr allgemein einführende, große Zusammenhänge überblickende Abschnitte. Letztere – besonders in der Unterrichtssituation aus pädagogischen und rhetorischen Gründen nicht nur zulässig, sondern wichtig – werden im geschriebenen Text jedoch bisweilen zur Schwachstelle. So souverän Schmids Verknüpfungen bestimmter Kategorien von Schriftlichkeit über die Musikgeschichte hinweg sind, so besteht die Gefahr, dass sie – aus dem Unterricht genommen und damit unkommentiert – missverständlich aufgefasst werden könnten: Dass beispielsweise die mittelalterliche Musiktheorie Guido von Arezzo als »Erfinder der Musik feierte« (52), entspricht tatsächlich der oben dargestellten Lesart durch den Autor selbst, ist jedoch ohne eine – wenn auch knappe – Erläuterung des facettenreichen mittelalterlichen Musikbegriffs für Studierende und Fachfremde nicht korrekt verstehbar.
Das Selbststudium ist aber ohnehin offensichtlich nicht die Intention dieses vom Verlag auf dem Klappentext als »Lehr- und Arbeitsbuch« angekündigten Bandes, welcher die effektive Zielgruppe mit »Studierende und Lehrende« definiert. Als schriftliche Ausarbeitung eines universitären Kurses, der traditionell vom aktiven (Ein)üben der Inhalte durch die Teilnehmer selbst lebt, wird das vorliegende Buch tatsächlich am ehesten im Nachlesen und Nachschlagen wichtigster Inhalte für Dozierende oder fortgeschrittene Studierende sowie als Materialsammlung für die Unterrichtsgestaltung, weniger jedoch für die Textarbeit per se Verwendung finden können. Als äußerst hilfreich ist in dieser Hinsicht das als »digitaler Lehrgang« beigefügte Unterrichtsmaterial einzustufen, in dem in 26 Aufgabenstellungen die erlernten Inhalte gefestigt und reflektiert werden sollen. Ganz Apels Zugangsweise (vom Bekannten zum Unbekannten) verpflichtet, sind die Aufgabenstellungen hier nicht chronologisch angeordnet, können aber sehr wohl auch der inhaltlichen Abfolge des Lehrbuches entsprechend erarbeitet werden. Eine Zuordnungstabelle (im Buch auf S. 9f., im digitalen Lehrgang auf S. 2f.) soll dabei die Handhabung erleichtern. Zu jeder Übung werden die wichtigsten Informationen aus dem Lehrbuch nochmals kurz zusammengefasst; die gemachten Aufgaben können durch beigefügte Lösungen selbstständig überprüft werden. Dass die Chancen und Möglichkeiten eines digitalen Lehrgangs mit dem gewählten Format nicht genutzt wurden, hat bereits Andreas Janke in seiner Besprechung[13] des vorliegenden Buches zu Recht kritisiert. Dennoch ist dem Autor zu danken, dass er damit eine reiche Materialsammlung aus seiner langjährigen Unterrichtserfahrung zur Verfügung stellt, die zweifellos in aktuelle Kurse ihren Eingang finden wird. Tatsächlich sind die gestellten Aufgaben mit den angeführten Erläuterungen einwandfrei lösbar. Als optimale Vorbereitung eines in dieser Tradition ausgerichteten Notationskundekurses ist für Lehrende die genaue Kenntnis von Wolf und/oder Apel jedoch nach wie zu empfehlen.
Durchaus kontrovers zu diskutieren ist die durch Schmids Band stillschweigend eingeführte Erarbeitung von »Synopsen«, die einen wissenschaftlichen Zugang zu historischen Quellen sichern sollen. Dieses schrittweise Erstellen von Spartierungen, das jedoch zunächst die Darstellung der originalen Notierung beibehält, soll die Kursteilnehmer für Probleme und den Informationsverlust, den Übertragungen in das moderne Notensystem erzeugen, sensibilisieren. Dieses etappenweise Anfertigen von unterschiedlichen »Synopsetypen« (196) erläutert Schmid im elften Kapitel »Historische Partitur und moderne Praxis. Technische Empfehlungen« (191–205) anhand von drei Beispielen mit je unterschiedlichen Zielsetzungen. Dabei wird der »verantwortungsbewusste Historiker« (196) angewiesen, die Einzelstimmen in originaler Notenform und Schlüsselung, jedoch in Partituranordnung mit Hilfe von »Brevis- oder Longastrichen« (193) als Orientierungshilfe zu übernehmen. Erst in zwei weiteren Schritten werden Text und Akzidenzien platziert sowie Schreibirrtümer (»Emerendierungen«) überprüft und gegebenenfalls korrigiert. Begründet wird dieses zeitaufwändige Übertragungsverfahren einerseits mit historischen Quellen (Tongeren-Fragment, Abb. 77) und andererseits damit, dass vermieden werden soll, den »originalen Zeichen ihre Eignung für [die] klingende Ausführung abzusprechen« (196). In Zeiten, in denen bereits Studierende lernen, aus Originalen zu musizieren, scheinen beide Argumente nicht mehr überzeugend. Die Sorgfalt jedoch, die Schmid hier offen legt, indem er auf Fehlerquellen bei zu schnell absolvierten Übertragungsvorgängen verweist und mit der er Editionen kritisiert, die das Original fälschlicherweise korrigieren (204f.), ist zweifellos nachahmenswert. Als didaktisches Hilfsmittel ist diese sukzessive Transkriptionsmethode durchaus anwendbar, da sie durch ihren haptisch-motorischen Modus einen zusätzlichen Zugang bietet, um die Lernenden mit historischen Quellen vertraut zu machen – mit einer ähnlichen pädagogischen Zielsetzung, wie dies beispielsweise auch bei der Anfertigung von vergleichenden Neumentabellen der Fall ist. Als Methode per se ist die »Synopse« m.E. nicht überzeugend. Dies scheint jedoch auch nicht Schmids Intention zu sein, führt er doch diese Zugangsweise nach mehrmaligem Vorzeigen der einzelnen Synopsen-Schritte letztlich selbst nicht konsequent durch.
Den methodisch spannendsten Schritt setzt Schmid m.E. in seinem ersten Kapitel, den »Grundfragen« (14–18). Darin öffnet er die traditionelle, historische Notationskunde bewusst neuen Fragen nach »Sehen und Hören« sowie den Unterschieden zwischen »Sprachschrift und Tonschrift«. Damit aktuellen kulturtheoretischen Diskussionen[14] auf der Spur, werden in diesem Kapitel grundlegende Missverständnisse zwischen traditioneller Notationsgeschichte und zeitgenössischer Theoriebildung offenbar. So zeichnet sich die Zukunft der musikalischen Notationskunde gerade nicht in einer Abgrenzung zur »Sprachschrift« ab, wie Schmid es erläutert, sondern im selbstbewussten Eintritt in die theoretischen Diskurse von Schriftlichkeit, Zeichen und Bildkritik, in denen die »Tonschrift« – samt allen bereits in den vergangenen 150 Jahren dazu ausgeführten Überlegungen – tatsächlich viel mitzureden hat. Obwohl die Gedanken, die Schmid in diesem einleitenden Kapitel formuliert, weitgehend Hypothesen bleiben, laden sie zum weiteren Nachdenken über Notation im Allgemeinen ein und weisen neue Wege, wo die aktuell oder zukünftig wieder gelehrte ›Notationskunde‹ Erweiterungsbedarf hat und auch in der Pflicht steht, derzeitige Forschungsdiskurse aufzunehmen. Vor allem im Kapitel »Die piktographischen Qualitäten musikalischer Schrift« (275–282) zeigt der Autor denn auch anhand konkreter Beispiele, wie musikalische Zeichen auf »Hörbares und Sichtbares« (276) verweisen können. Selbst 2012 emeritiert, legt Schmid mit seiner Notationskunde die Tradition metaphorisch – didaktisch aufbereitet – in die Hände einer neuen Generation und weist zugleich weitere Richtungen, wo nun junge Dozierende und Forschende gefordert sind.
Gesamthaft betrachtet ist Schmids Notationskunde aufgrund ihrer klaren Darstellung von wichtigen musiktheoretischen Abhandlungen, ihrer Einführung in konkrete Musikbeispiele – durchwegs Referenzwerke der europäischen Musikgeschichte –, die sowohl aus notations- als auch kompositionsgeschichtlicher Sicht analysiert und kontextualisiert werden, und nicht zuletzt aufgrund der didaktisch und graphisch vorbildlich aufbereiteten Notationssysteme zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert sowohl Lehrenden als auch Studierenden höherer Semester als wertvolle Nachlese und Materialsammlung zu empfehlen. Wer sich einen Überblick über die verschiedenartigen Ausformungen von Notation innerhalb der europäischen Musikgeschichte verschaffen möchte, wird in Schmids Notationskunde ein ansprechendes und angenehm lesbares Buch finden, das, mit spannenden Anekdoten gespickt, einen ausführlichen Einblick in die europäische Musikgeschichte bietet und den Leser teilhaben lässt am umfangreichen (Quellen)wissen des Autors.
»Der Weg zur Notenschrift ist dornig«, setzt Laurenz Lütteken in seiner Rezension des vorliegenden Buches in der FAZ (26.09.2012) gleichsam einer Prämisse in der Überschrift voraus. Und wer historische Musik studieren und verstehen will, muss diesen Dornenweg irgendwann durchschreiten. Zu Recht bemerkt Lütteken zudem, dass die anspruchsvolle Darstellung einer umfassenden Notationskunde in Form eines Lehrwerkes mit einführendem Charakter letztlich einer Quadratur des Kreises entsprechen muss. Schmid hat dennoch dankenswerterweise den oben genannten detailreichen Gesamtdarstellungen sowie den einfachen Veröffentlichungen von Kursmaterialien[15] nun ein neues Format der Mitte hinzugefügt. Er hat damit den Schritt gewagt, die überlieferte Notationskunde für theoretische Reflexionen zu öffnen. Dass er überhaupt versucht, unzählige Bereiche dieses Fachgebietes von der Philologie über historische bis hin zu zeitgenössischer Theorie in einem Semester abzuhandeln, ist zweifellos dem Fakt geschuldet, dass dem nach wie vor eng gehandelten Begriff der ›Notationskunde‹ besonders im universitären Bereich in jüngster Zeit meist nicht viel mehr Platz eingeräumt wurde. Will man mehr als nur klassische Notationsgeschichte unterrichten, ist es innerhalb eines Semester definitiv unmöglich, einen Kreis zu einem Quadrat umzuformen. Was im alten Kurssystem von Universitäten und Hochschulen, dem der Band nach wie vor verpflichtet ist, alleine aus Zeitgründen schwer zu integrieren war, hat innerhalb der neuen modularen Curricula jedoch durchaus das Profil, neue Wege anzustoßen. So bleibt zu wünschen, dass das vorliegende Buch in Zukunft seinen kritisch reflektierten Platz innerhalb neu organisierter Curricula findet, in denen dem Fachgebiet ›Notationskunde‹ beispielsweise in Form einer übergeordneten Moduleinheit mehr Platz eingeräumt wird, um, beginnend mit der traditionellen »Kenntniß der Notationen«[16], sowohl die Geschichte zu beleuchten als auch einen Freiraum für eine vermehrte theoretische Reflexion sowie interdisziplinäre Zusammenführungen zu schaffen – stets im Bewusstsein, dass genau dafür das detailreiche Verständnis historischer, zeitgenössischer und außereuropäischer musikalischer Notation eine fruchtbringende Stärke der Musikwissenschaft darstellt. Nicht zuletzt dafür findet das vorliegende Buch hoffentlich bald zahlreiche Nachfolger, die es auf sich nehmen, den dornigen Weg zur »Erkenntnis der Notationen« zu beschreiten.
Anmerkungen
Adler 1885, 8. | |
Ebd. | |
Vgl. Wolf 1913/1919. | |
Vgl. Apel 1944. | |
Vgl. Floros 1970. | |
Vgl. Paulsmeier 2012. | |
Vgl. grundlegend Karkoschka 1966. | |
Vgl. Goodman 1976. | |
Vgl. grundlegend Assmann 1983. | |
Vgl. grundlegend Jeschke 1983; Hutchinson Guest 1984. | |
Vgl. Adler 1885, 8. | |
Schmid verweist hier auf den von Charles Atkinson dargestellten »Musterfall« der Communio Beatus servus (vgl. Atkinson 1990). | |
Vgl. Janke 2013. | |
Vgl. Nanni 2014. | |
Vgl. Schnürl 2000. | |
Vgl. Adler 1885, 8. |
Literatur
Adler, Guido (1885), »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft«, Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft 1, 5–20.
Assmann, Aleida und Jan (1983), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, München: Wilhelm Fink.
Apel, Willi (1944), The Notation of Polyphonic Music, 900–1600, Cambridge (MA): The mediaeval Academy of America.
Atkinson, Charles (1990), »From Vitium to Tonus acquisitus. On the Evolution of the Notational Matrix of Medieval Chant«, in: International Musicological Society, Study Group Cantus Planus. Papers read at the third meeting, Tihany, Hungary, 19–24 September 1988, hg. von László Dobszay, Budapest: Hungarian Academy of Sciences, 181–198.
Floros, Constantin (1970), Universale Neumenkunde, 3 Bde., Kassel: Bärenreiter.
Guest, Ann Hutchinson (1984), Dance Notation. The Process of Recording Movement on Paper, London: Dance Horizons.
Goodman, Nelson (1976), Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, zweite verbesserte Auflage, Indianapolis: Hackett.
Janke, Andreas (2013), Rezension »Manfred Hermann Schmid: Notationskunde. Schrift und Komposition 900–1900«, in: Die Tonkunst 7/1, 138–140.
Jeschke, Claudia (1983), Tanzschriften. Ihre Geschichte und ihre Methode. Die illustrierte Darstellung eines Phänomens von den Anfängen bis zu Gegenwart (= Tanzforschungen 2), Bad Reichenhall: Comes.
Karkoschka, Erhard (1966), Das Schriftbild der Neuen Musik. Bestandsaufnahme neuer Notationssymbole. Anleitung zu deren Deutung, Realisation und Kritik, Celle: Moeck.
Nanni, Matteo (2014), Die Schrift des Ephemeren. Konzepte musikalischer Notationen (= Resonanzen 2), Basel: Schwabe.
Paulsmeier, Katrin (2012), Notationskunde. 17. und. 18. Jahrhundert (= Schola Cantorum Basiliensis. Scripta 2), 2 Bde., Basel: Schwabe.
Schnürl, Karl (2000), 2000 Jahre europäische Musikgeschichte. Eine Einführung in die Notationskunde, Wien: Holzhausen.
Wolf, Johannes (1913/1919), Handbuch der Notationskunde, 2 Bde., Leipzig: Breitkopf & Härtel.
Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
This is an open access article licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License.