Rohringer, Stefan (2013), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 10/1, 7–8. https://doi.org/10.31751/706
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 06/07/2014
zuletzt geändert / last updated: 19/02/2016

Editorial

Den 180. Geburtstag von Johannes Brahms nimmt die ZGMTH zum Anlass einem der bedeutendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts ein Themenheft zu widmen. Sowohl hinsichtlich der diskutierten Gattungen – von der Sinfonik über das Lied bis hin zur späten Klavier- und Kammermusik –, als auch der gewählten Ansätze der einzelnen Autorinnen und Autoren – von der Geschichtserzählung über die Performance Studies und individuelle Werkbetrachtung bis hin zur systematischen Theoriebildung – zeugen die sechs den Themenschwerpunkt der Ausgabe bildenden Artikel von der gegenwärtigen inhaltlichen und methodischen Diversifikation in Musiktheorie und Musikwissenschaft.

Im allgemeinen Bewusstsein wenig verankert ist, dass in den gut 25 Jahren, die zwischen der letzten Sinfonie Robert Schumanns und der Uraufführung der ersten Sinfonie von Johannes Brahms liegen – Liszts Sinfonischen Dichtungen und Wagners Versuch, seine Musikdramatik als eigentliches Erbe der Beethoven’schen Sinfonik auszuweisen, zum Trotz – eine umfangreiche sinfonische Produktion das Musikleben im deutschsprachigen Raum beherrschte. In Ergänzung des geläufigen Geschichtsbildes, das analog zu der engen persönlichen Verbindung zwischen Schumann und Brahms, auch zwischen dem Schaffen beider Komponisten eine direkte Verbindung akzentuiert, betrachtet Edith Metzner Johannes Brahms’ Beitrag zur Sinfonik erstmals verstärkt vor dem Hintergrund der sinfonischen Produktion jener Zwischenzeit und ihrer spezifischen Problemgeschichte.

Terzenketten gelten als eine unumstrittene Materialgrundlage beider Ecksätze in Brahms’ vierter Sinfonie. Ausgehend von der Frage »Absicht oder Zufall?« weitet Peter Petersen den gängigen Fokus um die generelle Interdependenz diatonischer Intervallzirkel aus Sekunden, Terzen und Quarten. Dadurch gelingt es ihm, andere Bezüge zwischen beiden Sätzen zu erhärten als gemeinhin bekannt.

Neben Sinfonik und Kammermusik nimmt vor allem das Liedschaffen in Brahms’ Œuvre breiten Raum ein. Kilian Sprau wendet sich mit Unbewegte laue Luft dem abschließenden achten Lied aus Brahms’ Opus 57 nach Gedichten von Georg Friedrich Daumer zu. Dass den ästhetischen Reiz eines Musikwerks gerade die Irritation gegenläufiger formbildender Strategien ausmachen kann, bildet den Ausgangspunkt der hier ausgebreiteten Überlegungen. Sprau, der ›Polyvalenz‹ als analytische Kategorie begreift, widmet sich den Mehrdeutigkeiten in Brahms’ Formgestaltung unter Einbezug des Wort-Ton-Verhältnisses und resümiert die bisherige Forschung zum Werk.

Heinrich Schenker verstand seinen Ansatz als Kunstlehre. Die Anleitung zum Hören und die Einflussnahme auf die künstlerische Praxis galten ihm als untrennbar miteinander verbunden. Vor diesem Hintergrund diskutiert Joanne Leekam unterschiedliche Lesarten des Intermezzos a-Moll op. 118/1 auf Grundlage der Schenkeranalytik und fragt nach den jeweiligen Konsequenzen für die klangliche Umsetzung am Instrument. Damit schließt der Beitrag inhaltlich an eine frühere Veröffentlichung in der ZGMTH an, in der Christoph Hust Schenkers Anleitung zum Vortrag von Wolfgang Amadé Mozarts Fantasie c-Moll KV 475 erörtert.[1]

Auch der Beitrag von Stefan Rohringer beschäftigt sich mit Brahms’ später Klaviermusik. Die Rekomposition von Abschnitten des Intermezzos h-Moll op. 119/1 weist darauf hin, dass traditionelle Formen musikalischen Zusammenhangs in Brahms’ Komposition nicht bloß in die Latenz zurücktreten, sondern durch andere ersetzt werden. Eine Diskussion von Beiträgen der Schenkeranalytik und die Verknüpfung von Überlegungen Moritz Hauptmanns zur Darstellung der Tonart mit der ›Theorie der Tonfelder‹ nach Albert Simon und Bernhard Haas bilden die theoretische Grundlage einer Schichtenanalyse des Werks.

Arnold Schönbergs Diktum von ›Brahms, dem Fortschrittlichen‹ prägt die Brahms-Forschung bis zum heutigen Tag. Jan Philipp Spricks Einschätzung zufolge handelt es sich der Tendenz nach um eine einseitige Herangehensweise. Der herkömmlichen Fixierung auf Entwicklung und Variation stellt Sprick die Bedeutung von Wiederholung und Symmetrie am Beispiel des Kopfsatzes aus der Sonate op. 120/2 für Klarinette (oder Bratsche) und Klavier entgegen.

Noch einem zweiten Jubiläum wird in der vorliegenden Ausgabe der ZGMTH gedacht: Nur wenige Tage, nachdem sich Brahms’ Geburtstag zum achtzigsten Male jährte, wurde Claude Debussys Ballettmusik Jeux aus der Taufe gehoben. Nach der ohnehin eher glücklosen Premiere sorgte der zwei Wochen später folgende Skandal um Igor Strawinskys Le sacre du printemps für eine anhaltende Verdrängung des Werks aus der öffentlichen Wahrnehmung. Die Jeux sind so eine der meistunterschätzten Kompositionen ihres Schöpfers geblieben. Andreas Winkler unterzieht sie in der Rubrik ›Musiktheorie der Gegenwart‹ einer eingehenden Analyse und verortet ihren Stellenwert im Schaffen Debussys und in der Musik der frühen Moderne.

Zwei Rezensionen beschließen die Ausgabe: Katelijne Schiltz bespricht Majestas Mariae. Studien zu marianischen Choralordinarien des 16. Jahrhunderts von Christiane Wiesenfeldt und Stefan Eckart stellt Learn from the Masters. Classical Harmony von Sten Ingelf vor.

Stefan Rohringer

Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

This is an open access article licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License.