Die neue neue Musiktheorie
Oliver Schwab-Felisch
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
der Umbruch, den die deutschsprachige Musiktheorie derzeit erlebt, wäre allein durch die Begriffe ›Professionalisierung‹, ›Internationalisierung‹ und ›Pluralisierung‹ nicht hinreichend erfasst. Er ist mehr als das: ein Prozess, für den das strapazierte Wort vom Paradigmenwechsel nicht zu hoch gegriffen ist. Ich möchte erläutern inwiefern.
Die Einsicht in die Gewordenheit kompositorischer Regelsysteme und Irreduzibilität singulärer Werke prägt unser Fach seit mehr als vierzig Jahren. Die Leitkategorie der ›neuen Musiktheorie‹ heißt ›Geschichte‹. Sie bestimmt Fragestellung und Methodik. Dies, so wird häufig betont, schließt die Kategorie ›System‹ nicht aus. Die amorphe Fülle historischer Daten bedarf strukturierender Gesichtspunkte, historische Quellen besitzen ihre eigene Systematik, Publikationen und Lehrveranstaltungen profitieren von übersichtlichen Gliederungen.
Das Systematische gilt als Mittel oder Gegebenes. Wer es anders, nämlich als Leitkategorie produktiver Forschung auffasst, kann in Verdacht geraten, invarianten Wahrheiten nachzujagen und die eigenen geschichtlichen Voraussetzungen auszublenden, Forschungsergebnisse in den Dienst normativer Ästhetiken zu stellen und dogmatische Absolutheitsansprüche zu vertreten, die Gewordenheit individueller Werke zu ignorieren und ihre gewaltsame Verstümmelung auf dem Prokrustesbett der Methode in Kauf zu nehmen. ›Geschichte‹ und ›System‹ sind asymmetrisch gewichtet, sie bilden eine binäre Opposition im Sinne Jacques Derridas.
Das Projekt der ›neuen Musiktheorie‹ erfreut sich ungebrochener Vitalität. Diether de la Mottes individualisierende Beschreibungen stützten sich noch gleichermaßen auf Ergebnisse der historischen Musikwissenschaft wie auf Kategorien der ahistorischen Funktionstheorie. Heute ist die Erforschung historischer Korpora und Regelsysteme ein genuin musiktheoretisches Unternehmen, und die Curricula der Musikhochschulen zeugen von der fortschreitenden Verdrängung so mancher historischer Musiktheorie des frühen 20. Jahrhunderts durch diejenige früherer Epochen. Freilich ist dies nur ein Aspekt des aktuellen Umbruchs. Ein zweiter ist die Rezeption bislang unbekannter Theorien des späteren 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Doch eines irritiert. Nur ein Bruchteil dieser Theorien entstammt dem deutschsprachigen Raum. Über die Gründe ließe sich lange sprechen. Sicher scheint mir aber: Unsere binäre Opposition ist einer von ihnen.
Betrachten wir drei dieser neuen Theorien genauer. Die ›Diatonic Theory‹ John Cloughs fragt nach mathematischen Eigenschaften von Skalen und Akkorden. Als ›Grundlagenwissenschaft‹ ist sie (um einige Epitheta bei Clemens Kühn zu borgen) ›systemgläubig‹ und ›geschichtslos‹, und wer einem normativen Musikbegriff anhängt, wird sie sogar ›musikfern‹ nennen dürfen. In Elements of Sonata Theory untersuchen James Hepokoski und Warren Darcy Sonatensätze des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Dabei verfahren sie so deskriptiv, wie man es von einer historischen Studie nur erwarten kann. Beide Theorien, so scheint es, gehorchen unserer binären Opposition. Allerdings gibt es entscheidende Unterschiede: Die ›Diatonic Theory‹ will keine Theorie des Ganzen sein, sondern beschränkt sich auf ein eng umrissenes Gebiet. Und was die ›Sonata Theory‹ in den Rang einer Theorie erhebt, ist die ›Arbeit am Begriff‹, also die Tatsache, dass Hepokoski und Darcy nicht davor zurückschrecken, das Bild des musikalischen Gegenstandes einer eigenständigen ›kategorialen Formung‹ zu unterziehen. Schließlich Robert Hattens Arbeiten zu ›Topos‹ und ›Geste‹. Sie widmen sich historischen Gegenständen (zum Beispiel Klaviersonaten Schuberts), sind analytisch, verwenden historische Begriffe und reflektieren ihren eigenen theoriegeschichtlichen Ort. Zugleich beziehen sie zentrale Begriffe aus ›systematischen‹ Disziplinen wie Kognitionswissenschaft, Semiotik und Linguistik. Das aber heißt: Sie stehen quer zu unserer binären Opposition.
Wer einen geschichtlichen Gegenstand über heutige Begriffe erschließt, macht sichtbar, was historische Forschung zu minimieren sucht, auch wenn es ihr unaufhebbar vorausgesetzt ist: die historische Distanz zwischen Forscher und Erforschtem. So wundert es nicht, dass manche Verfechter des historischen Paradigmas manchen Arten wissenschaftlicher Begriffsbildung reserviert gegenüberstehen. Auf die entsprechenden methodologischen Debatten kann hier nicht eingegangen werden. Es mag genügen, daran zu erinnern, dass Geschichtliches und Gegenwärtiges für gewöhnlich vielfach miteinander vermittelt sind. Ich greife fünf Beispiele heraus.
Historische Musiktheorie rekonstruiert historische Begriffe aus dem Selbstverständnis ihrer Zeit. Überflüssig zu erwähnen, dass bereits die Auswahl, Beschreibung und Verknüpfung historischer Quellen nicht anders denn als Folge interpretativer Akte vorstellbar ist. Und geht es darum, historische Musiktheorie in größere Zusammenhänge einzuordnen, ihre historische Relevanz zu bewerten oder sie an heutige Praxen anzuschließen, ist die Verwendung anachronistischer Gesichtspunkte nachgerade unvermeidlich. Ludwig Holtmeiers Deutung der Oktavregel als »Theorie harmonischer Funktionalität« wäre ohne die heutigen Debatten über die Harmonielehre des frühen 20. Jahrhunderts nicht vorstellbar.
Vortheoretische Elemente musikbezogener Diskurse auf ihren historischen wie systematischen Gehalt hin zu befragen, bildet eine keineswegs periphere Aufgabe von Musiktheorie. Erst in jüngerer Vergangenheit etwa ist der Begriff der musikalischen Geste zum Gegenstand eines eigenen – interdisziplinären – Forschungsgebietes avanciert.
Theoriebildung kann darin bestehen, bekannte Unterscheidungen aufzugreifen, zu reorganisieren und in einen neuen Systemzusammenhang zu bringen. Begriffe, die derartige Unterscheidungen bezeichnen, haben einen vertrauten Kern, unterscheiden sich von tradierten Vorstellungen aber zumindest durch ihre Stellung im Ganzen der neuen Theorie. Ein Beispiel liefert Adam Ockelfords Begriff der ›Interperspective Relationship‹, der sich als eine auf sämtliche Klangeigenschaften ausgedehnte kognitivistische Reformulierung des Begriffs der Tonbeziehung auffassen ließe.
Versprachlichung nonverbal tradierter Konventionen, Entschlüsselung individueller kompositorischer Logiken oder theoretische Durchdringung ästhetischer Qualitäten: Es gibt viele Wege, historischen Kompositionen neue Unterscheidungen abzugewinnen. Jede Bachsche Invention, so Bernhard Haas und Veronica Diederen, enthält einen Abschnitt, der wirkt »wie ein Tunnel, durch den der Weg führt, wie ein bedrohlicher Zweifel, ob man je ankommen wird«. Diesen Abschnitt nennen die Autoren »die Stelle«.
Entgegen einer verbreiteten Vorstellung vermögen auch empirische Disziplinen bedeutende Beiträge zur Erforschung historischer Gegenstände zu leisten. David Hurons wahrnehmungspsychologische Erklärung zentraler Momente der Bachschen Satztechnik wäre als ein besonders eindrückliches Beispiel zu nennen.
Rekonstruktion, Interpretation, Reformulierung, Transfer und Neubestimmung – all dies sind Arten der ›Arbeit am Begriff‹. Worauf sie verweisen, ließe sich – in Anlehnung an Richard Parncutt und nicht ohne ein gewisses Maß an Idealisierung – als ein Kontinuum der Historizitätsgrade von Forschung begreifen, ein Kontinuum zwischen Quellenforschung und Anwendung empirischer Methoden. Weshalb sich die wissenschaftlichen Aktivitäten im Fach Musiktheorie auf einen Teil dieses Kontinuums beschränken sollten, dürfte schwierig zu begründen sein.
Von einem Kontinuum zu sprechen, schafft im übrigen die bekannten Klassifikationsprobleme nicht aus der Welt, entzieht unserer binären Opposition aber ein Gutteil ihrer normativen Kraft. Welche Begriffe des Systematischen welchen disziplinären Topographien zugrundegelegt werden sollen, ob eine Disziplin bereits durch die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes zur historischen wird, ob sie sich empirischer Methoden bedienen muss, um als systematisch zu gelten, wie Forschungsergebnisse zu kategorisieren sind, die nicht unmittelbar aus empirischen Untersuchungen hervorgegangen sind, aber empirisch fundierte Begriffe voraussetzen – all dies sind legitime, keineswegs abschließend beantwortete Fragen. Die aktuelle Forschung freilich tangieren sie nur am Rande. Keine Kombination der Ausdrücke ›historisch‹ und ›systematisch‹ wäre imstande, die methodischen Unterschiede abzubilden, die zwischen ›Pitch Class Set-Theory‹, ›Theorie der Tonfelder‹ oder ›Topic Theory‹ bestehen. Auf eben diese Unterschiede aber kommt es an.
Manche fürchten, neue Begriffe könnten die alten verdrängen. Tatsächlich ist nicht auszuschließen, dass ein neuerer Begriff einen historischen Gegenstand (in bestimmter Hinsicht und vor dem Hintergrund bestimmter Diskurse) adäquater beschreibt als ein älterer. Die Meinung, William E. Caplins Differenzierung syntaktischer Typen liefere eine begrüßenswerte Weiterentwicklung der Ratzschen Grundkategorien, lässt sich nicht minder begründet vertreten als diejenige, Heinrich Christoph Kochs Syntaxtheorie ermögliche angemessenere Beschreibungen der Musik des 18. Jahrhunderts als die Rhythmik und Metrik Hugo Riemanns. Wer aber wollte zwischen Caplin und Koch eine grundsätzliche Entscheidung herbeiführen? Musiktheorie heute ist zweifach heterogen. Ein souveräner Umgang mit historischer wie methodischer Diversität erfordert beides: einen eigenen Forschungsschwerpunkt und ein klares Bewusstsein der plural strukturierten Disziplin als ganzer. Wer darüber verfügt, nimmt auch an der funktionalen Differenzierung musikalischer Analyse keinen Anstoß. Analyse kann und darf der Fundierung einer Theorie ebenso dienen wie der Erkenntnis eines singulären Werks. Wer akzeptiert, dass jede Beschreibung eines Einzelnen Theorie voraussetzt, wird weder die werkerschließende Analyse zur Norm von Analyse schlechthin erheben wollen noch glauben, theoriefundierende und werkerschließende Analyse stünden zueinander im Widerspruch.
Ich komme zu meinem Ausgangspunkt zurück. Die Jahreskongresse der GMTH zeigen Musiktheorie in ihrer ganzen Breite – Arbeit am Begriff, wenn man so will, ohne eine Beschränkung auf bestimmte Ausschnitte des ›Kontinuums‹ zwischen Historie und Systematik. Dass sich diese Arbeit bislang vergleichsweise selten zu expliziten Theorien – klar umrissenen Komplexen systematisch aufeinander bezogener Begriffe und Aussagen – verdichtet hat, beruht bekanntlich auch auf dem Einfluss institutioneller Faktoren. Welchen Anteil wissenschaftliche Arbeit an der künftigen Physiognomie deutschsprachiger Musiktheorie haben wird, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum zuverlässig prognostizieren. Schon heute aber zeichnet sich ab, dass unser Fach dabei ist, die binäre Opposition Historie/Systematik aus ihrer alten paradigmatischen Rolle zu entlassen. Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen ›neuen Musiktheorie‹, einer Musiktheorie, die sich den Herausforderungen von Pluralität und Diversität stellt, sich als historisch versteht und zugleich darauf ausgeht, neue Denkzusammenhänge aus heutiger Perspektive zu erschließen: mit Leidenschaft und im heiteren Bewusstsein, dass andere möglicherweise nur wenig später über sie hinausgehen werden. Die kommenden zehn Jahre versprechen spannend zu werden.
Technische Universität Berlin [Technische Universität Berlin]
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