(M)eine musiktheoretische Bibliothek
Acht Blickwinkel einer subjektiven Auswahl
Clemens Kühn
1. Im Gepäck für die Insel
Sie kennen die beliebte Frage: was man auf eine einsame Insel mitnehmen würde, gezwungen, sich auf die Anzahl x zu beschränken. Die Antworten sagen nicht nur etwas über die Bedeutung des Ausgewählten, sondern auch über denjenigen, der seine Auswahl trifft. Für unser Thema ist das ein schöner Auftakt: Bitte entscheiden Sie sich für drei musiktheoretische Bücher, die Sie auf eine einsame ... (Stop. Bitte erst überlegen, dann weiterlesen).
Oliver Schwab-Felisch verführte, ohne es zu wissen, zu diesem Anfang. Er hatte mich eingeladen, hier jene Rubrik zu eröffnen, die künftig »wichtige musiktheoretische Bücher vorstellen« soll; es gehe dabei vor allem um »die Perspektive«: »die persönlich gefärbte dessen, der ein Buch schätzt und bewundert, der ihm entscheidende Prägungen verdankt«. Eine fabelhafte Idee. Gerade zum Einstieg allerdings schien es mir verlockender zu sein, eine gewisse Vielfalt auszubreiten, statt ein oder zwei Bücher herauszustellen.
Als erstes also drei Bücher für die Insel. Meine Mitbringsel wären: Heinrich Christoph Kochs Kompositionslehre (Versuch einer Anleitung zur Composition, Rudolstadt und Leipzig 1782–1793), Ernst Kurths Romantische Harmonik (Bern 1920) und – Robert Schumanns Gesammelte Schriften (Leipzig 1854): in abgrundtiefer Verehrung für Schumann als literarischen Künstler, der in seiner Sprachgewalt nicht nur wundervoll zu lesen, sondern von dem auch musikalisch unendlich viel zu lernen ist.
2. Ein einziges Lehrbuch
Die Insel-Frage zugespitzt: Angenommen, Sie müßten sich in musiktheoretischen Disziplinen für jeweils ein Lehrbuch entscheiden – welches Buch würden Sie nehmen?
Meine eigene Liste greift nicht unbedingt zu Lehrwerken, die der heutigen Ausrichtung von Musiktheorie entsprechen; sie wählt Bücher, die mich aus unterschiedlichen Gründen faszinieren. Hier in Kurzform meine Aufstellung:
Allgemeine Musiklehre: Grabner (bei allen Vorbehalten)
Harmonielehre: Louis-Thuille (immer noch)
Kontrapunkt: Fux (ich weiß:stilistisch fragwürdig – doch: didaktisch genial, historisch von unvergleichlichem Rang)
Formenlehre: Stöhr (dicht an Musik, reich an Notenbeispielen, vorzügliches Einleitungskapitel)
Gehörbildung: – (ohne Buch)
Analyse: Gerhard Schumacher (Hg.) (1974), Zur musikalischen Analyse, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (kein ›Lehr‹-Buch, aber ein anregender und zugleich informativer Sammelband)
Generalbaß: Keller (quellenorientiert, anschaulich)
Modulation: – (leider)
Hinzunehmen würde ich, ungeachtet seiner Schwächen, den bislang einzigen Versuch, die Einzeldisziplinen in einem Buch zusammenzuführen: Walter Salmen / Norbert J. Schneider (Hg.) (1987), Der musikalische Satz. Ein Handbuch zum Lernen und Lehren. Innsbruck: Helbling.
3. Die Macht von Büchern
Musiktheorie wurde durch die Publikationen von Diether de la Motte nachhaltig verändert. Jemanden, der es nicht miterlebt hat, ist das Jahrzehnte später, wo es allen selbstverständlich vorkommt, kaum noch begreiflich zu machen: Geradezu ein Fanal waren seinerzeit seine Musikalische Analyse (1968) und Harmonielehre (1976).
Keines von de la Mottes nachfolgenden, musikalisch ausgreifenden Büchern (Form in der Musik, Kontrapunkt, Musik bewegt sich im Raum, Musik ist im Spiel, Melodie, Wege zum Komponieren, Musikalische Liebeserklärungen, Musik Formen, Gedichte sind Musik) erlangte eine derartige Popularität. Vermutlich liegt das daran, daß seine beiden Erstlinge bereits wie eine musiktheoretische Erfüllung wirkten: Sie lösten die analytische Individualisierung und historische Differenzierung als neue Ideale ein und eroberten der Musiktheorie eine völlig neue Qualität. Ihre Wirkung war enorm: für das Fach selbst wie auch als Auslöser anderer – gleichgesinnter, eigen weiterdenkender oder opponierender – Schriften.
4. Nicht nur Bücher
›Wissenschaft‹ findet nicht allein in Büchern, sondern vornehmlich auch in Aufsätzen statt. Dieser Satz mag trivial sein. Ihn zu akzeptieren fiel aber nicht nur mir in jungen Jahren schwer: ›Aufsatz‹ klang nach flüchtigem Tagesgeschäft, ›Buch‹ nach anspruchsvoll Gültigem. Dabei kann es auch genau umgekehrt sein.
Es gibt Aufsätze von bleibendem Rang. Wiederum nur drei, in ihrer Art grundverschiedene, Arbeiten möchte ich herausgreifen und andeuten, was an ihnen mich persönlich besonders gefesselt hat:
Dieter Schnebel (1970), »Das angegriffene Material. Zur Gestaltung bei Beethoven«, in: Beethoven `70. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 44–55 (Beethoven mit den Augen des 20. Jahrhunderts geschaut – ein damals faszinierend neuer Ansatz)
Carl Dahlhaus (1975), »Rhythmus im Großen«, Melos / NZ für Musik 1, 439–441 (ein blendender Essay über die Notwendigkeit, musikalische Kategorien – hier: das rhythmisch Gruppierende gegen das energetisch Dynamische – historisch einzugrenzen, wenn sie etwas besagen sollen)
Reinhold Brinkmann (1984), »Lied als individuelle Struktur. Ausgewählte Kommentare zu Schumanns Zwielicht«, in: Analysen. Beiträge zur Problemgeschichte des Komponierens, Festschrift für Hans Heinrich Eggebrecht zum 65. Geburtstag, hg. v. Werner Breig / Reinhold Brinkmann / Elmar Budde, Stuttgart: Franz Steiner, 237–275 (multiperspektivische: von verschiedenen Seiten her sich nähernde Analyse, die – nach Methode, Sprache, Ertrag – Maßstäbe setzt)
5. Lust an Quellen
Besonders attraktiv ist das Lesen historischer Quellen. Sie sind auch ›Sekundärliteratur‹. Aber sie wirken unmittelbarer ›dran‹ an ihrer Musik (ohne deswegen unbedingt ›stimmen‹ zu müssen). Sie vermitteln, tief berührend, ein Bewußtsein von geschichtlicher Veränderung oder Kontinuität. Differenzen zu späteren oder zu ganz eigenen Auffassungen können zu fruchtbaren Reibereien führen. Und es hat etwas Erregendes, ein Faksimile von Caccinis Le nuove musiche oder von Quantz in den Händen zu halten und sich vorzustellen, daß die selbst ... (Neudrucke in modernem Notensatz und Schriftbild büßen Entscheidendes ein).
Ich gestehe, Quellen für mich selbst relativ spät entdeckt zu haben. Aber heute könnte ich mir den Bücherschrank nicht mehr vorstellen ohne Chr. Bernhard, Mattheson, Lexika Walthers (1732) und Kochs (1802), Riepel, C.Ph.E. Bach, Kirnberger, oder –
6. Private Favoriten
Eine unsystematische Liste von zehn (nicht nur streng musiktheoretischen) Büchern, auf die ich ungern würde verzichten wollen:
Jürgen Uhde / Renate Wieland (1988), Denken und Spielen. Studien zu einer Theorie der musikalischen Darstellung, Kassel: Bärenreiter (ein gedanklich wie musikalisch brillantes Zeugnis für Möglichkeiten, ›Analyse‹ und ›Interpretation‹ zusammenzubringen).
Charles Rosen (1971), The Classical Style, New York: Viking. Dt. Kassel: Bärenreiter 1983 (wem gelang je eine so kluge, hochmusikalische, spannende Zusammenschau? Nicht minder eindrucksvoll: Rosens Sonata Forms [1980] und The Romantic Generation [1995]).
Ernst Kurth (1917), Grundlagen des linearen Kontrapunkts. Bachs melodische Polyphonie, Bern, 51956, Reprint Hildesheim: Olms 1977 (In Bewunderung – allen Einwänden zum Trotz).
Carl Dahlhaus (1967), Untersuchungen zur Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel: Bärenreiter (ein Monument).
Hans Swarowsky (1979), Wahrung der Gestalt. Schriften über Werk und Wiedergabe, Stil und Interpretation in der Musik, hg. von Manfred Huss, Wien: Universal Edition (animierende Aufsatzsammlung des berühmten Dirigenten und Lehrers).
Schubert Handbuch (1997), hg. von Walther Dürr / Andreas Krause, Kassel und Stuttgart: Bärenreiter / Metzler (Von neueren Handbüchern – Das Bach-Lexikon, Beethoven – Interpretationen seiner Werke – scheint mir jenes zu Schubert besonders gelungen).
Arnold Schönberg (1976 ), Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hg. von Ivan Vojtech, Frankfurt: S. Fischer (eine musikalische Fundgrube auch dort, wo sie zum Widerspruch reizt).
Musikalische Virtuosität (2004), hg. von Heinz von Loesch / Ulrich Mahlert / Peter Rummenhöller, Mainz: Schott (bestechender Symposiumbericht zu einem zentralen, bislang vernachlässigten Phänomen).
Musik – zur Sprache gebracht. Musikästhetische Texte aus drei Jahrhunderten (1984), ausgewählt u. kommentiert von Carl Dahlhaus u. Michael Zimmermann, München und Kassel: dtv / Bärenreiter (gefangennehmende Anthologie. Leider nicht mehr aufgelegt).
Musiktheorie zwischen Historie und Systematik. 1. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Musiktheorie Dresden 2001 (2004), hg. von Ludwig Holtmeier / Michael Polth / Felix Diergarten, Augsburg: Wißner (niveauvolle Dokumentation eines unvergeßlichen Kongresses).
7. Musiknähe
Ist es legitim, Musikbücher nicht zu mögen, die Musik aussparen: aus abstrakter Distanz über sie reden und keine Literaturbeispiele bringen? Deswegen sagen mir persönlich die letzten 40 Seiten von Hermann Erpfs Form und Struktur in der Musik (Mainz 1987) wenig. Und als Manko empfinde ich es, daß Dietrich Bartels philologisch exzellentes Handbuch der musikalischen Figurenlehre (Laaber 42004) auf jedes Musikbeispiel und sogar auf bloße Literaturhinweise verzichtet.
8. Über ›Theorie‹ hinaus
Ein Sänger, der sich nicht vertieft in den Zaubergarten romantischer Lyrik, wird der Dichterliebe schwerlich gerecht werden können. Ein Pianist, der Schumann spielt, sollte sich gleichrangig einlesen in Jean Paul und die skurrile Welt E.T.A. Hoffmanns (die Kreisleriana zumindest in Auszügen).
Ich glaube, daß der musikalischen Lektüre oft zu enge fachspezifische Grenzen gezogen werden (und werde eine verblüffende Äußerung von Dahlhaus nie vergessen, gefallen bei einem seiner abendlichen Hausfeste: Fachliteratur lese er gelegentlich kursorisch, Belletristik und Lyrik stets äußerst genau). In diesem Sinne gehören für mich zur Pflichtlektüre eines Musiktheoretikers, wenn nicht jeden Musikers, auch Titel wie
Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater (weil der Text auf unvergleichliche Weise von ›Kopf‹ und ›Bauch‹, Reflexion und Instinkt, bei Kleist: »Bewußtsein« und »Grazie« handelt),
E.T.A. Hoffmann, Musikalische Novellen (Ritter Gluck, Don Juan), Ästhetische Texte (Der Dichter und der Komponist, Alte und Neue Kirchenmusik), zumindest einer der Beethoven-Aufsätze (dann jener über die fünfte Symphonie).
Eine Coda als Anregung:
Anfang der 1970er Jahre stellten Carl Dahlhaus und Michael Zimmermann an der TU Berlin Publikationen zusammen, die jeder Musikwissenschaftler gelesen haben sollte. Der Leitfaden bot eine höchst willkommene Orientierung, zumal der Irrglaube naheliegt, alles Gedruckte schon deswegen für gut und lesenswert zu halten, weil es gedruckt wurde. – Seinen ersten Musiktheorie-Kongreß in Wien, 1992, widmete Diether de la Motte musiktheoretischen Büchern, die geschrieben ›werden‹ oder ›werden sollten‹, also damals in Arbeit waren oder auf einer heimlichen Wunschliste standen. – In der Zeitschrift Musica hatten wir die Rubrik »Auf meinem Schreibtisch«. Eingeladen wurden Theoretiker, Komponisten, Wissenschaftler, Künstler: zu erzählen, womit sie sich gerade beschäftigen. Dafür Autoren zu gewinnen war nicht immer einfach – viele scheuen sich, über Unfertiges zu berichten –, aber es gelangen spannende Blicke über die Schulter.
Sollte ein ähnlicher ›Schreibtisch‹ nicht auch hier aufgestellt werden, thematisch großzügig und wie beim Wiener Kongreß unter Einschluß von Wunschlisten? Und ließe sich nicht aus dieser Rubrik hier, analog dem Berliner Leitfaden, eine Art Literatur-Kanon herausfiltern – oder gezielt herstellen, indem x Theoretiker gebeten werden, x Titel zu nennen? Damit würde der Musiktheorie weder ein Knebel angelegt noch ihre lebendige Vielfalt beschnitten. Wohl aber könnte, endlich einmal, ein kleiner, verbindender Treffpunkt geschaffen werden.
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