Joint-Meeting der Society for Music Theory und der American Musicological Society in Milwaukee/Wisconsin
Jan Philipp Sprick
Das Annual Meeting 2014 der Society for Music Theory (SMT) fand vom 6. bis 9. November 2014 in Milwaukee/Wisconsin statt. Wie in den USA alle zwei Jahre üblich, wurde das Treffen gemeinsam mit der American Musicological Society (AMS) durchgeführt. Aufgrund der unübersehbaren Vielfalt und Anzahl der Beiträge kann dieser Bericht selbstverständlich nicht umfassend sein.. sondern präsentiert eine persönliche Auswahl, der ich einige generelle Einschätzungen zu gegenwärtigen Trends und Entwicklungen in der US-amerikanischen Musiktheorie voranstellen möchte.
Nachdem die Forschungen zur Geschichte der Musiktheorie mit Erscheinen der von Thomas Christensen herausgegebenen Cambridge History of Western Music Theory[1] zu einem vorläufigen Abschluss gekommen waren – worauf sie für einige Jahre nicht so stark im Fokus standen –, ist in letzter Zeit wieder ein verstärktes Interesse an diesem Bereich zu beobachten. Dies zeigt sich in der Zunahme interdisziplinärer Fragestellungen – beispielsweise im Hinblick auf Musiktheorie und Philosophie oder Wissenschaftstheorie –, der engeren Zusammenarbeit von musicology und music theory und der – in der deutschsprachigen Musiktheorie schon länger andauernden – Tendenz zu historisch informierter Satzlehre und Analyse. Eine institutionelle Reaktion auf diese Entwicklung ist die von SMT und AMS in diesem Jahr gemeinsam initiierte Gründung einer History of Music Theory Interest Group. Ein weiteres Indiz ist die Verleihung des Outstanding Publication Award an Nathan Martin (Yale University), einen der Gründer der oben erwähnten Interest Group, für seinen Artikel »Rameau’s Changing Views on Supposition and Suspension«[2], der einer Neubewertung eines zentralen Konzepts in Rameaus Musiktheorie gewidmet ist. Der Emerging-Scholar-Award der SMT ging in diesem Jahr an Benjamin Steege für sein Buch Helmholtz and the Modern Listener.[3] Steege kombiniert hier auf äußerst komplexe Weise Geschichte der Musiktheorie und Ideengeschichte und beleuchtet damit die Anfänge der Music Cognition, einem zentralen Themenfeld gegenwärtiger Musiktheorie in den USA. Music Cognition wiederum ist der thematische Hintergrund für das Buch On Repeat: How Music Plays the Mind von Elizabeth Hellmuth Margulis, das sich dem Phänomen der Wiederholung in der Musik aus kognitivistischer und analytischer Perspektive nähert und in diesem Jahr mit dem Wallace-Berry-Award, der höchsten Auszeichnung der SMT, geehrt worden ist.[4]
Abgesehen von der Tatsache, dass alle drei Preise an jüngere Musiktheoretikerinnen und Musiktheoretiker gegangen sind, zeigt die Auswahl des Award Committees eine Tendenz hin zu musiktheoretischen Fragestellungen, die zwar die musikalische Analyse im Blick behalten, diese allerdings historisch, ideengeschichtlich oder psychologisch kontextualisieren. Das heißt keinesfalls, dass primär systematisch-analytische Zugänge keine Konjunktur mehr haben, sondern dass die Musiktheorie gegenwärtig ihr Themenspektrum und ihre Fragestellungen deutlich erweitert.
Die zunehmende Relevanz historischer Musiktheorie zeigte sich insbesondere in einer der Partimento-Tradition gewidmeten thematischen Sektion. Der Vortrag »Some Dispositiones of the Fonte Schema« von Simon Prosser (Graduate Center, CUNY) beschäftigte sich anhand instruktiver Beispiele mit Fonte-Strukturen in unterschiedlichen Kontexten. Die Verwendung des Fonte-Schemas ist Prosser zufolge von dessen jeweiliger ›dispositio‹ abhängig, die er als »higher-level schema regulating the harmonic processes or goals of a small-scale schemata« definiert. Dabei wird Fonte nicht primär im Sinne Riepels – als Einstieg in den B-Teil eines Menuetts – verstanden, sondern in Terminologie und theoretischer Herleitung auf Gjerdingens allgemeinere Verwendung in Music in the Galant Style bezogen.[5] Prosser identifiziert drei Möglichkeiten, mit Hilfe derer das Fonte-Schema Einfluss auf die ›dispositio‹ eines Satzes nehmen kann: »Prolonging«, »Dominant-Reactivating« und »Modulating«. Methodisch interessant war, dass Prosser die verschiedenen Fonte-Passagen durchgehend mit Schenker-Graphen analysiert und damit zwei analytische Traditionen zusammenbringt, die sich beispielsweise bei Gjerdingen noch unversöhnlich gegenüberstehen. Für Prosser handelt es sich bei einer ›dispositio‹ ebenfalls um ein Schema, nur eben auf einer hierarchisch höheren Ebene, die mittels des »Schenkerian voice-leading paradigm« repräsentiert werden kann. Konsequenterweise erwähnte Prosser in seiner Literaturliste dann auch die kürzlich in der ersten Ausgabe der neu gegründeten Zeitschrift Music Theory & Analysis erschienenen Artikel von Folker Froebe und Oliver Schwab-Felisch, die sich mit einer vergleichbaren Thematik beschäftigen.[6] Dies zeigt wiederum, hier in positiver Weise, dass Texte deutschsprachiger Autoren in den USA offenbar nur dann rezipiert werden, wenn sie in englischer Sprache erscheinen.
Stefan Eckert (Eastern Illinois University) zeigte in seinem Vortrag »Aspects of Partimento Practice in Riepel’s Anfangsgründe[n] zur musikalischen Setzkunst« Wechselwirkungen deutschsprachiger und italienischer Musiktheorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf. Beispiele für die Partimentopraxis findet er in Riepels Diskussion der Oktavregel oder in Übungen, in denen eine unbezifferte Basslinie vom Lehrer beziffert wird. Dass Eckert sich auf Giorgio Sanguinettis fünf Klassen von Partimento-Regeln bezieht, zeigt den maßstabsetzenden Einfluss von Sanguinettis Buch The Art of Partimento in der US-amerikanischen Musiktheorie.[7]
Robert O. Gjerdingens (Northwestern University) Vortrag »Harmony without Theory: Apprenticeship at the Paris Conservatory«, den er in ähnlicher Form bereits bei der EuroMAC in Leuven im September 2014 gehalten hatte, blickte affirmativ in die Vergangenheit: Ausgehend von der Diagnose, derzufolge die Vermittlung von Harmonielehre im gegenwärtigen US-amerikanischen Musiktheorie-Unterricht zu stark an schriftlichen Übungen orientiert sei, ging es Gjerdingen insbesondere darum nachzuweisen, dass das neapolitanische Partimento auch am Pariser Conservatoire gelehrt worden ist und somit eines der am stärksten verschulten Musiktheorie-Curricula des 19. Jahrhundert bestimmt hat. Das Problem der Vorträge Gjerdingens liegt – trotz der Präsentation interessanter Quellen – darin, dass eine auf das Erstaunen des Publikums gerichtete Rhetorik, gepaart mit einem Übermaß an Anekdoten, angestrengt wirkt und so der Charakter einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Thematik verloren zu gehen droht.
Eine weitere Gruppe von Vorträgen wurde unter dem Label Without zu einer Sektion zusammengestellt. Stanley Kleppinger (University of Nebraska–Lincoln) präsentierte in seinem Vortrag »Pitch Centricity without Pitch Centers« zunächst einige aktuelle Tonalitätsdefinitionen.[8] Die sich daran anschließenden Analysen gingen insbesondere von der individuellen Hörerfahrung aus und entwickelten Kriterien für die Wahrnehmung von ›pitch centricity‹. Diese definierte Kleppinger zunächst als die fokussierte Wahrnehmung auf eine ›pitch class‹ in einem gegebenen musikalischen Kontext. Diese hervorgehobene Stellung einer bestimmten Tonhöhe, so Kleppinger, in der Regel durch die Herstellung eines Bezuges auf ein pitch center hergestellt. Gibt es dieses ›pitch center‹ jedoch nicht mehr kann auch keine ›pitch centricity‹ entstehen. Kleppinger diskutierte Beispiele von Anton Webern und Vaughan Williams, in denen eine ›pitch centricity‹ trotz Abwesenheit eines ›pitch centers‹ entsteht. Richard Cohn, der ebenfalls Teilnehmer des Panels war, fragte im Anschluss, inwiefern Kleppingers Vorstellung von ›pitch centricity without pitch center‹ nicht eine Dichotomie von tonaler und atonaler Musik zementiere, die vor dem Hintergrund jüngerer Diskussionen nicht mehr aufrecht erhalten werden könne. Zudem schlug Cohn vor, die theoretische Diskussion stärker historisch zu kontextualisieren.
In seinem eigenen Vortrag »Meter without Tactus« problematisierte Cohn traditionelle Wahrnehmungen von Metrum, die sich auf einen durchgehenden ›tactus‹ beziehen und plädierte für eine flexiblere Wahrnehmung metrischer Strukturen. Cohn vergleicht die Bezugnahme auf einen ›tactus‹ mit der Suche nach einer Tonika in tonaler Musik. Diese »ontology of orientation« sei ein typisches Kennzeichen für die Musiktheorie seit dem 18. Jahrhundert und zugleich für die Tatsache, dass theoretische Überlegungen zur Frage des Metrums nur einen geringen Raum in der musiktheoretischen Unterrichtspraxis einnehmen und flexible Betrachtungen in der Regel keinen Raum bekommen würden.
Die immer wichtiger werdende Rolle der Filmmusik im musikwissenschaftlichen Diskurs der USA zeigte eine prominent besetzte Sektion zu dieser Thematik. Berthold Hoeckner (University of Chicago) wählte in seinem Vortrag »Film, Music, Affective Economies« einen interdisziplinären Zugang und diskutierte zum einen die Frage nach Affekten im Film im Spannungsfeld einer »Autonomie des Affekts« (Brian Massumi) und zum andern Fragen der Wirtschaft. Seine filmischen Beispiele stammten mit Frank Capras American Madness (1932) und George Stevens I Remember Mama (1948) aus der Zeit der großen Depression oder der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zentral war für Hoeckner die Frage, wie im Film »affective economies« konstituiert werden und welche Rolle die Musik in diesem Prozess spielt. Die von Hoeckner zitierten Autoren verweisen mit Niklas Luhmann, Brian Massumi, Anthony Giddens, Georg Simmel, Michael Hardt und Gilles Deleuze auf ein breites Spektrum poststrukturalistischer Soziologie und Philosophie und zeigten damit die Anschlussfähigkeit aktueller musikwissenschaftlicher Forschung an aktuelle filmwissenschaftliche Diskurse.
Während Hoeckner in erster Linie die Verwendung von Musikbeispielen in bestimmten filmischen Kontexten diskutierte, widmete sich Carolyn Abbate (Harvard University) in ihrem Vortrag »Sound Object Lessons« aus einer historischen Perspektive der Frage nach der Grenze und den Übergangen von ›sound objects‹ und Filmmusik. Als Beispiele fungierten Auszüge aus Filmen der 1930er Jahre, in denen Objekte durch Bewegung einen quasi ›musikalischen‹ Klang erzeugen. Abbates übergeordnetes Anliegen war es, auf die fließenden Grenzen zwischen Musik, Klang und Geräusch am Beispiel der Frühzeit des Tonfilms hinzuweisen. Gleichzeitig gelte es auch, darüber nachzudenken welche Rolle Tontechniker und Musiker in diesem Prozess jeweils spielen und welche Folgen dies für die Genese musikalischer Bedeutung im Film haben könne.
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Ich möchte nun noch auf zwei sehr unterschiedliche thematische Sektionen eingehen, die in ihrer Unterschiedlichkeit auch die gegenwärtige thematische Bandbreite musiktheoretischer Diskussionen in den USA widerspiegeln. Methodisch verwandt mit den eben diskutierten Fragen zur Filmmusik war das von Martha Feldman (University of Chicago) organisierte Panel »Why Voice Now?«. Dieses von AMS und der SMT gemeinsam veranstaltete Panel zeigte, warum in Zukunft auch hierzulande darüber nachgedacht werden sollte, regelmäßig gemeinsame Kongresse von GMTH und GfM zu veranstalteten, um den intradisziplinären Dialog von Musiktheorie und Musikwissenschaft zu fördern. Das Panel präsentierte nicht nur eine gute Mischung aus methodischen und theoretischen Überlegungen, sondern auch einige interessante Fallstudien.
Ausgangspunkt war Feldmans Diagnose, dass Voice Studies gegenwärtig in einer Vielzahl von Disziplinen und Institutionen eine große Konjunktur haben. Vor diesem Hintergrund versteht es sich von selbst, dass aus der Sicht Feldmans mit Jacques Lacan, Jacques Derrida und Roland Barthes in den 1960er Jahren der theoretische Höhepunkt der Beschäftigung mit der Stimme erreicht war, der dann aber erst nach längerer Zeit in der Musikforschung mit Büchern wie Carolyn Abbates Unsung Voices[9] reflektiert worden ist. Am Beispiel dieser Thematik wurde unabhängig von der Triftigkeit von Feldmans Beobachtungen wieder einmal deutlich, wie abgekoppelt der angloamerikanische vom deutschsprachigen Diskurs ist. Die umfangreichen Forschungen zur Stimme von Philosophinnen und Theaterwissenschaftlern wie Sybille Krämer, Doris Kolesch oder Vito Pinto[10] verfolgen ähnliche Fragestellungen und nehmen in ähnlicher Weise auf poststrukturalistische Theoriebildung aus Frankreich Bezug. Allerdings werden diese Forschungen in den USA offenbar nicht rezipiert. Hier wäre ein Dialog sehr wünschenswert, wie ihn beispielsweise die jüngste Jahrestagung des Berliner Zentrums für Literaturforschung (ZfL) – »Die Stimme im Ausnahmezustand« – exemplarisch ermöglicht hat.[11]
Nach Feldmans einleitenden Überlegungen beschäftigte sich Steven Rings (University of Chicago) aus musiktheoretischer Perspektive mit methodischen Fragen und Problemen bei der Analyse unterschiedlicher Stimmen in der Popmusik, insbesondere bei Elvis Presley und Bob Dylan. Diese auf die Popmusik fokussierte Fragestellung zeigte, dass vergleichende Untersuchungen im Hinblick auf das Verhältnis von Timbre und Wirkung von Stimmen bei klassischen Sängerinnen und Sängern bislang nur selten durchgeführt worden sind. Emily Wilbourne (Queens College, CUNY) ging dem Zusammenhang von Stimme und individueller Charakterisierung am Beispiel des Stotterers Demo in Cavallis Oper Giasone aus dem Jahr 1649 nach. Nina Eidsheim (University of California, Los Angeles), Brian Kane (Yale University) und James Q. Davies (University of California, Berkeley) näherten sich der Thematik des Panels aus einer theoretischen Perspektive und reflektierten dabei nicht nur kritisch die Theorien von Derrida und Mladen Dolar (Kane), sondern auch gegenwärtige methodologische Ansätze in den Voice Studies (Eidsheim) sowie deren politische Implikationen (Davies). Aus letzterer Perspektive geht es dabei immer auch um die Frage, ob jemand überhaupt eine Stimme hat. Insgesamt bot das Panel einen beeindruckenden Überblick über die methodologische Vielfalt und die Vielfalt der Fragestellungen, die aus der Kombination von Music theory und Historical Musicology erwachsen können.
Ein wiederum genuin musiktheoretisches – und auch vollständig von der SMT verantwortetes – Panel war dem in Yale lehrenden Musiktheoretiker Daniel Harrison und seinem 1994 erschienenen Buch Harmonic Function in Chromatic Music gewidmet.[12] Das Buch, das immer etwas im Schatten der kurz danach aufkommenden Neo-Riemannian Theory gestanden hat wurde in vier Vorträgen aus unterschiedlichen Perspektiven gewürdigt. Steven Rings (University of Chicago) betonte in seinem Vortrag »Metaphor, Technology, and Experience in Harrison’s Harmonic Theory« insbesondere das Vergnügen Harrisons an der metaphorischen Begriffsprägung. Diese Begriffe stünden in einem engen Zusammenhang mit dem dynamischen Charakter von Harrisons Theorie, in der die harmonische ›attitude‹ eines bestimmten Akkordes eine wichtige Rolle spielt und in der auch Einzeltönen eine harmonische Funktion zukommen kann.
Jonathan Wild (McGill University) beschäftigte sich vor dem Hintergrund der Rolle, die der harmonische Dualismus in Harrisons Theorie spielt, mit »Diatonic Melodic Inversion Viewed through a Harrisonian Lens: Reger’s ›Variations on a Theme by Mozart, op. 132‹«. Ausgehend von Harrisons Bezugnahmen auf Hauptmann und Sechter präsentierte Wild in einer eigenständigen Weiterentwicklung dualistischen Denkens eine Reihe von Beispielen, u.a. die Paganini-Variationen von Rachmaninoff, bei denen die ›diatonische Umkehrung‹ zu interessanten Ergebnissen führt. Wild wies darauf hin, dass in Harrisons Ansatz nicht einfach nur Akkorde als Ganzes betrachtet, sondern in ihre Elemente zerlegt werden, indem sich beispielsweise einzelne Töne auf subdominantische oder dominantische Funktionen aufteilen. Dieser Ansatz und der daraus entwickelte theoretische Apparat führe, so Wild, zu einem »slow-listening« und einer »slow-analysis«, die die Aufmerksamkeit mehr auf einzelne Details als auf den großen Zusammenhang richte.
Suzannah Clark (Harvard University) griff ebenfalls Harrisons Bezugnahme auf die dualistische Theorie Arthur von Oettingens auf und fragte nach dessen Rolle als Analytiker, auch wenn Harrison das Konzept der symmetrischen Umkehrung ablehne. Der Ausgangspunkt für Clark war die ungewöhnliche Anlage von Harrisons Buch, in dem zuerst dessen eigene Theorie und dann erst in einem zweiten Teil der historische Hintergrund dargestellt wird. Im Gegensatz zu der Aufmerksamkeit, die Oettingens Theorie in Form einer starken Kritik erfahren hat, ist diejenige an seinen Analysen, insbesondere in dem späten Buch Das duale Harmoniesystem[13], bislang nur gering gewesen. Clark stellte Verbindungen her zwischen Harrisons Konzept von »base«, »agent« und »associate«, Steven Rings’ »qualia« und Clarks eigenen Überlegungen zu »common-tones« bei Franz Schubert.[14]
In seinem eigenen Beitrag, »Extending Harmony to Extended Chords« ging Harrison weniger auf sein Buch ein, sondern stellte vielmehr jüngste Weiterentwicklungen seiner Forschungen vor. Dabei ging es ihm insbesondere um neue Analysemöglichkeiten von Musik, die nicht eindeutig mit den Labels ›tonal‹ oder ›atonal‹ in den Griff zu bekommen und die durch sogenannte »extended chords«, Akkorde mit Nonen, Undezimen und anderen zusammengesetzten Intervallstrukturen, gekennzeichnet sei. Harrison ist grundsätzlich der Auffassung, dass die konventionelle Harmonielehre die entscheidenden theoretischen Probleme erweiterter Akkorde zunehmend aus dem Blick verloren hat. Dies führt er insbesondere darauf zurück, dass etwa klassische Harmonielehre und Jazz-Theorie weitgehend getrennt agieren und dass die Geschichte der tonalen Harmonik häufig so betrachtet wird, als sei sie mit Schönberg an ihr Ende gekommen. In seinen Analysen von Musik von Hindemith, Prokofiev, Krének und Richard Strauss untersucht Harrison die Akkordstrukturen nicht nur im Hinblick auf ein tonales Zentrum oder ihre jeweilige Fortschreitung, sondern als »pitch-space entities having register, voicing and arrangement«. Gerade in dieser detaillierten und vielschichtigen Betrachtung von Einzelklängen liegt die Verbindung von Harrisons gegenwärtigen Forschungen zu seinem zwanzig Jahre alten Buch.
Die seit Jahren immer stärkere werdende Verbindung von Musiktheorie und Philosophie in der nordamerikanischen Musiktheorie manifestierte sich in der diesjährigen SMT-Keynote der Philosophin Lydia Goehr (Columbia University) »Does It Matter Where We Begin? Thinking about First Lines and False Starts«. Goehr umkreiste die Thematik in ihrem Vortrag, indem sie die Frage nach Anfängen von Musikstücken, der Praxis des Präludierens und bestimmten Konventionen des Konzertlebens dadurch illustrierte, dass sie mit Musikbeispielen und systematischen philosophischen Überlegungen immer wieder neue Anfänge und Ansätze quasi performativ generierte.
Anmerkungen
Christensen 2002. | |
Martin 2012. | |
Steege 2012. | |
Margulis 2014. | |
Gjerdingen 2007. | |
Froebe 2014 und Schwab-Felisch 2014. | |
Sanguinetti 2012. | |
Kleppinger bezieht sich insbesondere auf Brian Hyers Tonalitäts-Definition, derzufolge es sich bei tonalen Zusammenhängen um »systematic arrangements of pitch phenomena and relations between them« handelt. (Hyer 2002, 726) | |
Abbate 1991. | |
Vgl. dazu u.a.: Kolesch/Krämer 2006 und Kolesch/Pinto/Schrödl 2009. | |
Hier ein Link zur Dokumentation der Tagung: http://www.zfl-berlin.org/zfl-in-bild-und-ton-detail/items/die-stimme-im-ausnahmezustand-jahrestagung-2014-des-zfl.html | |
Harrison 1994. | |
Oettingen 1913. | |
Vgl. dazu: Rings 2011; Clark 2011. |
Literatur
Abbate, Carolyn (1991), Unsung Voices: Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century, Princeton: Princeton University Press.
Christensen, Thomas (Hg.) (2002), Cambridge History of Western Music Theory, Cambridge: Cambridge University Press.
Clark, Suzannah (2011), Analyzing Schubert, Cambridge: Cambridge University Press.
Froebe, Folker (2014), »Schema and Function«, Music Theory & Analysis, I/1–2, 121–140.
Gjerdingen, Robert O. (2007), Music in the Galant Style, Oxford und New York: Oxford University Press.
Rings, Steven (2011), Tonality and Transformation, Oxford und New York: Oxford University Press.
Harrison, Daniel (1994), Harmonic Function in Chromatic Music, Chicago: University of Chicago Press 1994.
Hyer, Brian (2002), Art. »Tonality«, in: Christensen 2002, 726–752.
Kolesch, Doris / Sybille Krämer (Hg.) (2006), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kolesch, Doris / Vito Pinto / Jenny Schrödl (Hg.) (2009), Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven, Bielefeld: Transcript.
Margulis, Elizabeth H. (2014), On Repeat: How Music Plays the Mind, New York: Oxford University Press.
Martin, Nathan J. (2012), »Rameau’s Changing Views on Supposition and Suspension«, Journal of Music Theory 56/2, 121–167.
Oettingen, Artur von (1913), Das duale Harmoniesystem, Leipzig: Siegel.
Sanguinetti, Giorgio (2012), The Art of Partimento, Oxford und New York: Oxford University Press.
Schwab-Felisch, Oliver (2014), »The Butterfly and the Artillery: Models of Listening in Schenker and Gjerdingen«, Music Theory & Analysis 1/1–2, 107–120.
Steege, Benjamin (2012), Helmholtz and the Modern Listener, Cambridge: Cambridge University Press.
Hochschule für Musik und Theater Hamburg
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