Neidhöfer, Christoph (2003/05), »Set Theory«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 1–2/2/2–3, 219–227. https://doi.org/10.31751/530
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/04/2005
zuletzt geändert / last updated: 15/01/2010

Set Theory

Christoph Neidhöfer

Die musikalische Set Theory untersucht die Eigenschaften von und Beziehungen zwischen Mengen von musikalischen Objekten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Mathematiker George Boole (1815–64) initiiert und von Georg Cantor (1845–1918) systematisch entwickelt (vgl. Nolan 2002), wurde die Set Theory erstmals von Milton Babbitt (*1916) in seiner Dissertation von 1946 zum Studium des Zwölftonsystems angewandt. Als Vorläufer der musikalischen Set Theory gelten die Theorien von Josef Matthias Hauer (1883–1959), Alois Hába (1893–1973) und Joseph Schillinger (1895–1943), die die möglichen Tonkonstellationen untersuchen, welche sich in verschiedenen Tonsystemen, inklusive mikrotonaler Systeme, bilden lassen. Auf den Bereich der Tonhöhen angewandt, betrachtet die Set Theory die Tonhöhenqualitäten unabhängig von ihrer Registerlage, indem sie alle Töne, die enharmonisch äquivalent sind, und alle Töne, die eine oder mehrere reine Oktaven auseinanderliegen, zu jeweils einer einzigen ›pitch class‹ zusammenfaßt. Auf atonale oder zwölftönige Musik bezogen, besteht die Menge aller ›pitch classes‹ aus zwölf Elementen (C, Cis = Des, D, Dis = Es usw.); im diatonischen System sind es sieben, im pentatonischen System fünf usw.

Das Total der zwölf chromatischen ›pitch classes‹ wird ›aggregate‹ genannt. Die zwölf ›pitch classes‹ lassen sich auf 4096 (212) verschiedene Arten kombinieren (unabhängig von der internen Reihenfolge der ›pitch classes‹ einer Gruppierung). Eine Gruppe von ›pitch classes‹ wird ›pitch-class set‹ genannt. Um sich eine Übersicht über die möglichen ›pitch-class sets‹ im chromatischen System zu verschaffen, werden diese in Äquivalenzklassen, die sogenannten ›set classes‹, eingeteilt. ›Pitch-class sets‹, die unter Transposition identisch sind, gehören zur selben ›set class‹. Unter transpositorischer Äquivalenz ergeben sich insgesamt 354 ›set classes‹, auch ›Tn-type set classes‹ genannt.[1] ›Tn‹ wird als eine mathematische Funktion verstanden und bezeichnet die Transposition um n Halbtöne, wobei n die Werte 0, 1, 2, und 11 durchläuft. In den Theorien von Howard Hanson (1896–1981), Allen Forte (*1926) und anderen werden alle ›pitch-class sets‹, die unter Transposition und / oder Umkehrung identisch sind, in dieselbe ›set class‹ eingeteilt.[2] Daraus resultieren 223 ›set classes‹, auch ›TnI-type set classes‹ genannt (›I‹ steht für ›inversion‹).

Zu den charakteristischen Eigenschaften eines ›pitch-class set‹ zählen insbesondere die Anzahl der in ihm enthaltenen ›pitch classes‹ (die sogenannte ›cardinality‹), der intervallische Gehalt (›interval-class content‹), allfällige Symmetrien und die Fähigkeit, sich mit Transpositionen und / oder Umkehrungen seiner selbst zum ›aggregate‹ zu ergänzen. Um die ›set class‹ eines ›pitch-class set‹ zu bestimmen, reduziert Forte (1973) dessen intervallische Struktur auf eine Grundform, die ›normal order‹, die die ›pitch classes‹ in engstmöglicher Lage und mit den kleinstmöglichen Intervallen im unteren Bereich darstellt. Diese ›normal order‹ wird dann mit der ›normal order‹ der Umkehrung des ›pitch-class set‹ verglichen. Diejenige der beiden ›normal orders‹, deren unterstes Intervall kleiner ist (oder deren zweitunterstes Intervall kleiner ist, im Falle, daß beide das gleiche unterste Intervall enthalten usw.), wird dann als ›prime form‹ bezeichnet. Die ›prime form‹ wird schließlich numerisch so dargestellt, daß die unterste ›pitch class‹ als 0 und alle anderen ›pitch classes‹ in ihren Halbtonabständen über 0 aufgelistet werden. Zum Beispiel lautet die ›prime form‹ des Dur- und Molldreiklangs – die beiden stehen im gegenseitigen Umkehrungsverhältnis – [0,3,7]; die ›prime form‹ des halbverminderten Septakkordes und des Dominantseptakkordes lautet [0,2,5,8]. Forte führt alle ›prime forms‹ in einer Tabelle auf und numeriert sie gemäß ihrer Position in der Liste.[3] ›Prime forms‹, die sich komplementär verhalten – z. B. der verminderte Septakkord und die oktatonische Tongruppe, die sich entsprechend transponiert gegenseitig zum ›aggregate‹ ergänzen – führt Forte auf derselben Zeile auf, da ihnen bestimmte strukturelle Eigenschaften gemein sind. Wenn beispielsweise ein ›pitch-class set‹ in nur vier verschiedenen Transpositionen existiert, wie dies beim übermäßigen Dreiklang [0,4,8] der Fall ist, dann gilt dies auch für das komplementäre ›pitch-class set‹ [0,1,2,4,5,6,8,9,10]. Fortes Tabelle zeigt außerdem für jede ›prime form‹ deren ›interval vector‹[4]. Dieser berechnet den Intervallgehalt: jedes im ›pitch-class set‹ enthaltene Intervall läßt sich auf eine der sieben ›interval classes‹ in der Größe von 0 bis 6 Halbtönen reduzieren. Fortes ›interval vector‹ zeigt, wie oft jede ›interval class‹ in einem ›pitch-class set‹ auftritt, aufgelistet in der Reihenfolge der ›interval classes‹ 1 bis 6. Beim Dur- und Molldreiklang lautet der ›interval vector‹ beispielsweise [001110] – je eine kleine Terz, große Terz und Quarte (= Quinte).

Obschon aus der mathematischen Perspektive einleuchtend, wurde die Umkehrungsäquivalenz von ›pitch-class sets‹ nicht von allen Theoretikern übernommen, da sie kaum einer klanglichen Äquivalenz entspricht. Der Tristanakkord ist beispielsweise eine ›pitch-class‹-Umkehrung des ihm folgenden Dominantseptakkordes[5], klingt aber ganz anders. Howe 1965, Rahn 1980, Pople 1984 und andere definieren deshalb eine ›set class‹ als die Menge aller ›pitch-class sets‹, die nur unter Transposition äquivalent sind (›Tn-type set class‹). Die ›Tn-type set classes‹ mit sechs Tönen, die ›hexachords‹, sind bereits aus der Theorie Hauers bekannt.[6] Seine 44 Tropen zeigen – unter transpositorischer Äquivalenz – alle möglichen Teilungen des chromatischen Totals in zwei (intern ungeordnete) Hälften und enthalten somit alle möglichen (›Tn-type‹-) ›hexachords‹.

Die Analyse von Tonhöhenkonstellationen mit Hilfe der Set Theory ermöglicht es, Eigenschaften zu definieren, die sonst nur schwer zu erkennen wären. Des weiteren kann die Set Theory ein neues Licht auf bereits bekannte Eigenschaften werfen, indem sie diese verallgemeinernd darstellt. Dabei wird klar, daß viele historisch bevorzugte Tonsysteme einzigartige Eigenschaften besitzen. Beispielsweise läßt sich mit Hilfe der Set Theory zeigen, daß das chromatische und diatonische ›hexachord‹ die einzigen sechstönigen ›set classes‹ sind, in denen jeweils jede ›interval class‹ in einer einzigartigen Häufigkeit auftritt. Der ›interval vector‹ des chromatischen ›hexachord‹ lautet [543210], derjenige des diatonischen ›hexachord‹ [143250]. Ähnliches gilt für das chromatische und diatonische ›heptachord‹ (mit ›interval vectors‹ [654321] bzw. [254361]).

Unter den vielleicht weniger intuitiv erfaßbaren Eigenschaften wäre die Tatsache zu nennen, daß komplementäre ›hexachords‹, selbst wenn sie verschiedenen ›set classes‹ zugehören, denselben Intervallgehalt haben. Dies läßt sich durch das sogennante ›Babbitt hexachord theorem‹ beweisen.[7] Eine verwandte Eigenschaft findet man auch bei ›set classes‹ anderer Größe. So gibt es beispielsweise zwei verschiedene ›all-interval tetrachords‹ mit den ›prime forms‹ [0,1,4,6] und [0,1,3,7]. Obschon sie verschiedenen ›set classes‹ angehören, ist ihr Intervallgehalt identisch, indem jede ›interval class‹ genau einmal auftritt. Der ›interval vector‹ ist in beiden Fällen [111111]. Elliott Carter (*1908), dessen Denken von der Set Theory beeinflußt ist, verwendet die beiden ›all-interval tetrachords‹ – deren Eigenschaften er bereits in den 1950er Jahren entdeckte – regelmäßig in seinen Werken bis heute.[8] Forte (1973, 21) bezeichnet zwei verschiedene ›set classes‹ mit identischem ›interval vector‹ als ›Z-related‹[9]. ›Z-Relationen‹ treten im chromatischen System immer paarweise auf, d. h. es gibt keine drei oder vier verschiedenen ›set classes‹, die sich denselben ›interval vector‹ teilen. David Lewin (1933–2003) hat gezeigt, daß in anderen Tonsystemen wie z. B. dem Sechzehntonsystem mitunter Drillinge von ›set classes‹ mit demselben ›interval vector‹ existieren. Lewin warnt deshalb davor, paarweise ›Z-Relationen‹ in der Analyse überzubewerten.[10]

Die Beziehung zwischen zwei beliebigen ›pitch-class sets‹ ist unter anderem durch deren Schnittmenge, d. h. durch die Menge der gemeinsamen ›pitch classes‹ charakterisiert. Je größer der Anteil der gemeinsamen ›pitch classes‹, desto ähnlicher sind sich zwei ›sets‹. Theorien der Ähnlichkeit (›similarity relations‹) wurden von einer Reihe von Theoretikern aufgrund verschiedener Kriterien entwickelt.[11] Forte entwickelte eine Theorie der ›set-complexes‹. Ein ›complex K‹ besteht aus einem Paar komplementärer ›set classes‹ und allen ›set classes‹, die in mindestens einem der beiden komplementären ›set classes‹ (durch Transposition und / oder Umkehrung) enthalten sind.[12] Restriktiver ist Fortes ›complex Kh‹, der sich aus einem Paar komplementärer ›set classes‹ und allen ›set classes‹, die in beiden komplementären ›set classes‹ (durch Transposition und / oder Umkehrung) enthalten sind, zusammensetzt.[13] Forte 1988 entwickelt eine alternative Kategorisierung, die Familien von ›set classes‹ aufgrund der sie generierenden Dreiklänge (›trichords‹) zwölf ›genera‹ und vier ›supragenera‹ zuordnet.

Weitere grundlegende Untersuchungen zur Set Theory finden sich insbesondere in den 1987 erschienenen Büchern von David Lewin und Robert Morris und in weiteren Arbeiten dieser Autoren sowie in den Schriften von John Clough, Andrew Mead, John Rahn, Eric Regener und Daniel Starr. Eine Gruppe von Theoretikern (insbesondere Richmond Browne, John Clough, Robert Gauldin, Gerald Myerson) hat sich seit den 1970er Jahren mit der diatonischen Set Theory befaßt, die die Eigenschaften derjenigen ›sets‹ untersucht, die im diatonischen System gebildet werden können, oft in ihrer Relation zum chromatischen System. Weitere Fragestellungen der Set Theory haben zur Untersuchung von ›pitch-class sets‹ mit speziellen Eigenschaften geführt, unter denen das siebentönige diatonische ›set‹ eine zentrale Stelle einnimmt.[14] Unter Anwendung der Set Theory haben verschiedene Autoren Akkordformationen in weiteren Tonsystemen untersucht, wie dem oktatonischen System (van den Toorn 1983, 1986, Santa 1999), dem pentatonischen und ganztönigen System (Santa 1999), den modalen Systemen von Olivier Messiaen (Bernard 1986, 1994, Cheong 2002, 2003, Neidhöfer 2005) und im ›double aggregate‹, in dem jeder Ton im chromatischen Total doppelt vertreten ist (Morris 2003).

Die Set Theory eignet sich auch zur Erforschung rhythmischer Strukturen, solange diese als ›sets‹ darstellbar sind. In Analogie zu den ›pitch-class sets‹ definiert Richard Cohn (1992) rhythmische Patterns in der Musik von Steve Reich als ›beat-class sets‹, auf die dieselben abstrakten Operationen wie auf die ›pitch-class sets‹ angewendet werden können. ›Beat-classes‹ entsprechen in etwa Babbitts ›time points‹ (siehe Summary zur ›Twelve-Tone Theory‹). In Analogie zur diatonischen Tonalität definiert John Roeder (2003) ›beat-class modes‹ und ›beat-class modulation‹ in Reichs späteren Kompositionen. Anhand atonaler Werke von Anton Webern zeigt Forte (1980), wie die verschiedenen rhythmischen Unterteilungen einer Zeiteinheit als ›partitions‹ analysiert werden können. Lewin erörtert, wie sich verschiedene rhythmische Ansätze als jeweils andersartige ›rhythmic spaces‹ definieren lassen: Babbitts rhythmisches System erkennt Lewin als ›modular space‹ mit ›beat classes‹, Elliott Carters modulierende Tempi als ›modular space‹ mit ›duration classes‹.[15] Über ›pitch classes‹ und Rhythmus hinaus zeigen Elizabeth West Marvin und Paul Laprade (1987) und Michael Friedmann 1985, wie sich ›sets‹ auch im Bereich der musikalischen Konturen definieren und analysieren lassen.[16]

Die Set Theory erfreut sich in der amerikanischen Musiktheorie einer anhaltenden Popularität, weil die möglichen Anwendungen schier unbegrenzt sind. In den letzten Jahren ist die Set Theory auch vermehrt in Verbindung mit anderen interpretatorischen Ansätzen wie der ›cultural theory‹ und ›feminist theory‹ zur Anwendung gekommen.[17] Jenseits der musiktheoretischen Forschung gehören die Basiskonzepte der Set Theory inzwischen zum Grundvokabular des Musiktheorieunterrichts an nordamerikanischen Universitäten und Musikhochschulen.

Anmerkungen

1

Vgl. Howe 1965, Rahn 1980.

2

Vgl. Hanson 1960, Forte 1973.

3

Forte 1973, 179–81.

4

Als Konzept in Martino 1961 eingeführt.

5

Babbitt 2003, 358.

6

Hauer 1925, 12.

7

Regener 1974, 203f., Lewin 1987, 144f.

8

Carter 2002, ix und 364.

9

Der Buchstabe ›Z‹ hat keine spezifische Bedeutung, sondern ist beliebig gewählt.

10

Vgl. Lewin 1982.

11

U. a. Morris 1980 und 1995b, Lord 1981, Isaacson 1990, Scott und Isaacson 1998, Buchler 2000, Quinn 2001.

12

Forte 1973, 93–96.

13

Ebd., 96–97.

14

Clough und Douthett 1991, Carey und Clampitt 1989, 1996.

15

Lewin 1987, 23f.

16

Siehe auch Morris 1993, Quinn 1997.

17

Z. B. Hisama 2001.

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