Rohringer, Stefan (2011), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8/1, 9–13. https://doi.org/10.31751/581
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 14/06/2011
zuletzt geändert / last updated: 04/07/2013

Editorial

Die inhaltlichen Diskussionen, die das Gesicht des Fachs Musiktheorie nun schon seit gut vierzig Jahren nachhaltig verändern, haben in der Regel die in der historischen Musikwissenschaft geäußerte Kritik zum Anlass, der zufolge Musiktheorie daran leide, dass die in ihr praktizierten Verfahren der Stilübung und der Analyse durch jeglicher Zeitlichkeit enthobene Systematiken determiniert seien.[1] Der Versuch in der Musiktheorie über eine inhaltliche Neupositionierung auch zu einer Klärung ihres Verhältnisses zu den Musikwissenschaften zu kommen, hat jedoch dazu geführt, dass die Beziehungen zu einer anderen, primär im Kontext von Musikhochschulen tätigen Nachbardisziplin vernachlässigt wurden. Die Rede ist von der Musikpädagogik.

Zwar kann auch dort mitunter den gleichen Vorbehalten begegnet werden, woran sich zeigt, dass die Musikpädagogik, nicht anders als die Musiktheorie, ursprünglich aus dem Haus der Musikwissenschaften stammt –, doch werden mit Blick auf eine zeitgemäße Lehrerbildung auch eigene Kritikpunkte laut, die derzeit insbesondere am Begriff »musikbezogener Erfahrung«[2] festgemacht werden.

Lehrerbildung, das meint hier primär den Bereich der sogenannten Schulmusik. Denn anders als in der Instrumental- und Gesangspädagogik, die bedauerlicherweise häufig immer noch als ein Nebengleis der künstlerischen Ausbildung für ›Wenigerbegabte‹ verhandelt wird, ist die für die Lehrerbildung an allgemeinbildenden Schulen zuständige Musikpädagogik personell und institutionell in den vergangenen Jahren erstarkt. Bekanntlich verdankt sich der universitäre Status der Musikhochschulen nicht zuletzt dem Auf- und Ausbau von Schulmusikabteilungen im Zuge einer wissenschaftlichen Lehrerbildung.

Davon hat zweifellos auch die Musiktheorie profitiert. Hierzulande, anders als in den meisten europäischen Ländern und in Nordamerika, spielt die Musiktheorie in der Lehrerausbildung (immer noch) eine zentrale Rolle. Die höheren Eingangsvoraussetzungen erlauben ein Arbeiten, das den eigenen fachlichen Ansprüchen häufig eher genügt als die Arbeit mit Studierenden anderer Studiengänge. Auch wenn es in letzter Zeit scheint, als habe die Hinwendung zu historischen Ansätzen, z.B. im Rahmen der Wiederentdeckung der Partimento-Lehrtradition, die traditionelle Klientel der früheren Konservatorien im Blick, nämlich Sänger und Instrumentalisten, so gilt bezüglich des Status’ der Musiktheorie als einer nicht allein künstlerischen sondern auch wissenschaftlichen Disziplin das vor mehr als zehn Jahren von Ludwig Holtmeier gesprochene Wort immer noch uneingeschränkt: »Die Zukunft der Schulmusik ist somit von zentraler Bedeutung für das Fach.«[3]

Nun gilt die Beziehung zwischen Musikpädagogik und Musiktheorie vielen als nicht weniger schwierig als die zwischen Musiktheorie und Musikwissenschaft oder Musikpädagogik und Musikwissenschaft. Verena Weidner gebührt das Verdienst, das Verhältnis beider Disziplinen erstmals genauer fokussiert zu haben.[4] Sie vermutet, dass es »[g]erade die institutionelle und fachliche Nähe beider Disziplinen [ist, die] für Spannungen« sorgt[5] und spricht im Sinne Niklas Luhmanns von »Resonanzproblemen«[6] und »Missverständnisse[n]«[7], die im Wesentlichen »auf terminologische Differenzen einerseits und unterschiedliche Systemspezifika andererseits«[8] zurückzuführen seien. Ihre Schlussfolgerung lautet:

Sobald ein System [...] dazu übergeht, die eigene Perspektive auf ein Nachbarsystem zu übertragen oder von ihm fordert, ebendiese Perspektive einzunehmen, entstehen Spannungen.[9]

Dieser Ansatz klingt vielversprechend: Das Verhältnis zwischen Systemen ließe sich demnach entkrampfen, wenn die Unterschiedlichkeit der Perspektiven anerkannt würde. Nur, was hat als die jeweilige ›Perspektive‹ zu gelten? Weidner selbst gibt einen Hinweis, wenn sie schreibt:

Die pädagogische Sichtweise würde dann nicht zwangsläufig als defizitär wahrgenommen werden, wenn ihr Hauptinteresse nicht der ›Sache‹ Musik gilt, sondern als spezifisch pädagogische.[10]

Das ›spezifisch Pädagogische‹ wiederum definiert Weidner mit Hinblick auf einen Text von Hermann Josef Kaiser als dasjenige, was sich »edukativer Intentionalität«[11] verdankt, d.h.

jene das soziale Handeln leitende Einstellung, die darauf abzielt, Subjekte in die Lage zu versetzen, bisher nicht zuhandene Möglichkeiten ästhetischen, sittlich-moralischen und zweckrationalen Handelns – in Auseinandersetzung mit ihrem (d.h. der Subjekte) gesellschaftlichen Kontext – wahrzunehmen und zu realisieren.[12]

Geht man nun aber davon aus, dass sich Musikpädagogik bei diesem Geschäft mit den ›Beziehungen zwischen Menschen und Musiken‹[13] zu befassen hat – der aus konstruktivistischer Sicht problematische Begriff der ›Vermittlung‹ kann in diesem Kontext schadlos vermieden werden –, so bedeutet dies, dass es in der Musikpädagogik auch immer eines Begriffes von der ›Sache‹ bedarf. Aus struktureller Notwendigkeit wird hier somit (u.a.) auch die ›musiktheoretische Perspektive‹ verhandelt werden. Umgekehrt gilt, dass Musiktheorie, die an Musikhochschulen primär nicht als Forschungs- sondern als Unterrichtsfach in Erscheinung tritt, in der Lehre immerzu eine ›musikpädagogische Perspektive‹ einnehmen muss, eben weil sie es mit den ›Beziehungen von Menschen und Musiken‹ zu tun hat.

Mit anderen Worten: Musiktheorie und Musikpädagogik sind einander Hilfswissenschaften.[14] Sie können, zumindest im Kontext der Musikhochschulen, nicht ohne einander. Nur auf Grundlage dieser Einsicht wird ein fruchtbarer Dialog zwischen beiden Disziplinen gelingen können.

Noch eine andere Voraussetzung aber muss erfüllt sein. Die beiden Disziplinen müssen füreinander ihre Unsichtbarkeit verlieren. Äußerungen in Bezug auf musikpädagogische Debatten geschehen in den Reihen der Musiktheorie selbst in Zusammenhang mit der eigenen Fachdidaktik eher vereinzelt und nehmen dann allenfalls implizit Stellung.[15] In musikpädagogischen Zusammenhängen wiederum finden sich zwar explizite Äußerungen zur Musiktheorie – dies aber zumeist nur verstreut, weil Musiktheorie in der Regel nicht eigens Gegenstand der Erörterung ist.

Um dieser Situation zumindest ein Stück weit abzuhelfen wird in der vorliegenden Ausgabe der ZGMTH der Fokus zunächst auf die ›Musiktheorie in der Musikpädagogik‹ gerichtet. Im Zentrum steht eine Umfrage unter den hierzulande in der Schulmusik federführenden Musikpädagoginnen und Musikpädagogen. Die Fragen zielen primär auf deren Begriff von Musiktheorie und den Stellenwert, den Musiktheorie ihrer Einschätzung nach in Lehrerbildung und Unterricht an allgemeinbildenden Schulen hat. Die Texte von Stefan Gies, Oliver Krämer, Martina Krause, Stefan Orgass, Christoph Richter, Sointu Scharenberg, Hans-Ulrich Schäfer-Lembeck und Norbert Schläbitz sind denkbar vielfältig in ihrer Positionierung, und so lautet das erste Ergebnis dieser Umfrage: Musikpädagogik ist ein nicht weniger heterogenes Fach als Musiktheorie.

Flankiert werden die eingegangenen Rücksendungen zum einen von Johannes M. Walters Beitrag zur »Werkbetrachtung und Analyse«, der aus einem Referat im Rahmen einer Lehrerfortbildung hervorgegangen ist, und zum anderen von Stefan Orgass’ Versuch, eine umfassende »Theorie musikalischer Bedeutung und nicht-musikalischer Bedeutsamkeit« unter Rekurs auf den erweiterten Zeichenbegriff von Charles S. Pierce zu entwerfen. Abschließend geht Stefan Rohringer fragwürdigen »subkutanen Fortschreibungen« nach, die für ihn einen Teil der Diskussion über Musiktheorie in musikpädagogischer Absicht prägen.

In den beiden freien Beiträgen versucht zunächst Ulrich Kaiser die »Babylonian confusion« in der Terminologie zur Formanalyse von Pop- und Rockmusik dadurch zu entwirren, dass er streng zwischen Begriffen, die der Gliederung des Textes und solchen, die der Gliederung der Musik gelten, unterscheidet, woraufhin Eric Wen der Spur nachgeht, welche die launige Bemerkung von Donald Francis Tovey über ein angebliches »E-quadruple flat« in Beethovens Appassionata legt.

Die Gesellschaft für Musiktheorie konnte auf ihrem letzten Jahreskongress im Herbst 2010 das zehnjährige Jubiläum ihrer Gründung begehen. Im Rahmen eines Festaktes blickten führende Vertreter der Gesellschaft auf die Zeit vor und seit ihrer Gründung zurück und wagten Ausblicke in die Zukunft. Das Grußwort des amtierenden Präsidenten Johannes Menke sowie die Beiträge der Festredner Clemens Kühn, Hartmut Fladt, Markus Jans, Oliver Schwab-Felisch, Michael Polth und Ludwig Holtmeier versammelt die Rubrik ›Ansprachen zum 10-jährigen Bestehen der GMTH‹ und gibt so einen Überblick über die Diskussion zum Selbstverständnis der Gesellschaft und des von ihr vertretenen Faches.

Nach dem Bericht, den Johannes Söllner von der International Orpheus Academy for Music & Theory 2008 am Orpheus-Institut Gent gibt, die sich unter dem Titel »Improvising Music in the 15th and 16th Century« mit Contrapunto alla Mente, Chant sur le Livre und Madrigale Passagiato beschäftigte, runden zwei Rezensionen die Ausgabe ab: Hartmut Fladt widmet sich Matthias Schlothfeldts Buch Komponieren im Unterricht und lobt »[d]ie Fülle der Erfahrungen und der daraus resultierenden Anregungen, das Reflexionsniveau und die Stärken der systematischen Verknüpfungen« in einem Publikationsbereich, der als Desiderat der musiktheoretischen Veröffentlichungslage gelten kann, und schließlich setzt sich Markus Neuwirth in seinem umfänglichen Rezensionsessay mit James Hepokoskis und Warren Darcys Elements of Sonata Theory. Norms, Types, and Deformations in the Late-Eighteenth-Century Sonata auseinander – einem Buch, das allein, was seinen Umfang (und äußeres Erscheinungsbild) anbelangt, ehrfurchtgebietend genannt werden darf. Freilich, aus der ihm besonders vertrauten ›haydnschen Perspektive‹ zeigt Neuwirth, dass wie alle ›Bibeln‹ auch diese eine kritische Lektüre verdient.

Stefan Rohringer

Anmerkungen

1

Zu dieser Problematik vgl. Sprick 2010 und den Beitrag von Oliver Schwab-Felisch in dieser Ausgabe.

2

Zu diesem Begriff vgl. Kaiser 1993.

3

Holtmeier 1997, 122.

4

Eine bibliographische Übersicht gibt Weidner 2010.

5

So in Weidner 2010 mit Rekurs auf Krakauer 1997, wo allerdings das Verhältnis von Musikpädagogik und Musikwissenschaft fokussiert wird.

6

Weidner 2010.

7

Ebd.

8

Ebd.

9

Ebd.

10

Ebd.

11

H.-J. Kaiser 2008, 48, Hervorhebung im Original.

12

Ebd.

13

Vgl. Kraemer 1995.

14

Das Grundsätzliche dieses Gedankens ist nicht neu: »Geschichte und Theorie sind einander Hilfswissenschaften: Geschichte nutzt theoriegezeugte Kategorien, Theorie (theorie-)geschichtliches Wissen.« (Schwab-Felisch 2009, 50)

15

So wird in keinem der vier Artikeln der ZGMTH 7/1 zum Thema ›Musiktheorie lehren‹ auf didaktische Fragestellungen der aktuellen Debatten in der Musikpädagogik Bezug genommen. Nur ein Beitrag (Menke 2010) berührt durch das hier angesprochene Normativitätsproblem zumindest indirekt einen Aspekt, der im derzeitigen musikpädagogischen Diskurs kontrovers diskutiert wird (vgl. Kaiser 2006).

Literatur

Holtmeier, Ludwig (1997), »Nicht Kunst? Nicht Wissenschaft? Zur Lage der Musiktheorie«, Musik & Ästhetik 1/1–2, 119–136.

Kaiser, Hermann Joseph (1993), »Zur Entstehung und Erscheinungsform ›musikalischer Erfahrung‹, in: Vom pädagogischen Umgang mit Musik, hg. v. dems., Mainz: Schott, 161–176.

––– (Hg.) (2006), Bildungsoffensive Musikunterricht? Das Grundsatzpapier der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Diskussion, Regensburg: ConBrio.

Kraemer, Rudolf-Dieter (1995), »Dimensionen und Funktionen musikpädagogischen Wissens«, in: Musiklernen und Neue (Unterrichts)Technologien, hg. von Georg Maas, Essen: Die Blaue Eule, 146–172.

Krakauer, Peter Maria (Hg.) (1997), Artgenossen und andere Feinde: Musikwissenschaft für die Musikpädagogik: Beiträge zum ersten Symposion ›Musikwissenschaft und Musikpädagogik‹ Salzburg 1996, Regensburg: ConBrio.

Menke, Johannes (2010), »Brauchen wir einen Kanon in der Musiktheorie?«, ZGMTH 7/1, 61–70. http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/507.aspx

Sprick, Jan Philipp (2010), »Kann Musiktheorie ›historisch‹ sein?«, ZGMTH Sonderausgabe 2010. Musiktheorie | Musikwissenschaft. Geschichte – Methoden – Perspektiven, 145–146. http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/597.aspx

Schwab-Felisch, Oliver (2009), »Wie totalitär ist die Schichtenlehre Heinrich Schenkers?«, in: Systeme der Musiktheorie, hg. von Clemens Kühn u. John Leigh, Dresden: Sandstein, 33–55.

Weidner, Verena (2010), »Musiktheorie und Musikpädagogik. ›Resonanzprobleme‹ einer Beziehung«, ZGMTH Sonderausgabe 2010. Musiktheorie | Musikwissenschaft. Geschichte – Methoden – Perspektiven, 117–144. http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/562.aspx

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