Editorial
Diese Varia-Ausgabe der ZGMTH versammelt sieben Artikel überwiegend jüngerer Autoren, die sich auf Musik und Musiktheorie vom Spätmittelalter bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beziehen. Sie geben ein querschnittartiges Bild von Lehre und Forschung an deutschen Musikhochschulen, insofern sie sämtlich entweder auf die hochschulische Lehre abzielen oder aus ihr hervorgegangen sind (Kunkel, Froebe, Krämer), an akademische Qualifizierungsarbeiten anknüpfen (Ott, Hamer, Sprick) oder pädagogische Vermittlungsformen historischer Musiktheorie aus einer gegenwärtigen Perspektive thematisieren (Lang). Abgerundet wird das Bild durch einen Kongressbericht und eine Buchrezension.
Drei Studien widmen sich ›älterer‹ Musik. Gerade weil sie Fragestellungen und Methoden der historischen Musikwissenschaft einbeziehen, tritt umso deutlicher hervor, worin das genuin ›Musiktheoretische‹ ihres jeweiligen Interesses besteht: nämlich in der Verbindung von materialem, ›handwerklichen‹ Zugriff, systematischer Reflexion und ästhetischer Kontextualisierung. Darüber hinaus lädt jeder der drei Beiträge entweder implizit (wie im Falle Otts und Froebes) oder explizit (wie im Falle Hamers) zum improvisatorischen oder kompositorischen Nachvollzug ein.
Den Anfang macht eine Arbeit Immanuel Otts, die 2011 im Rahmen des Aufsatzwettbewerbs der GMTH mit einem zweiten Preis ausgezeichnet wurde (ein erster und ein dritter Preis wurden nicht vergeben). Ott rekonstruiert die Arbeitsschritte eines hypothetischen Kompositionsvorgangs um 1500 am Beispiel der Motette Nesciens mater virgo virum von Jean Mouton entlang den Problemstellungen, die sich bei der Konzeption und Einrichtung des cantus-firmus-gebundenen Quadrupelkanons ergeben. Demnach kann der Übergang zur Simultankonzeption auch als ein kompositionstechnisches Erfordernis komplexer Kanonbildungen verstanden werden.
Mit Couperins ›Préludes non mesurés‹ untersucht Jens Hamer eine Gruppe von Kompositionen, deren eigentümliche Notationsweise auf eine ›freie‹, quasi improvisatorische Aufführungspraxis zu zielen scheint. Hamer zeigt, welchen Beitrag die Analyse für die Dekodierung der taktlosen Notation leisten kann, welche aufführungspraktischen und interpretatorischen Konsequenzen daraus resultieren und inwiefern die Couperin’schen Préludes sich als instruktive Vorbilder für die Stilimprovisation eignen. Damit gibt sein Beitrag ein Beispiel sowohl für eine ›performative‹ Musiktheorie als auch für die Berührungspunkte zwischen musiktheoretischer Forschung und künstlerischer Praxis.
In meinem eigenen Beitrag setze ich zwei alternative (entwicklungsgeschichtliche wie systematische) Genealogien eines komplexen Satzmodells und dessen Funktionalisierung in Bachs Pièce d’Orgue BWV 572 in Beziehung. Damit folge ich jüngeren Bestrebungen, die systematische Aufarbeitung der historischen Musiktheorie (bzw. ihrer Kategorien und Denkweisen) strukturanalytisch fruchtbar zu machen.
Bei einer Orientierung am singulären ›Meisterwerk‹ wird oftmals ausgeblendet, dass Musik in der Regel nicht allein durch stilistische, satztechnische, formale und topische Konventionen, sondern auch durch die soziale Sphäre geprägt ist, aus der Sie hervorgegangen ist, die ihren Gebrauch bestimmt oder die sie aufruft. Vor diesem Hintergrund erkennt Laura Krämer in Schuberts Tänzen für Klavier eine Melange verschiedener musikalischer Soziolekte: Gestaltungsweisen verschiedener Tanzsatztypen der alpenländischen Volksmusik (die Krämer unter den Begriff des ›Länderischen‹ subsummiert) und der zeitgenössischen Kunstmusik (die sie durch das Menuett der Wiener Klassik idealtypisch repräsentiert sieht) verbinden sich zu einem gleichsam ›schwebenden Soziolekt‹.
Der Artikel von Benjamin Sprick schließlich bewegt sich im Spannungsfeld von musikalischer Analyse und philosophischer Reflexion und füllt damit ein Desiderat gegenwärtiger Musiktheorie. Er folgt der Leitfrage, wie sich die Abwesenheit eines musikalischen Ereignisses zu Beginn eines Satzes zu dessen Gesamtdisposition in Beziehung setzen lässt, ohne teleologische und/oder dialektische Denkfiguren aufrufen zu müssen. Seine Bezugspunkte bilden ein Dreieck: erstens der Eröffnungssatz von Beethovens Streichquartett op. 130, zweitens die ›strukturalistische‹ Musiktheorie Christoph Hohlfelds, mit deren Hilfe der Satz analysiert wird, und drittens die Differenzphilosophie von Gilles Deleuze, von der her die Analyse philosophisch kontextualisiert, hinterfragt und fortgeschrieben wird. Die Deleuze’schen Begriffe, so Sprick, bergen das Potential, das prozessuale ›musikalische Denken‹ Beethovens neu zu perspektivieren und als systematische Grundlage für die Entwicklung prozessorientierter Analyseverfahren zu dienen.
Die beiden Beiträge in der Sparte ›Musiktheorie in der Lehre‹ widmen sich jeweils sehr verschiedenen Aspekten des Themenfeldes.
Robert Lang untersucht kommunikative Strategien der historischen Musikpädagogik anhand musiktheoretischer Lehrdialoge vom ersten nachchristlichen bis ins 19. Jahrhundert. Zwar spiegeln die fiktiven (oder zumindest literarisch ausgearbeiteten) Lehrer-Schüler-Gespräche vielfach die hierarchisch geprägten pädagogischen Konzepte ihrer jeweiligen Zeit, doch finden sich auch Momente einer ›Schülerorientierung‹, in denen der fiktive Schüler als Identifikationsfigur des Lesers sicherstellt, dass kein didaktischer Schritt an dessen Bedürfnissen vorbeigeht. In dieser Schülerorientierung, so der Subtext der primär historisch ausgerichteten Studie, liegt sowohl ein zu vergegenwärtigendes Potential der historischen Quellentexte als auch heutiger dialogischer Kommunikationsmodi.
Lilo Kunkel dagegen bezieht sich mit Gershwins Porgy and Bess auf ein zwar sehr bekanntes, gleichwohl aber weitab des ›Kanons‹ musiktheoretischer Untersuchungs- und Lehrgegenstände liegendes Werk des 20. Jahrhunderts. Sie katalogisiert und bespricht ein charakteristisches Repertoire an Akkorden und harmonischen Wendungen im Hinblick sowohl auf die Analyse als auch auf die Improvisationsschulung in einer eher traditionell geprägten Jazz-Stilistik. Für diesen Zweck ist Gershwins Komposition nicht zuletzt deshalb besonders geeignet, weil sie als vollständig ausnotierte Kunstmusik ›klassisch‹ sozialisierten Musikern den Zugang zur Jazz-Theorie erleichtert und eine Einbeziehung sowohl der Kategorien Zsolt Gárdonyis als auch genuiner Jazz-Terminologien nahelegt.
Der von Birger Petersen Jan Philipp Sprick und mir verfasste Bericht zum XI. Jahreskongress der GMTH an der Hochschule der Künste Bern im Dezember 2011 würdigt den Kongress als Zeugnis eines neu erwachten Interesses an der vielgestaltigen »Musiktheorie im 19. Jahrhundert«, deren Rezeption sich zunehmend von der einseitigen Fixierung auf die ›großen‹ Systementwürfe löst. Andererseits scheint es gerade der umfassende, systematische Anspruch etwa der Theorien Hugo Riemanns oder Heinrich Schenkers zu sein, der – nach wie vor und wieder – als eine Herausforderung wahrgenommen wird, an der auch die ›skeptische‹, historisch informierte Musiktheorie der Gegenwart nicht vorbeikommt. Dies, so die leitende Annahme Knud Breyers in seiner Rezension des von Clemens Kühn und John Leigh herausgegebenen Sammelbandes Systeme der Musiktheorie (2009), verdankt sich deren metatheoretischer Qualität, die es ermöglicht, immer wieder neue Anknüpfungspunkte auch jenseits einer rein historischen Bezugnahme zu finden.
Folker Froebe
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