»Wozu brauche ich das?«
Der Anteil der Musiktheorie an der Konstruktion musikbezogener Bedeutung in Schule und Hochschule
Martina Krause
»Ich will Musik nur hören. Den ganzen Theoriekram brauche ich nicht!« (Schülerin A)
»Das Musikstück gefällt mir jetzt viel besser, weil ich es besser verstehe, nachdem wir es analysiert haben!« (Schüler B)
Diese zwei konträren Aussagen aus Schülermund dürften Musiklehrenden (zumindest in ähnlicher Form) bekannt vorkommen. Die Haltung von Lernenden gegenüber Musiktheorie im schulischen Alltag kann also zwischen Ablehnung auf der einen Seite und Anerkennung auf der anderen changieren, wobei erstere erfahrungsgemäß dominiert.
Begriffsdefinition
Die beiden Äußerungen zeigen, dass die Begriffe ›Theorie‹ und ›Analyse‹ oft synonym gebraucht werden. Auch wenn eine terminologische Trennung von Musiktheorie und Analyse vor dem Hintergrund einer Differenzierung von Theorie und Methode durchaus geläufig ist[1], verwende ich ›Musiktheorie‹ nicht im engeren Sinne als ›Theorie‹, sondern als einen übergeordneten Begriff, der Analyse notwendigerweise mit einschließt.
Der Ausdruck »Theoriekram« in der ersten Schüleräußerung impliziert eine Diskreditierung der Musiktheorie. Musiktheorie wird hier latent als lästiger Bestandteil des Musikunterrichts angesehen, der zudem sinnlos erscheint, da Musiktheorie offensichtlich für das (genießende) Hören ohne Relevanz bleibt. Gründe für eine solche Haltung mögen in einer reduzierten Vorstellung von Musiktheorie als ›trocken‹ und ›praxisfern‹ liegen, die nicht selten auch von Lehrenden (wenn auch oft unbewusst) vermittelt und seit Schülergenerationen als Vorurteil kolportiert wird.
Musiktheorie in meinem Verständnis hat allerdings nichts mit ›grauem Faktenwissen‹ zu tun. Objektive, isolierte und für immer gültige Ergebnisse gibt es in der Musiktheorie genauso wenig wie in anderen Wissenschaften; vielmehr handelt es sich hier um dynamische Konstrukte, die an historische sowie soziokulturelle Kontexte und damit an Subjekte gebunden sind – wenngleich damit auch ein Anspruch auf intersubjektive Nachvollziehbarkeit einhergeht, ohne welche jegliche Verständigung ad absurdum geführt werden würde. Es täte dem Musikunterricht daher gut, einen prinzipiell konstruktivistischen Musiktheoriebegriff zu Grunde zu legen, anstatt auf einen vermeintlich ontologisch gefassten Begriff von Musiktheorie (nach dem Motto: »So ist das nun einmal mit den Quintparallelen…«) zu setzen, um Schülerinnen und Schülern deutlich zu machen, dass musiktheoretisches Wissen nicht einfach vorhanden, sondern gemacht ist. Eine in diesem Sinne erweiterte Musiktheorie steht im Musikunterricht nicht mehr separiert von den anderen Inhalten, die doch scheinbar viel mehr Spaß machen, sondern wird integriert in ein Konzept von Musikunterricht, welches aus meiner Sicht konstruktivistisch zu fundieren ist, da es in musikdidaktischen Prozessen eben nicht um die Vermittlung von Inhalten, sondern um die Konstruktion von musikbezogener Bedeutung geht.[2]
In einem solchen Verständnis wird auch die zweite Schüleräußerung klarer: Einblicke in die Genese und Geltung musiktheoretischen Wissens können dazu beitragen, dass Musik noch mehr genossen wird. Nach Eggebrecht[3] umfasst das Verstehen von Musik zwei Dimensionen, die komplementär aufeinander bezogen sind: das »ästhetische Musikverstehen«, welches gewissermaßen prä-theoretisch verfasst ist, und das »erkennende Verstehen«, welches (auch) auf musiktheoretischem Wissen basiert und das ästhetische Verstehen bereichern kann. Insofern trifft zwar zu, was in der ersten Schüleräußerung zutage tritt: Notwendig ist ein musiktheoretischer Background zunächst nicht, um Musik hörend genießen und genießend hören zu können. Gleichwohl gewinnt das »ästhetische Verstehen« durch das Wissen über Musik eine andere (und durchaus höhere) Qualität.
Musiktheorie in der Schule
Vor diesem Horizont muss die Auffassung, dass Musiktheorie auf Schülerseite per se unbeliebt sei, selbst als Vorurteil enttarnt werden. Analyse kann durchaus auch bei Lernenden zum Bedürfnis werden![4] Ein Interesse an Analyse von Musik ist kein Manko und auch kein Signum für einen schülerfernen Musikunterricht. Konzessionen wie »Wir müssen jetzt halt ein bisschen Theorie machen, danach dürft ihr wieder musizieren!« sind vor diesem Hintergrund fatal und spiegeln einen aktuellen musikdidaktischen Trend wider, der zudem bereits wieder im Wandel begriffen ist.[5] Musiktheorie fungiert damit auch in musikunterrichtlichen Prozessen nicht lediglich als Dienstleisterin für ein abprüfbares Wissen. Im Gegenteil: Musiktheorie hat aus meiner Sicht einen fundamentalen Anteil an Prozessen musikbezogener Bedeutungskonstruktion. Sie ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern stiftet selbst Bedeutung. Eine rein propädeutische Vorstellung von Musiktheorie muss zurückgewiesen werden, stattdessen ist musiktheoretisches Wissen für Bedeutungskonstruktionen konstitutiv. Damit ist ein reduktionistischer Begriff von Musiktheorie im Musikunterricht aufzugeben.
Musiktheorie in der Schulmusikausbildung
Die obigen Ausführungen lassen sich zum Teil auch auf den hochschulischen Musiktheorie- und Analyseunterricht übertragen. Dass die beiden Disziplinen Musiktheorie und Musikpädagogik nicht gerade in einem freundschaftlichen Verhältnis zueinander stehen, dürfte bekannt sein.[6] Umso dringlicher erscheint eine Nobilitierung von Musiktheorie in dem Sinne, dass die Relevanz musiktheoretischen Wissens auch auf hochschuldidaktischer Ebene deutlich gemacht wird. Es wäre wünschenswert, wenn sich angehende Musiklehrende ebenfalls des für Verstehen und Bedeutungskonstruktion konstitutiven Anteils von Musiktheorie bewusst und Musiktheorie nicht als lästiges Pflicht- oder gar Angstfach sehen würden.
Das Schulmusikstudium hat überdies nicht die Aufgabe, Konzepte an die Hand zu geben, sondern zu einer fragenden und forschenden Haltung zu führen, die idealiter habitualisiert und auch im späteren Schulalltag nicht aufgegeben wird. In einem weiteren Sinne sind Musiklehrende somit immer auch Musiktheoretiker. Es ist endlich an der Zeit, Praxis nicht länger als Gegenbegriff zu Theorie aufzufassen bzw. Theorie und Praxis nicht gegeneinander auszuspielen.
Desiderata und Perspektiven
Musiktheorie und Musikpädagogik müssten viel stärker – und ungeachtet aller vorhandenen und sicherlich nicht einfach wegzuleugnenden Terminologieschwierigkeiten – in einen konstruktiven Dialog miteinander treten (Weidner 2010). Interdisziplinäre Symposien könnten dazu beitragen. Dabei geht es m.E. nicht um eine Angleichung von Fragen und Perspektiven im Sinne einer Nivellierung, sondern durchaus um den Mut zur Differenz – allerdings immer unter der Prämisse wechselseitigen Respekts.
Anmerkungen
Weidner 2010. | |
Krause 2008. | |
Eggebrecht 1995. | |
Vgl. Geuen 2007. | |
Inzwischen zeichnet sich innerhalb des musikpädagogischen Diskurses eine Renaissance des Musikhörens ab, während musikpraktische Konzepte wie Klassenmusizieren durchaus kritisch gesehen werden. | |
Weidner 2010. |
Literatur
Eggebrecht, Hans Heinrich (1995), Musik verstehen, München: Piper.
Geuen, Heinz (2007), »Hörend gestalten – verstehend begreifen. Überlegungen zur ›Entsperrung‹ artifizieller Musik in der Schule«, Musik und Bildung 3/2007, 28–34.
Krause, Martina (2008), Bedeutung und Bedeutsamkeit. Interpretation von Musik in musikpädagogischer Dimensionierung, Hildesheim u.a.: Olms.
Weidner, Verena (2010), »Musiktheorie und Musikpädagogik. ›Resonanzprobleme‹ einer Beziehung«, ZGMTH Sonderausgabe 2010. Musiktheorie | Musikwissenschaft. Geschichte – Methoden – Perspektiven, 117–144. http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/562.aspx
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