Konversationen über Musik
Zur pädagogischen Qualität musiktheoretischer Lehrdialoge
Robert Lang
In Form einer historisch ausgerichteten Studie werden kommunikative Strategien der historischen Musikpädagogik anhand musiktheoretischer Lehrdialoge vom ersten nachchristlichen bis ins 19. Jahrhundert untersucht. Zwar spiegeln die Lehrer-Schüler-Gespräche vielfach die hierarchisch geprägten pädagogischen Konzepte ihrer jeweiligen Zeit, doch finden sich auch Momente einer ›Schülerorientierung‹, in denen der fiktive Schüler als Identifikationsfigur des Lesers gewährleistet, dass kein didaktischer Schritt an dessen Bedürfnissen vorbeigeht.
I.
Die Form des Lehrdialogs hat seit der Antike in vielen Wissenschaften ihre Anwendung gefunden. Aus frühester Zeit sind es zweifellos die Dialoge Platons, die heute den größten Bekanntheitsgrad haben. Nicht selten taucht daher in der Fachliteratur der Begriff der »sokratischen« oder »socratisierenden Behandlung« eines Stoffes als Synonym für den Lehrdialog insgesamt auf.[1] In der neueren Dialogforschung wird aber davon ausgegangen, dass es in frühchristlicher Zeit nicht mehr Platon sondern Cicero war, dessen Dialoge man für idealtypisch hielt.[2] Cicero wiederum wurde als Musterautor am Ende des 6. Jahrhunderts von Papst Gregor dem Großen abgelöst. Der zuletzt genannte Wechsel war für alle Wissenschaften von methodologischer Bedeutung, weil sich mit ihm ein entscheidender Wandel vollzog. Waren es zuvor kontroverse Diskussionen, welche die Dialoge mit ihren zwei, drei und mehr Gesprächspartnern geprägt hatten, so bevorzugte man nun einen erbaulich-belehrenden Dialogtypus mit grundsätzlich zwei Sprechern.[3] Diese Verengung des Dialogpersonals auf zwei Teilnehmer im Meister-Schüler-Verhältnis ist bis zum Ende der Tradition des Lehrdialogs die Norm geblieben (vgl. Anhang).
Eine gründliche Untersuchung des Lehrdialogs auf dem Gebiet der Musik, bei dem die Geschichte der Musiktheorie ebenso eine Rolle spielt wie methodische Gesichtspunkte, hat die Forschung noch zu leisten. Allerdings darf die Entwicklung musikalischer Lehrdialoge nicht als Sonderweg betrachtet werden, so sehr auch individuelle Züge gewisser Autoren dies suggerieren. Die Geschichte erotematischer Lehrwerke für Komposition, Gesang oder Instrumentalspiel war immer nur ein Teil der umfassenden fachübergreifenden Tradition. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, zunächst einen pädagogischen Akzent zu setzen, da die erotematische Reihung von Fragen und Antworten eine offenbar für lange Zeit bewährte Methode beim Vermitteln musikalischer Bildung war und deshalb darüber nachgedacht werden sollte, in welchem Verhältnis sie zur Pädagogik der Gegenwart steht. Zwei Fragen sind hierbei von Interesse. Erstens: Gibt es allgemeine Qualitäten des Lehrdialogs, die heute noch (oder wieder) zu würdigen oder sogar erhaltenswert sind? Zweitens: Inwiefern ist die Dialogform speziell für das Fach Musik bzw. das Fach Musik für die Dialogform geeignet?
II.
Es ist evident, dass die bereits im 19. Jahrhundert verstummte Tradition des schriftlichen Lehrgesprächs eine Reihe altertümlicher Elemente aufweist. Geradezu grotesk muss aus heutiger Sicht etwa die extreme Unterwürfigkeit fiktiver Schüler gegenüber ihren Lehrern erscheinen: »Hochzuehrender« und »hochgeehrtester Lehrmeister« heißt es in der deutschen Fassung der Fuxschen Gradus ad Parnassum.[4] Nach Abschluss des einleitenden Gesprächs erklärt der Schüler (Josephus): »Du bist so gütig gewesen, und hast meiner ersten Frage ein Gnügen geleistet.«[5] Aussprüche tiefer Dankbarkeit werden den Schülern vielerorts in den Mund gelegt, so auch in Severo Boninis Discorsi e Regole (1640): »Benedetta le sia la bocca mille volte, perché ogni cosa è verissima.«[6]
Neben diesem hierarchischen Gefälle ist es vor allem auch die Art der Fragestellung, von der sich Pädagogen unserer Zeit längst distanziert haben. Gemeint ist außer den inhaltlichen Details des Unterrichts zunächst einmal die extreme Dichte der Impulse von Seiten des Lehrenden. Ein regelrechtes Abfragen des Schülers ist etwa bei Augustinus mitzuverfolgen:
M: Modus qui pes est?
D: Pyrrichius.
M: Quot temporum est?
D: Duum.
M: Bonus qui pes est?
D: Idem qui et modus.[7]
Auf der anderen Seite dokumentieren einige der überlieferten Dialoge auch pädagogische Vorgehensweisen, die noch den heutigen Maßstäben genügen dürften – allem voran das Einfühlen des Lehrers in potenzielle Schwierigkeiten auf Schülerseite. Dies ist allerdings nur möglich, wenn der Autor eine Schüleräußerung zum betreffenden Problem auch zulässt. Voraussetzung ist also eine gemäßigte Hierarchie der Gesprächspartner, im Rahmen derer die Beiträge des Schülers mehr sind als nur Automatismen. Bei Fux endet das Kapitel zur »2. Gattung« im dreistimmigen Satz wie folgt:
Aloysius: Diese Exempel mögen voritzo genug seyn, die übrigen drey Tone überlasse ich deinem Fleisse zu Hause.
Joseph: Ich finde bey dieser Uebung viel Beschwerlichkeit, so, daß mir manchmahl die Fortschreitung von einem Tact zum andern bey nahe ohnmöglich scheinet.
Aloysius: Ich muß gestehen, daß die Verfertigung dieser Gattungen nicht so leicht sey, als in welchen nöthig ist, daß zwey halbe Schläge mit den gantzen Schlägen, die in zwey Stimmen stehen, wohl übereinstimmen, und dabey alles beobachtet werde, was vorgeschrieben worden; dieses ist schwer auszuüben und kaum möglich, wenn man nicht einen oder mehr folgende Täcte zum voraus sich in Gedancken vorstellet, ehe man schreibet, wie ich schon öfters gesagt. Wie vielen Nutzen aber diese Uebung habe, und wie leicht solche einem angehenden Componisten das Aufschreiben mache, ist kaum mit Worten auszudrücken, und wer hierin wohl geübet ist, der wird, wenn der Choralgesang weggelassen und man nicht mehr gebunden ist, erfahren, daß er spielend freye Compositionen machen könne.[8]
Die Äußerungen des Aloysius dokumentieren, dass Fux den besonderen Sprung des Anforderungsniveaus an dieser Stelle wahrnimmt und den Unterrichtsprozess entsprechend gestaltet: Die Schwierigkeiten des Schülers (mittels derer Fux auch die des lernenden Lesers antizipiert) werden von Seiten des Lehrers ernst genommen; es folgt die Empfehlung, beim Komponieren voraus zu schauen und schließlich – als Rechtfertigung für die offensichtlich mühsame Übung – ein Ausblick auf das langfristige Ziel einer ›freien Komposition‹. Letzteres würde man in der heutigen Schuldidaktik als ›Transparenz‹ bezeichnen: Dem Schüler werden Lehrerverhalten und Methode durchschaubar gemacht.[9]
In Lehrdialogen, die der Rolle des Schülers eine stärkere Persönlichkeit zugestehen, lassen sich bisweilen sogar Stellen finden, an denen offenbar eine kritische Haltung des Discipulus durchscheinen soll. Eine solche kommt beispielsweise in Vincenzo Galileis Dialog Il Fronimo (1568) zum Ausdruck, wenn Eumatio seinen Meister Fronimo zur Klärung eines Missverständnisses auffordert: »Dite di gratia perche prima havete voluto assegnarmi i due sopraposti ordini, & non due delli altri, essende piu come dite?«[10] Allerdings begegnen Einwürfe, in denen das didaktische Vorgehen des Lehrenden hinterfragt werden, in der Geschichte des Lehrdialogs äußerst selten. Im Hinblick auf die deutschsprachige Musiktheorie kann leicht ein verzerrtes Bild entstehen, wenn die Werke Joseph Riepels allzu sehr im Zentrum der Betrachtung stehen, da in dessen Dialogen Ansätze eines offensiveren Schülerverhaltens besonders ausgeprägt sind. Als Beispiel sei der Ausschnitt eines Gesprächs angeführt, in dem es um die Reihung vollkommener Konsonanzen geht:
Beispiel 1: Riepel 1757, 34, Zweistimmiger Satz
Praec. Allein, die Quint ist vollkommen, und die Oktav ist vollkommen; nun zwey Vollkommenheiten gehen ja nicht gleich auf einander. […]
Disc. Du bist wunderlich: Die Quint hat eine besondere Natur, und die Octav hat eine besondere Natur; folglich sind sie zwey Vollkommenheiten von verschiedener Natur; und folglich hören die Ohren doch eine Veränderung.
Praec. Sey nur nicht ungehalten; ich bin schon zufrieden.[11]
Sollten Provokationen dieser Art gewiss auch zum Unterhaltungswert des Lehrwerks beitragen, so muss der ausgewählte Wortwechsel doch in didaktischer Hinsicht mindestens ebenso ernst genommen werden wie das vorangegangene Zitat aus Galileis Fronimo. Denn jeder Einwand, der ›unaufgefordert‹ vom Schüler erhoben wird, ist eine Äußerung der Identifikationsfigur des Lesers und befördert demnach eine aktive und kritische Haltung des Lesenden. Ferner wird hierdurch die Lebendigkeit der Gesprächssituation unterstützt und damit dasjenige Element, das schon in der frühen Sekundärliteratur zu Lehrdialogen am häufigsten gelobt wurde. In einer Besprechung von Riepels Anfangsgründen zur musicalischen Setzkunst hebt Johann Adam Hiller 1765 die motivierende Wirkung des gedruckten Lehrgesprächs hervor:
Es hat ihm [Riepel] gefallen, seinen Vortrag, so wie der berühmte Capellmeister Fux, gesprächsweise abzufassen. […] Es ist kein Zweifel, daß eine solche Art der Unterredung mehr Lebhaftes und Unterhaltendes in eine Sache bringe; und wenn man noch die kleinen Ausschweifungen, auf welche die beyden Schwätzer von Zeit zu Zeit gerathen, und den eigenen Humor des Verfassers dazu nimmt, so kann man sich sicher überzeugen, daß kein Leser, auch bey den tiefsinnigsten und schwersten musikalischen Betrachtungen verdrießlich werden oder einschlafen würde.[12]
Mit der Erwähnung von »Ausschweifungen« dürfte Hiller auf eine Vielzahl von Stellen anspielen, an denen der Praeceptor sich demonstrativ mit Dingen beschäftigt, die mit dem eigentlichen Unterricht nichts zu tun haben: etwa einer Prise Schnupftabak, für deren Genuss der Lehrende eigens ein »Viertelstündchen« Pause ankündigt.[13] Dabei ist die rahmende Einbeziehung alltäglicher Lebensumstände durchaus eine ältere Gepflogenheit innerhalb der Dialogliteratur.[14] Riepels Lehrgespräch zeigt einmal mehr, dass die Dialoge des 18. Jahrhunderts ihre Ursprünge nicht nur in der personell und moralisch restriktiven Ausprägung des Mittelalters hatten, sondern auch in den vielseitigeren Gesprächskonstellationen der Antike. So mischen sich Spezifika beider Stadien, wenn – wie bei Severo Bonini oder Vincenzo Galilei – der Dialog zwar mit einer kurzen Plauderei über private Dinge beginnt, dann aber relativ schnell in das ›geordnete‹ Lehrgespräch von Magister und Discipulus überleitet.[15]
III.
Die drei genannten Aspekte – das Einfühlen in Schülerprobleme, die Förderung von Kritikfreudigkeit und die Lebhaftigkeit des Unterrichts – sind pädagogisch aktuell. Speziell auf dem Gebiet der Musikproduktion (Komposition, Singen und Instrumentalspiel) ist die erotematische Reihung von Frage und Antwort vor allem deshalb ein geeigneter Unterrichtsmodus, weil im Lernprozess in der Regel praktische und handwerkliche Aspekte im Vordergrund stehen. Im Gegensatz zum Traktat in Prosaform ermöglicht es der Dialog, dass in diesem Prozess nahe liegende Fehler des Lernenden nicht übersprungen, sondern durchlebt, kommentiert und schrittweise korrigiert werden.
Schon die Scolica enchiriadis zeichnen sich didaktisch dadurch aus, dass alle neuen Zeichen der Notation Schritt für Schritt eingeführt werden und das vollständige Tonsystem erst zum Schluss erläutert wird. Was die Sensibilität für den Lernprozess und für potenzielle Fehler eines Lernenden angeht, sind die Scolica aber nicht mit denjenigen Lehrwerken zu vergleichen, in denen Schüler und Lehrer als individuelle Persönlichkeiten dargestellt und entsprechend mit einem Namen versehen wurden. Schon mehr als ein Jahrhundert vor Fux und Riepel bildet Thomas Morley in A plaine and easie Introduction to practicall Musicke (1597) die Lernetappen eines realen Unterrichts ebenso einfühlsam wie überzeugend ab. Im folgenden Dialogabschnitt präsentiert der Schüler (Philomathes) eine von ihm geschriebene Diskantstimme zum gegebenen Cantus firmus präsentiert:
Beispiel 2: Morley 1597, 79, Übung zum zweistimmigen Kontrapunkt
Philomathes: But heere is my waie, how do you like it?
Master: Well for the first triall of your understanding in this kind of descant. But let us examine particularlie everie note, that you seeing the faultes, may avoide them hereafter.
Phi. I praie you doe so, & leave nothinge untouched which aniewaie may bee obiected.
Ma. The first, second, and thirde notes of your lesson are tollerable, but your fourth note is not to be suffered, because that and the next note following are two eights.
Phi. The second part of the note is a Discord, and therefore it cannot be two eights seeing they are not both togither.
Ma. Though they be not both together, yet is there no concord betweene them: & this you must marke, that a Discord coming betweene two eights, doth not let them to be two eightes stil. Likewise, if you set a discord betweene two fifts, it letteth them not to bee two fifts still. Therfore if you will avoide the consequence of perfect cords of one kind, you must put betwixt them other concords, and not discords.
Phi. This is more then I would have believed, if another had told it me, but I praie you goe on with the rest of the faults.[16]
Die Präsentation des Schülerproduktes, die Korrektur der Akzentparallelen, das Nachfragen des Schülers und die zusätzlichen Erläuterungen des Lehrers lassen sich als eine Unterrichtsphase zusammenfassen. Demnach könnte die nachfolgende – hier nicht mehr zitierte – Diskussion um verdeckte Oktavparallelen in Takt 4 als eine zweite Phase bzw. ›Lernetappe‹ gelten. Bemerkenswert ist, dass nicht der Lehrer, sondern Philomathes durch seine Fragen, Nachfragen und Korrekturwünsche den Verlauf des Unterrichts steuert. So ist es dann auch Philomathes, der schließlich fragt, wie sich seine Fehler künftig vermeiden ließen:
Philomathes: I pray you how might I have avoided those faultes which I have committed in my lesson?
Master: Manie waies, and principallie by altering the note going befor that, wherin the fault is committed.[17]
Welcher dieser »vielen Wege« zu gehen ist, um zu einem korrekten Satz zu gelangen, muss der Autor im Gewand des Lehrers entscheiden. Dennoch bleibt dem Schüler eine Art Regie-Funktion vorbehalten, während dem Lehrer lediglich die fachliche Autorität zukommt. Eine solche Konstellation, auf deren Grundlage kein didaktischer Schritt an den Bedürfnissen des fiktiven Schülers vorbei gehen kann, entspricht durchaus einem Ideal von von Schülerorientierung, wie es seit den frühen 1980er Jahren für die Schulpädagogik und im besonderen für die Fachdidaktik Musik selbstverständlich geworden sind.[18] Gleichzeitig belegt das Beispiel Morleys sowohl vom Werktitel her als auch durch die zahlreichen integrierten Übungsanteile den praktischen Schwerpunkt im Lehrwerk und damit auch das, was die Musik für die Dialogform prädestiniert.[19]
IV.
Über diesen praktischen (eigentlich pseudo-praktischen) Aspekt hinaus kann auch auf darüber spekuliert werden, weshalb sich bei schriftlichen Lehrgesprächen im Fach Musik auf eine so überaus lange Tradition zurückblicken lässt. Sinnvoll erscheint dabei ein abschließender Blick auf andere Wissenschaften. Für den Bereich der Philosophie hat sich David Hume 1779 zum Problem der Dialogform geäußert: Hume hatte eines seiner Hauptwerke als Dialog angelegt und sah sich – vermutlich angesichts einer schwindenden Attraktivität dieser Form – zu einer Rechtfertigung genötigt. Im Vorwort seiner Dialogues concerning Natural Religion erläutert der Autor zwei Anwendungsfälle, in denen der Dialog nach wie vor seine Berechtigung habe. Erstens bei Lehrgegenständen, die so auf der Hand lägen, dass sich kaum darüber streiten ließe; dort entschädige die besondere Form der Darstellung für die Alltäglichkeit des Themas. Zweitens bei Fragen, die so ungewiss sind, dass menschliche Vernunft in ihr zu keiner eindeutigen Entscheidung gelangen könne.[20] Beide Voraussetzungen sah Hume im Themenkomplex der ›Natürlichen Religion‹, vereint, da einerseits die Existenz Gottes unzweifelbar fest stünde und andererseits die Fragen um die Auslegungen göttlichen Handelns niemals endgültig beantwortet werden könnten.[21]
Unter Umständen ließen sich die von Hume genannten Voraussetzungen auch auf das Fach Musik beziehen. Führt man sich nämlich den Aufbau vieler musiktheoretischer Traktate vor Augen, so wird deutlich, dass methodische Schwierigkeiten oftmals gerade aus dem Auseinanderklaffen zweier Teile erwächst: eines Teils, der sich mit Grundlagen (wie Notation, Intervallproportionen und Skalen) befasst, die oftmals von Vorgängern übernommen und über längere Zeiträume hinweg nicht angezweifelt wurden; und eines anderen Teils, in dem die eigentliche Kompositionslehre exemplarisch gelehrt wird – ein Vorhaben, das eine ästhetische Diskussion erforderlich macht, um unter den unzähligen Möglichkeiten des Komponierens eine oder wenige auszuwählen.[22]
Vielleicht haben einige Musiktheoretiker in der Form des Dialoges ein Mittel gesehen, die Diskrepanz zwischen den beiden Traktat-Teilen zu überwinden. Andere – wie auch Fux – lassen das Lehrgespräch gezielt erst im zweiten Teil beginnen, um der gesteigerten Komplexität und Variabilität des Lehrstoffes zu genügen. Ob im Einzelfall die Dialoge reine Fiktion sind oder aber reale Unterrichtssituationen dokumentieren, ist nicht rekonstruierbar. Bemerkenswert ist jedoch, dass die überlieferten Werke teilweise auf Kommunikationsmodi heutiger Pädagogik vorausweisen. Möglicherweise lassen sich bestimmte Ansätze sogar für die Lehrdialoge unserer Zeit – die ›Dialogfenster‹ multimedialer Lernprogramme – aufgreifen und weiterentwickeln.
Anhang: Musiktheoretische Lehrwerke in Dialogform (Auswahl)
Autor | Titel | Jahr | Erscheinungsort | Dialogpartner |
?Plutarch | Peri musikēs | um 100 |
| Onesikrates, Soterikos, Lysias |
Abb. Gerontikon | (Kurzer Dialog ohne Titel) | 4. Jh. |
| Senex/Frater Seni |
Aurelius Augustinus | De Musica | ca. 390 |
| Magister/Discipulus |
Pseudo-Johannes Damaskenos | dt.: Von unserem heiligen und gottragenden Vater Johannes von Damaskos Fragen und Antworten über die Kunst der Papadike, über Zeichen, Intervalle, Tonoi, Pneumata, Kratemata und Moduswechsel und alles, was in der Kunst der Papadike erfasst ist | Zwischen 650 u. 750 |
| (unbenannt) |
| Scolica enchiriadis (II. Teil der Musica enchiriadis) | ca. 850? |
| Magister/Discipulus |
Pseudo-Odo | Dialogus de Musica | um 1000 |
| M[agister]/D[iscipul.] |
Heinrich von Augsburg | De Musica | 11. Jh. |
| M[agister]/D[iscipul.] |
?Bernard von Clairvaux | Tonale Sancti Bernardi | 12. Jh. |
| M[agister]/D[iscipul.] |
?Johannes de Garlandia | Ritus canendi volutissimus et novus | um 1300 |
| Cantor/Discipulus |
Johannes de Muris | Quaestiones super partes musicae | ca. 1322 |
| (unbenannt) |
Robert de Handlo | Regulae cum maximis Magistri Franconis cum additionibus aliorum | 1326 |
| Franco/Handlo |
Giorgio Anselmi | De Musica | 1434 |
| Georgius/Petrus |
John Hothby | Dialogus Johannis Octobi anglici in arte musica | ca. 1480 |
| Octobus/Discipulus |
Heinrich von Augsburg | De Musica | 11. Jh. |
| M[agister]/D[iscipul.] |
?Bernard von Clairvaux | Tonale Sancti Bernardi | 12. Jh. |
| M[agister]/D[iscipul.] |
?Johannes de Garlandia | Ritus canendi volutissimus et novus | um 1300 |
| Cantor/Discipulus |
Johannes de Muris | Quaestiones super partes musicae | ca. 1322 |
| (unbenannt) |
Robert de Handlo | Regulae cum maximis Magistri Franconis cum additionibus aliorum | 1326 |
| Franco/Handlo |
anonym | ’Aκρίβεια κατ’ερώτησιν καί απόκρισιν των τόνων της παπαδικης τέχνης | 15. Jh. |
| διδάσκαλος / μαθητής |
Sebastian Virdung | Musica getutscht und außgezogē | 1511 | Basel | Andreas/Sebastian |
| frz. (anonym): Livre Plaisant | 1529 | Antwerpen | Le maistre/le disciple |
| fläm.(anon.): Dit is een seer Schoō Boecxke | 1568 | Antwerpen | Die meester/die ionghe |
Heinrich Faber | Compendium musicae pro incipientibus | 1548 | Braunschweig | (unbenannt) |
| dt.: Kurzer innhalt der singkunst | 1572 | Nürnberg | (unbenannt) |
Ambrosius Wilphlingseder | Erotemata musices practicae | 1563 | Nürnberg | (unbenannt) |
Vincenzo Galilei | Il Fronimo. | 1568 | Venedig | Fronimo/Eumatio |
Gallus Dressler | Musica practica elementa in usum Scholae | 1571 | Magdeburg | (unbenannt) |
Vincenzo Galilei | Dialogo della Musica antica et della moderna | 1581 | Florenz | Giov. Bardi/P. Strozzi |
Christoph Demantius | Forma musices | 1592 | Budissin | (unbenannt) |
Cyriacus Schneegaß | Deutsche Musica. Für die Kinder vil andere so nicht sonderlich Latein verstehen […]. In Frag und Antwort gestellet Und mit außerlesenen Exempeln erkleret | 1592 | Erfurt | (unbenannt) |
Girolamo Diruta | Il Transilvano | 1593 | Venedig | Transilvano/Diruta |
Ercole Bottrigari | Il Desiderio overo De’Concerti di varij Strumenti Musicali | 1594 | Venedig | Gratioso/Alemanno |
Johannes Crusius | Compendiolum musices. Ein kurtzer unterricht für die jungen Schuler wie sie sollen singen lehrnen | 1595 | Nürnberg | (unbenannt) |
Thomas Morley | A plaine and easie Introduction to practicall Musicke | 1597 | London | 1. Philomathes, 2. Polymathes, 3. Master |
Giovanni Maria Artusi | L’Artusi overo Delle Imperfettioni della Moderna Musica | 1600 | Venedig | Luca/Vario |
Adriano Banchieri | Dialogo Musicale Cartella Musicale nel Canto Figurato | 1611 | Venedig | Amico/Banchieri |
|
| 1614 | Venedig | Discepolo/Maestro |
Severo Bonini | Discorsi e Regole sopra la Musica et il Contrappunto | ca. 1640 | ?Florenz | Don Severo/Filareto |
Daniel Speer | Grundrichtiger Unterricht der musikalischen Kunst | 1697 | Ulm | (unbenannt) |
Johann Samuel Beyer | Anweisung zur Singe=Kunst | 1703 | Freyberg | (unbenannt) |
Johann Joseph Fux | Gradus ad Parnassum | 1725 | Wien | Aloysius/Josephus |
Severo Bonini | Discorsi e Regole sopra la Musica et il Contrappunto | ca. 1640 | ?Florenz | Don Severo/Filareto |
Daniel Speer | Grundrichtiger Unterricht der musikalischen Kunst | 1697 | Ulm | (unbenannt) |
Johann Samuel Beyer | Anweisung zur Singe=Kunst | 1703 | Freyberg | (unbenannt) |
Johann Philipp Eisel | Musicus autodidaktos | 1738 | Erfurt | (unbenannt) |
Joseph Riepel | Anfangsgründe zur musicalischen Setzkunst 1. De Rhythmopoeia oder von der Tactordnung | 1752 | Regensbg./Wien | Discantista/Praeceptor |
| 2. Grundregeln zur Tonordnung insgemein | 1755 | Frankfurt/Leipzig | Discantista/Praeceptor |
|
| 1757 | Frankfurt/Leipzig | Discantista/Praeceptor |
| 3. Gründliche Erklärung der Tonordnung insbesondere zugleich aber für die mehresten Organisten insgemein |
|
|
|
| 4. Erläuterung der betrüglichen Tonordnung | 1765 | Augsburg | Discantista/Praeceptor |
| 5. Unentbehrliche Anmerkungen zum Contrapunct | 1768 | Regensburg | Discantista/Praeceptor |
| 6. Vom Contrapunkt |
|
| Discantista/Praeceptor |
Anton Bemetzrieder | Leçons de Clavecin et Principes d’Harmonie | 1771 | Paris | L’Eleve/Le Maître |
Joseph Riepel | [9.] Der Fugen-Betrachtung erster Teil | ca. 1780 |
| Discantista/Praeceptor |
| [10.] Der Fugen-Betrachtung zweyter Teil | ca. 1780 |
| Discantista/Praeceptor |
Pellegrino Tomeoni | Regole Pratiche per accompagnare il Basso Continuo | 1795 | Florenz | D[omanda]/R[isposta] |
John F[reckleton] Burrowes | The Thorough-Base Primer | 1819 | London | (unbenannt) |
Jérôme- Josephe de Momigny | La seule vraie théorie de la musique | 1821 | Paris | Jérôme- Josephe de Momigny |
| it.: La sola e vera teorica della musica | 1823 | Bologna | D[omanda]/R[isposta] |
?Elisabeth und Sarah Mary Fitton | Conversations on Harmony | 1855 | London | Edward/Mother |
Anmerkungen
Köchel 1872, 155. | |
Vgl. Föcking 2002, 83f. und Bentzinger 1988, 15f. | |
Vgl. Föcking 2002, 83, Anm. 2. | |
Fux 1742, 62 bzw. 77. In der lateinischen Originalversion lautet die Anrede: »venerande Magister« (1967, 43, 63 und öfter). | |
Fux 1742, 64. | |
Zit. nach Luisi 1975, 55. »Gesegnet sei Euer Mund tausendmal, denn alles [was Ihr sprecht] ist so wahr.« | |
Marzi 1969, 82. Ähnliche Strukturen lassen sich am Beginn der Scolica enchiriadis beobachten (Schmid 1981, 60): M: Musica quid est? D: Bene modulandi scientia. M: Bene modulari quid est? Im Anschluss erfragt der Magister weiteren Definitionen, u.a. die der Arithmetik, der Geometrie und der Astronomie. | |
Fux, 1742, 97. | |
Zum Begriff der ›Transparenz‹ vgl. Birkenhauer 1981, 479. | |
»Sagt doch bitte: Weshalb habt Ihr mir nun gerade die zwei obigen Tonordnungen beibringen wollen und nicht zwei andere, wenn Ihr doch sagt, dass es noch mehr davon gebe?« (Galilei 1568, 9) | |
Riepel, 1757, 34 (1996, 278). | |
Hiller 1765. | |
Twittenhoff 1935, 117, Anm. 12. | |
Vgl. die zahlreichen Kommentare zum Gesprächsumfeld in den Dialogen Platons (1963, 9): Phaidros: So ists das einfachste für uns, wir folgen dem Wässerlein und lassen uns von ihm die Füße netzen, – das ist auch nicht ohne Annehmlichkeiten, zumal in dieser Jahreszeit und dieser Tagesstunde. Sokrates: Geh denn voran, und halt zugleich Ausschau nach einem Platz, wo wir uns hinsetzen können! | |
Bei Bonini stattet der zunächst übel gelaunte Schüler Filareto dem Meister Severo einen Besuch ab und findet in den Discorsi Zerstreuung und Mut (Luisi 1975, 20, Anm. 6 und 30). Auch bei Vincenzo Galilei kommt die erste Unterrichtssituation sehr natürlich zustande: Eumatio nähert sich dem Laute spielenden Fronimo. Dieser spielt und erklärt nach und nach Grundregeln des Kontrapunkts, des Intavolierens und des Lautespielens (1568, 3ff., Anm. 10.) | |
Morley 1597, 79. | |
Ebd., 81. | |
Vgl. Ansohn, 65–76, sowie Jank/Meyer 2005. | |
Bezeichnenderweise hebt in Morleys Werk der Lehrende wiederholt die Bedeutung der Praxis heraus, wenn sich neue Regeln zu häufen drohen: »for the rules and practise ioined togither will make you both certaine and quicke in your sight.« (1597, 81) | |
Hume 1779, 2f. | |
Ebd., 3. | |
Vgl. den weiter oben zitierten Ausschnitt aus Morley 1597 (81). Dort weist der Lehrende mit der Formulierung »many waies« ausdrücklich darauf hin, dass der Fehler des Schülers auf vielfältige Weise hätte umgangen werden können. |
Literatur
Ansohn, Meinhard (2006), »Schülerorientierter Unterricht. Große Ziele, kleine Schritte«, in: Schülerorientierter Musikunterricht – Wunsch und Wirklichkeit (= Musikunterricht Heute, Bd. 6), hg. von Wolfgang Pfeiffer und Jürgen Terhag, Oldershausen: Lugert, 65–76.
Bentzinger, Rudolf (Hg.) (1988), Die Wahrheit muß ans Licht! Dialoge aus der Zeit der Reformation, Leipzig: Reclam.
Birkenhauer, Joseph (1981), »Didaktik der Geographie«, in: Schule und Unterricht unter dem Aspekt der didaktischen Bereiche, Bd. 1 (= Handbuch Schule und Unterricht, Bd. 5.1) hg. von Walter Twellmann, Düsseldorf: Schwann, 469–486.
Föcking, Marc (2002), »›Dyalogum quendam‹. Petrarcas Secretum und die Arbeit am Dialog im Trecento«, in: Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, hg. von Klaus W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 75–114.
Fux, Johann Joseph (1742), Gradus ad Parnassum oder Anführung zur Regelmäßigen Musikalischen Composition, übers. v. Lorenz Christoph Mizler, Leipzig 1742, Reprint Hildesheim u.a.: Olms 1984.
–––– (1967), Theoretische und pädagogische Werke (= Sämtliche Werke, Serie 7, Bd. 1), hg. von Alfred Mann, Kassel u.a.: Bärenreiter.
Galilei, Vincenzo (1568), Il Fronimo, Venedig: Girolamo Scotto, Reprint der 2. Aufl. Venedig 1584, Bologna: Forni 1969.
Hiller, Johann Adam (1765), Wöchentliche Anmerkungen die Musik betreffend, 2/1765.
Hume, David (1779), Dialogues concerning Natural Religion, London: o.V., Reprint London: William Blackwood 1907.
Jank, Werner / Hubert Meyer (2005), »Orientierung am Subjekt: Erfahrungserschließende Musikerziehung«, in: Werner Jank (Hg.), Musik-Didaktik, Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin: Cornelsen Scriptor, 51–53.
Köchel, Ludwig Ritter von (1872), Johann Joseph Fux, Hofcompositeur und Hofkapellmeister, Wien: Hölder, Reprint Hildesheim u.a: Olms 1974.
Luisi, Galleni Leila (Hg.) (1975), Severo Bonini, Discorsi e Regole sopra la Musica [1640] (= Instituta et monumenta, Serie 2, Bd. 5), Cremona: Fondazione Claudio Monteverdi.
Marzi, Giovanni (Hg.) (1969), Aurelius Augustinus (= Collana di classici della filosofia cristiana, Bd. 1) De Musica, Florenz: Sansoni.
Morley, Thomas (1597), A plaine and easie Introduction to practicall Musicke, London: Peter Short, Reprint Westmead/Farnborough: Gregg 1971.
Riepel, Joseph (1757), Gründliche Erklärung der Tonordnung insbesondere zugleich aber für die mehresten Organisten insgemein, Frankfurt a.M./Leipzig: Selbstverlag, Reprint in: Joseph Riepel. Sämtliche Schriften zur Musiktheorie, hg. von Thomas Emmerig, Bd. 1 (= Wiener musikwissenschaftliche Beiträge, Bd. 20. 1), Wien: Böhlau 1996, 239–330.
Platon (1963), Phaidros, übers. von Edgar Salin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Schmid, Hans (Hg.) (1981), Musica et Scolica enchiriadis (= Veröffentlichungen der Musikhistorischen Kommission, Bd. 3), München: Verlag der Bayer. Akad. d. Wiss. / Beck.
Twittenhoff, Wilhelm (1935), Die musiktheoretischen Schriften Joseph Riepels (1709–1782) als Beispiel einer anschaulichen Musiklehre, Diss. Halle: Buchhandlung des Waisenhauses.
Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
This is an open access article licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License.