Zwischen Arbeitshelm und Doktorhut
Markus Jans
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr verehrte Damen und Herren!
Was die Gründer unserer Gesellschaft im Jahr 2000 auf so verdienstvolle Weise in Bewegung gebracht haben, hat in den vergangenen zehn Jahren an Schubkraft kontinuierlich hinzugewonnen. Da ist in unserem Fach kaum ein Inhalt, kaum ein Vorgehen, die nicht Gegenstand der Befragung oder besser: Hinterfragung wurden. Und zur Musiktheorie und deren Vermittlung – vom Mittelalter bis zur Gegenwart – sind ganze Mengen neuer Erkenntnisse verfügbar gemacht worden. Insgesamt hat dieser in Gang gekommene Prozess einen Wandel eingeleitet, dessen Umfang und Tiefe sich erst abzuzeichnen beginnen. Das erste Jahrzehnt gemeinsamer Bemühungen kann sich sehen lassen.
Festlich begangen wird, etwa bei Bauvorhaben, die Aufrichte, die Fertigstellung von Rohbauten. Wir sind noch nicht ganz so weit und deshalb bescheidener: Wir feiern heute die Baustellen. Wir feiern die Tatsache, dass wir vor einer ganzen Anzahl von unfertigen Plänen, offenen Baugruben, da und dort vielleicht auch bereits neugegossenen Fundamenten stehen. Um in der Metapher zu bleiben: Hier droht die Abrissbirne, dort lärmt der Betonmischer, unser Fachgebiet ist zur hard hat area geworden, es wird empfohlen, Helm zu tragen.
Jede und eine dieser Baustellen verdient Beachtung und ist der ausführlichen Beschreibung wert. Es ist faszinierend, zu sehen, wo überall sich etwas tut bezüglich Forschung, Lehrplänen und Unterrichtsmethoden. Ich greife hier ein Beispiel heraus. Eine Baustelle, die inhaltlich wohl nicht von zentraler, für die Ausbildungscurricula längerfristig jedoch von großer Bedeutung ist.
Es geht um die Frage nach dem dritten Zyklus, damit verbunden um das Promotionsrecht für Musikhochschulen und darin mitenthalten um die Frage nach der praxisbezogenen Forschung und nach der Wissenschaftstauglichkeit unseres Faches.
Die zuletzt genannte scheint eine Schlüsselfrage zu sein. Manchenorts ist an ihr die Kooperation mit universitären Instituten bereits gescheitert. Einige von Ihnen erinnern sich vielleicht noch an ein Podiumsgespräch zu diesem Thema, das am Kongress in Graz vor zwei Jahren stattfand. Die anwesenden Musikwissenschaftler bestritten die Wissenschaftlichkeit sowohl der Vorgehensweisen als auch der Erkenntnisse der Musiktheorie. Der Wahrheitsgehalt der Aussagen sei meist nicht nachweisbar. Es wurde mit den Begriffen ›subjektiv‹ versus ›objektiv‹ hantiert, und man nahm für sich die Entscheidungshoheit in Anspruch, bestimmen zu können, wo die Grenze zwischen beiden verlaufe. Die solchermaßen bedrängten Theoretiker versuchten eine Gegenwehr und schlugen sich prompt auf die Seite der Kunst und der Künstler. Die angestrebte Begegnung missglückte kläglich.
Ich bin mir bewusst, dass Kunstausübung, Kunsttheorie und Wissenschaft nicht überall so unversöhnlich gegeneinander stehen. Einige deutsche und österreichische Musikhochschulen besitzen bereits ein Promotionsrecht. In der Schweiz stehen wir diesbezüglich noch hinten an. Aber die Zahl der Institute wächst, an denen die praxisbezogene Forschung akzeptiert und Musiktheorie als Wissenschaft verstanden wird. Ich hatte das Glück, an einem Haus zu arbeiten, an dem die Kunstausübung, die Kunsttheorie und die Wissenschaft friedlich und, wie ich meine, ertragreich koexistieren und kooperieren. Und dies seit bald 40 Jahren. Ich denke, dass das Gelingen dieser Art von interdisziplinärer Forschung einigen wenigen Voraussetzungen zu verdanken ist, die ich hier kurz ansprechen möchte.
Eine erste Voraussetzung ist die Anerkennung und Akzeptanz von Unterschieden:
Damit gemeint sind zum Beispiel die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen und die Eigenart der von diesen hervorgebrachten Wahrheiten. Wahrheit ist nicht gleich Wahrheit. Wahrheit, könnte man sagen, ist eine Funktion der Wahrnehmung und ihrer Wahrnehmungsinstrumente. Oder man könnte einen berühmten Satz von Paul Watzlawick etwas verändern und sagen: »Man kann nicht nicht interpretieren.« Unsere Rekonstruktionen sind zwangsläufig zu einem guten Teil Konstruktionen. In jedem Fall beeinflusst die Beziehung des Betrachters zu seinem Gegenstand die Befunde. Nimmt man dies ernst, so steigt die allseitige Achtung und Toleranz, zudem verschwindet der vielbeschworene Gegensatz von Sub- und Objektivität.
Ein weiterer Unterschied betrifft die verschiedenen Arten von Wissen sowie die Wege, auf denen es zustande kommt und erlangt wird. Wissen ist nicht gleich Wissen. Es gibt ein Wissen, bei dem wir wissen, was, warum und wie wir es wissen. Es ist verfügbar und kann in Sprache gefasst werden Wir nennen es explizites Wissen. Und es gibt ein Wissen, bei dem wir bloß wissen, dass wir etwas wissen, aber nicht was wir wissen. Es ist verfügbar primär im Handeln und erscheint dort als Können. Michael Polanyi nannte es »tacit knowledge«, auf Deutsch hat sich der Begriff »implizites Wissen« eingebürgert. In jeder Kunst und in jeder Wissenschaft sind beide Arten von Wissen enthalten und gefragt. Max Horkheimer soll einmal gesagt haben: »Ich bin zwar nicht genial, aber dafür kongenial.« Das ist erst einmal eine witzige Bemerkung und dann vielleicht auch ein Hinweis auf eine besondere Art von Wahrnehmung. Kongenialität basiert auf der Verbindung aller möglichen Arten des Wissens. Sie ist die ideale Voraussetzung für den Nachvollzug von allem Gedachten und Gechaffenen, ganz besonders von Kunstwerken.
Eine zweite Voraussetzung liegt in der Nutzung von Gemeinsamkeiten:
Zu diesen gehören vor allem die prozeduralen Aspekte, wie etwa die Art, zu fragen – wie ist etwas, wie funktioniert es, und warum ist es so? –, das Aufstellen von Kriterien und das Finden (bzw. Erfinden) von geeigneten Methoden für die Antwortsuche, ferner die kritische Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen anderer und schließlich auch die Art, die eigenen Ergebnisse darzustellen und mitzuteilen.
Zu den Gemeinsamkeiten gehört zudem der Aspekt der Geschichte und Geschichtlichkeit der Betrachter und ihrer Betrachtungsgegenstände.
Sind die genannten Voraussetzungen erfüllt, so können die Praktiker, die Theoretiker und die Wissenschaftler in einen sehr ergiebigen Dialog miteinander kommen. Alle Seiten profitieren voneinander. Und für die Musikforschung ergibt sich dadurch nicht nur ein Zuwachs von Untersuchungsgebieten, sondern auch von Vorgehensweisen und letztendlich von Erkenntnissen.
Die idealen Orte für diese Art von interdisziplinärer Forschung sind ganz eindeutig die Musikhochschulen. Es ist daher nicht nur wünschenswert, sondern à la longue wohl unumgänglich, dass sie einen dritten Zyklus selber gestalten können, also ein Promotionsrecht bekommen.
Nehmen Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, meinen missionarischen Eifer nicht übel. Ich weiß natürlich, dass ich mit meinen Ausführungen hier durch offene Türen renne. Dass ich es trotzdem, und gar mit wehenden Fahnen tue, hängt damit zusammen, dass unsere Gesellschaft ja nicht nur nach innen, in unseren Fachbereich hinein wirken, sondern auch eine Außenwirkung haben soll, mit anderen Worten: in der Bildungspolitik mitzureden hat, und dies über die Länder- und Staatsgrenzen hinaus. So war dies nicht zuletzt ein kleines manifestum pro domo helvetico.
Es bleibt mir, Sie alle zu beglückwünschen zum heutigen Geburtstag, zu allem, was seit 2000 getan und erreicht worden ist. Es bleibt mir, uns allen Glück und Gelingen zu wünschen für die kommende Dekade. Und es bleibt mir schließlich, in unser aller Namen den Gründern dieser Gesellschaft, allen bisherigen Präsidenten und allen Vorstandsmitgliedern zu danken für ihre wunderbare Arbeit im Dienste unserer Sache!
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