›Kollision‹ und ›Verschiebung‹
Satztechnische Modelle in Liedern Robert Schumanns
Anno Schreier
Es ist bekannt, dass viele Komponisten des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts explizit auf Satztechniken aus dem Barock zurückgegriffen haben. Besonders im Werk von Mendelssohn und Schumann spielt die teilweise Wiederentdeckung und Rezeption von älterer Musik – besonders derjenigen Johann Sebastian Bachs – eine wichtige Rolle, eine wichtigere und offensichtlichere jedenfalls als bei den Komponisten der Wiener Klassik. An drei Beispielen soll kurz erläutert werden, in welcher Weise Schumann Satztechniken und Satzmodelle verwendet, die eine Verbindung zur Generalbass- bzw. Partimentotradition aufweisen. Für eine solche Betrachtung bieten sich Schumanns Klavierlieder besonders an, da hier seine wichtigsten satztechnischen Verfahren, die hier mit den Stichworten ›Verschiebung‹ und ›Kollision‹ bezeichnet werden, vor dem Hintergrund einer durch den vertonten Text gegebenen inhaltlichen Bedeutungsebene evident werden können.
Es ist problematisch, die Übernahme von barocken Satztechniken durch die Romantiker und insbesondere durch Schumann in einer historistisch-mechanischen Weise zu verstehen und zu analysieren, d.h. so, als hätte Schumann diese Techniken und Modelle als bereits bestehende ›genommen‹ und dann das für seine persönliche Sprache Typische ›hinzugefügt.
Vielmehr ist die Frage zu stellen, inwieweit die Generalbass- und Partimentotradition als eine auch im 19. Jahrhundert noch lebendige Tradition gesehen werden kann, die eben nicht nur Bausteine zur Verfügung stellt, die dann vom jeweiligen Komponisten nur geschickt zu kombinieren wären. Am jeweiligen Einzelfall ist dann zu untersuchen, in welcher Weise sich das ›Alte‹ (die Elemente der Tradition, in der Schumann zweifellos steht) mit dem ›Neuen‹ (hier die poetische Ausdeutung von lyrischen Texten im Klavierlied) im Vollzug der kompositorischen Praxis verbindet, und das auf jeweils unverwechselbar eigene Weise.
Robert Schumann, Auf einer Burg, op. 39,7
Im Text dieses Liedes finden sich zahlreiche romantische Topoi. Im Zentrum steht das Bild einer verfallenen und verlassenen Burg und einer alten Ritterstatue, die mit Chiffren der Erstarrung geschildert wird: »eingeschlafen«, »eingewachsen«, »versteinert«. Am Ende des Gedichts wird dieses Bild von einem gegenwärtigen Ereignis scharf kontrastiert: einer Hochzeit, die auf dem Rhein entlangfährt, einer weinenden Braut.
Der Text, bis dahin Schilderung einer alten, verlassenen und erstarrten Welt, erhält durch diese Schlusswendung den Verweis auf eine problematische Gegenwart. Dieser Kontrast weist auf eine zunächst unlösbare Spaltung zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin, das Bild von Stille und Erstarrung erhält einen Riss.
Schumann vertont den Text als Strophenlied mit zwei Strophen, die jeweils eine abgewandelte Barform (AA'B) haben. Als Tonart des Liedes ist a-Moll (oder C-Dur) vorgezeichnet, das Stück beginnt jedoch in e-Moll. Nach der ersten Strophe schließt sich ein dreitaktiges Nachspiel an, das nach a-Moll kadenziert (T. 20–21). Dies ist die einzige Stelle in dem Stück, an der die a-Moll-Tonika durch eine Kadenz befestigt wird.
Musikalisches Kernelement des Liedes ist das melodische Motiv, mit dem die Singstimme beginnt und das ich im Folgenden ›Soggetto‹ nenne: eine fallende Quinte, gefolgt von zwei Sekundschritten aufwärts. Es wird zu Beginn imitatorisch eingeführt und mündet dann in eine IV-V-I-Kadenz in e-Moll (T. 4). Der Quintfall wird hier zum Bassgerüst der Kadenz umfunktioniert. Die Klavierbegleitung verdoppelt stets die Singstimme.
Es ist auffällig, wie viele Elemente der klassischen Vokalpolyphonie dieser Anfang besitzt: Neben dem imitatorischen Beginn findet sich eine beinahe korrekte Kadenz in den Takten 3–4 mit Diskantklausel im Alt (e1-dis1-e1), Tenorklausel im Tenor (g-fis-e), Altklausel im Diskant (c2-h1-g1) und Bassklausel im Bass; dazu (unterbrochene) Dezimenparallelen zwischen Diskant und Bass. Ungewöhnlich ist hier der Mollseptimakkord (*) auf der dritten Zählzeit in Takt 3, der sich aus der Kombination des Soggetto im Tenor mit dem Quintfall im Bass ergibt. (Überall dort, wo das Klavier die Singstimme verdoppelt, zitiere ich nur die Klavierstimme.)
Beispiel 1: Robert Schumann, Auf einer Burg, T. 1–4, Klavierstimme
Die Takte 5–8 bilden zunächst eine Wiederholung der viertaktigen Anfangsphrase mit veränderter Klavierstimme. Der Quintfall im Bass in Takt 4 ist zugleich der Beginn des in Takt 5 weitergeführten Soggettos. Das nächste folgt (unvollständig) in der rechten Hand des Klaviers in Takt 6. Die Takte 7–8 sind gegenüber den Takten 3–4 um eine Terz nach unten versetzt und kadenzieren dementsprechend nicht nach e-Moll, sondern nach C-Dur, bei fast identischem Stimmgefüge.
Diesem Beginn aus zwei mal vier Takten (AA') folgt in Takt 9–14 eine Sequenzpassage (B), die mit einem phrygischen Halbschluss endet. Diese Sequenzpassage besitzt eine außergewöhnliche Klanglichkeit, die dadurch entsteht, dass zwei Sequenzmodelle miteinander kollidieren.
Das zweitaktige Sequenzelement in der Singstimme (T. 9–10) besteht aus einer fallenden Quinte, die aus dem Soggetto abgeleitet ist, gefolgt von einer großen Sexte aufwärts. Es wird zweimal eine Stufe höher sequenziert. Dazu tritt in der Klavierstimme ein vierstimmiges Modell, das aus Liegestimmen (Oktave c-c1) und aus zwei in parallelen Dezimen aufwärts schreitenden Stimmen besteht. Dieses Modell ist ebenfalls zweitaktig und wird ebenfalls jeweils eine Stufe aufwärts sequenziert. Die Phrasenanfänge und -enden sind aber gegenüber der Singstimme verschoben; eine neue Phrase im Klavier beginnt jeweils auf der letzten halben Note des Singstimmen-Modells. Diese Verschiebung hat zur Folge, dass das Klavier-Modell nur zweimal vollständig erscheint, das unvollständige erste Mal in Takt 9 geht aus dem mit dem Bass-Quintfall in Takt 8 beginnenden Soggetto hervor.
Die Kollision dieser beiden Modelle erzeugt an mehreren Stellen ausgesprochen ungewöhnliche Zusammenklänge (* im Beispiel 2a), die kaum funktionsharmonisch gedeutet werden können, sondern allein als eine Folge der konsequent durchgehaltenen Sequenz erscheinen.
Beispiel 2a: Robert Schumann, Auf einer Burg, T. 9–14, metrische Kollision
Da das Singstimmen-Modell und das Dezimenparallelen-Modell im Klavier der gleichen Sequenzierungsvorschrift folgen, greife ich zunächst diese beiden Modelle heraus und vereinfache zugleich die Singstimme.
Beispiel 2b: Robert Schumann, Auf einer Burg, T. 9–14, Liegestimme weggelassen, Singstimme rhythmisch vereinfacht
Geht man von der Phrasenstruktur der Klavierstimme aus, so lassen sich die Klänge bei * recht einfach als Durchgänge betrachten, ebenso wie die ihnen folgenden Sextakkorde (**). Damit lassen sich diese Phrasen auf das aus der Oktavregel bekannte Denken in perfekten und imperfekten Konsonanzen, zurückführen.[1] Am Anfang und Ende einer Phrase steht jeweils ein ›perfekter‹ Moll- oder Dur-Dreiklang, dazwischen ›imperfekte‹ Sext- und Terzquartakkorde.
Dazu ist nun eine Art harmonischer Widerhaken in Form der doppelten Liegestimme c-c1 installiert. Von der zweiten Hälfte von Takt 10 an kollidiert diese Liegestimme mit ausnahmslos allen Klängen in dissonanter Weise, bis sie sich am Ende wieder konsonant einfügt. Auch auf dieser Ebene liegt also das Prinzip von perfekten Anfangs- und End-Konsonanzen zugrunde. Hier sind es ein konsonanter F-Dur-Akkord zu Beginn (T. 10) und ein a-Moll-Akkord am Ende (T. 14), der jedoch durch die mehrfache Terzverdopplung instabil wirkt.
Beispiel 2c: Robert Schumann, Auf einer Burg, T. 9–14, Singstimme rhythmisch vereinfacht
Ab Takt 14 mündet die Sequenzpassage in den bereits erwähnten phrygischen Halbschluss in Takt 17/18. Während die Oberstimme in Takt 17 durch einen Quartvorhalt verzögert wird, setzt der Bass mitten in den Halbschluss eine irritierend ›falsche‹ Oktave A1-A hinein. Dies ergibt sich daraus, dass Schumann mit dem ersten Oktav-E bereits wieder einen Einsatz des Anfangs-Soggettos beginnt, der schon zu dem Nachspiel ab Takt 18 gehört. Dieses Nachspiel ist eine fast notengetreu nach a-Moll transponierte Fassung der ersten vier Takte des Liedes. Man könnte tatsächlich von einem ›zweiten Klavier‹ sprechen, das in Takt 17 mit dem a-Moll-Nachspiel beginnt, während das ›erste Klavier‹ noch mit dem Halbschluss beschäftigt ist.
Beispiel 3: Robert Schumann, Auf einer Burg, T. 14–21, aufgeteilt auf ›2 Klaviere‹
Die zweite Strophe ist musikalisch gesehen eine genaue Wiederholung der ersten, sie endet aber im Unterschied zu dieser mit einem korrekten phrygischen Halbschluss, der dominantisch zum nächsten Lied (»In der Fremde«) hinleitet. Hier wird auch das Soggetto wieder aufgegriffen.
Beispiel 4: Robert Schumann, Auf einer Burg, T. 38–39, In der Fremde, T. 1–3
In welcher Tonart steht nun Auf einer Burg? Die Tonartvorzeichnung und das Nachspiel zur ersten Strophe lassen auf a-Moll schließen, es legen jedoch mehrere Faktoren die Annahme nahe, dass das Lied in einer Art phrygischem Modus steht:
Grundton e der Strophenanfänge,
phrygische Strophenschlüsse,
Passagen bzw. Kadenzen in C-Dur (T. 7–14) und a-Moll (T. 18–22) verweisen auf die wichtige Stellung der 4. und 6. Stufe im phrygischen Modus.[2]
Der quasi ›klassisch-vokalpolyphone‹ Beginn in Verbindung mit der Nähe zum phrygischen Modus ruft einen Topos des ›Alten‹, aber auch der ›Zeitlosigkeit‹, der ›Auflösung von Zeit‹ auf. Dieser Topos erhält einen Bruch durch die geschilderten satztechnischen Verfahren. Die dissonierende Liegestimme in der Sequenzpassage (T. 9–14) mag als Chiffre der Erstarrung gedeutet werden, die überlappenden ›zwei Klaviere‹ in Takt 17ff. als Chiffre der Vermischung von Zeitebenen. Schumann vollzieht also den Bruch, der im Text erst am Ende stattfindet, nicht erst dort wörtlich nach, sondern bereits von Anfang an auf satztechnischer Ebene.
Schumann: Muttertraum, op. 40,2
Ähnlich wie Eichendorffs Text von Auf einer Burg schildert Hans-Christian Andersens Gedicht Muttertraum zunächst ein idyllisches Bild, das am Schluss einen Bruch erhält. Das Bild der Mutter, die ihr schlafendes Kind betrachtet, wird in der letzten Strophe mit einer von Raben kreischend ausgestoßenen Todesdrohung auf geradezu verstörende Weise kontrastiert.
Die drei Strophen des Gedichtes vertont Schumann dergestalt, dass er zunächst die ersten beiden Strophen zu einem sechzehntaktigen Formteil (vier mal vier Takte) zusammenfasst. Die dritte Strophe greift zunächst die ersten vier Takte der ersten Strophe auf, enthält aber einen harmonisch und satztechnisch völlig anderen zweiten Teil. Das viertaktige Vorspiel, das der ersten Strophe vorangeht, leitet auch die dritte Strophe ein. Nach der dritten Strophe folgt ein ausgedehntes Nachspiel.
Das Vorspiel des Klaviers ist zweistimmig. Die rechte Hand hat eine durchgehende Sechzehntelkette, die linke Hand setzt im zweiten Takt mit einer synkopischen Bewegung in Vierteln ein. Diese Viertaktgruppe wird in leicht veränderter Gestalt zur Begleitung der ersten Zeile der ersten Strophe.
Noch deutlicher als bei Auf einer Burg nimmt Schumann in der polyphonen Gestaltung der Klavierstimme Bezug auf barocke Satztechnik und versieht diesen Bezug ebenso auf metrischer und klanglicher Ebene mit einem Bruch. Auf den ersten Blick fallen besonders die nach Maßgabe des ›klassischen‹ zweistimmigen Kontrapunkts außerordentlich ›ungeschickten‹ und ›hässlichen‹ Akzent-Oktavparallelen von Takt 2 (c-c1) zu Takt 3 (h-h1) auf, die sich in den Takten 6 und 7 wiederholen und in Takt 8 mit A-a1 sogar noch fortgesetzt werden. Für metrische Verunsicherung sorgen die Anbindungen von Achtelnoten an Sechzehntelnoten in der linken Hand (Takte 4–5 und 5–6).
Vereinfacht man die ohnehin fast nur aus Akkordbrechungen bestehende Sechzehntellinie der rechten Hand, dann wird deutlich, dass die synkopische Bassstimme meistens Vorhaltsdissonanzen zur Oberstimme bildet (*).
Beispiel 5: Robert Schumann, Muttertraum, Klavierstimme T. 1–6, rechte Hand akkordisch vereinfacht
Zieht man die Bassstimme komplett um ein Achtel vor, so erhält man einen völlig regelgerechten, unproblematischen zweistimmigen Satz, in dem die Oktavparallelen und die metrisch verunsichernden Stellen verschwinden.
Beispiel 6: Robert Schumann, Muttertraum, Klavierstimme T. 1–6, linke Hand metrisch ›korrigiert‹
Bezieht man in diese Vereinfachung nun die Singstimme ab Takt 5 ein, so zeigt sich, dass den Takten 5–8 ein Dezimparallelen-Modell in Vierteln (zwischen Singstimme und Bass) zugrunde liegt. Im Original entstehen durch die verzögerte Bassstimme auf allen Viertelzählzeiten statt Dezimen sehr herbe Sekundvorhalte.
Beispiel 7: Robert Schumann, Muttertraum, T. 5–8, Singstimme und Klavier linke Hand, metrisch ›korrigiert‹
Die Takte 9–13 bilden eine tonale Quintfallsequenz mit abwechselnden Septim- und Nonenakkorden. Obwohl die Bassverschiebung hier beibehalten wird, entstehen keine so starken Dissonanzen wie in den Takten zuvor, da sich die ›überhängenden‹ Bassnoten jeweils konsonant in den Akkord einfügen. Dadurch ergibt sich ein weicherer, wärmerer Klangcharakter, der mit dem Text an dieser Stelle korreliert. Die Dezimenparallelen setzen sich jeweils auf der ersten Zählzeit eines jeden Taktes fort (außer in Takt 13).
Beispiel 8: Robert Schumann, Muttertraum, T. 9–13, Klavierstimme akkordisch vereinfacht und linke Hand metrisch ›korrigiert‹
Die nächsten vier Takte (T. 13–16) modulieren zunächst nach B-Dur, was gewissermaßen eine Fortsetzung der Quintfallsequenz darstellt: C (T. 13) - F (T. 15) - B (T. 17).
Takt 20 schließt die Kadenz in F-Dur ab und lässt sogleich die Wiederholung des Vorspiels in d-Moll folgen. Auch die ersten vier Takte der 2. Strophe (T. 24–27) sind identisch mit denen der 1. Strophe, Takt 28 bringt jedoch eine einschneidende Änderung: Dort, wo der Text in die wörtliche Rede der Raben wechselt, ändert sich plötzlich die Begleitstruktur. Der Bass hat nun ›normale‹, unsynkopierte Viertel in Oktaven, die rechte Hand drei- oder vierstimmige Akkorde in Sechzehntelpulsation. Auch harmonisch geschieht eine Überraschung: Der g-Moll-Akkord in Takt 28 entspricht noch demjenigen von Takt 9, der überraschende Mollseptimakkord über F auf der zweiten Zählzeit entpuppt sich im folgenden Takt dann als II. Stufe von Es-Dur. Auf der zweiten Zählzeit von Takt 31 geschieht die Rückmodulation nach d-Moll über einen verminderten Septakkord, der in Es-Dur dominantische, in d-Moll doppeldominantische Funktion hat.
Die ungewöhnliche satztechnische Behandlung der Singstimme in diesen Takten verstärkt die unheimliche Wirkung der plötzlichen Ausweichung nach Es-Dur. Während die Singstimme bisher Dezimenparallelen zum Bass bildete oder sich an der Oberstimme der Begleitung orientierte, verläuft sie ab Takt 29 in parallelen Oktaven mit dem Bass. Sie vollzieht dessen kadenzierende Quintfälle nach und beteiligt sich in äußerst tiefer Lage ab Takt 32 am Orgelpunkt a, über dem das Nachspiel einsetzt.
Das neuntaktige Nachspiel ab Takt 32 stellt eine Variante der Klavierstimme in den ersten acht Takten des Stücks dar. Die Takte 32–33 entsprechen den Takten 1–2 (vgl. rechte Hand) mit hinzugefügtem Orgelpunkt über der Dominante, Takt 36 entspricht Takt 5. Die nun wieder synkopierte Bassstimme vollzieht jedoch einen Abstieg über zwei Oktaven in Sekundschritten vom a (T. 32) bis zum A1 (T. 38), das dann in die abschließende Kadenz mündet. Das Zusammenspiel der veränderten Oberstimme mit diesem Bassabstieg lässt mehrmals klanglich eigenartige Situationen entstehen. Auffällig ist die phrygische Wendung von Takt 34 zu 35: Die Oberstimme kadenziert nach a-Moll (mit einem übermäßigen Dreiklang anstelle der Dominante), während die Bassstimme die d-Moll-Skala mit B beibehält. In den Takten 37 und 38 scheinen sich die Stimmen kurzzeitig völlig ›aus den Augen verloren‹ zu haben. Während die Oberstimme an einer Art Ostinato-Figur als Variante von T. 1 festhält, setzt der Bass den Sekundabstieg fort, unbekümmert um die Kollision von C und cis2 am Ende von Takt 37.
Mittels der beschriebenen Verschiebungstechnik versieht Schumann die barock anmutende satztechnische Anlage des Liedes mit klanglichen Härten und metrischen Unebenheiten und geht dabei sogar so weit, satztechnische Fehler (Oktavparallelen im zweistimmigen Satz) zuzulassen. Dadurch realisiert er auf satztechnischer Ebene bereits von Anfang an einen Bruch, der auf den Schluss des Gedichtes vorausweist. Dort, wo der Bruch im Text dann eintritt (wörtliche Rede der Raben), verwendet Schumann eine wesentlich ›harmlosere‹ und konventionellere Satztechnik, durch die er die ungewöhnliche harmonische Wendung an dieser Stelle hervorhebt.
Schumann: Zwielicht, op. 39,10
Eichendorffs Gedicht, das diesem Lied zugrunde liegt, beschreibt eine ambivalente Dämmerstimmung: Die Wahrnehmung ist getrübt, nichts ist so wie es scheint, unterschwellig lauert Gefahr.
Schumann reflektiert diese Stimmung auf satztechnischer Ebene, indem er dem Lied ein zweistimmiges Kernelement zugrunde legt, geradezu ein musikalisches Spiel mit dem Wort ›Zwielicht‹. Es handelt sich um ein zweitaktiges Gebilde, das danach eine Stufe tiefer sequenziert wird. Man kann es auf ein Sextparallelen-Oberstimmenmodell zurückführen, das über einer Quintfallsequenz im Bass (zur Harmonik von Takt 1 s.u.) stehen könnte. Durch abwechselnde 5-6-Vorhalte in der Unterstimme bzw. 7-6-Vorhalte in der Oberstimme wird das Modell in zwei rhythmisch komplementäre Stimmen aufgespalten, die einander zu einer durchgehenden Achtelbewegung ergänzen.
Beispiel 9: Robert Schumann, Zwielicht, T. 1–4, Original und Vereinfachung (Reduktion auf Sextenparallelen)
Der erste Takt ist harmonisch ambivalent. Bereits das d1 (dritte Achtelnote) führt von der vorgezeichneten Tonart e-Moll weg bzw. lässt sie gar nicht erst aufkommen. Der in der zweiten Takthälfte erklingende verminderte Dreiklang cis1-e1-g1 deutet auf h-Moll hin, jedoch fehlt der Leitton ais, so dass der erste Takt insgesamt wie zwischen h-Moll und D-Dur schwebend anmutet. Diese ›zwielichtige Stimmung‹ wird noch verstärkt durch die Häufigkeit des Tritonus’ als strukturell wichtigem Intervall sowie durch den beim Hören metrisch zunächst unsicheren Anfang.
Schumann setzt dieses Modell insgesamt fünfmal ein.
Takte 1–4
Ausschließlich zweistimmig in der rechten Hand des Klaviers bildet es die ersten vier Takte des Klaviervorspiels. Danach folgen weitere drei Takte, in denen die rechte Hand die Sextenbewegung fortführt und der Klavierbass die Achtelfigur aufgreift. Am Ende des Vorspiels steht eine Kadenz in e-Moll, womit die erste Strophe beginnt.
Takte 8–11
Das Modell wird zur Begleitung der ersten vier Takte der ersten Strophe, wobei sich die Singstimme an der Oberstimme des zweistimmigen Modells orientiert, sich jedoch gelegentlich heterophon von ihr abspaltet (gleiche Tonhöhen, anderer Rhythmus). In den Takten 8–9 unterlegt Schumann im Klavierbass als Grundtöne E und H in Oktaven, verschiebt jedoch das H, das man auf der ersten Zählzeit in Takt 9 erwartet hätte, um ein Viertel nach hinten, wodurch die durch das Bass-E in Takt 8 nun scheinbar klare Metrik erneut verunklart wird.
Beispiel 10: Robert Schumann, Zwielicht, T. 8–9, rechte Hand rhythmisch vereinfacht
Takte 12–15
Die Takte 12–15 greifen wiederum die Achtelbewegung im Klavierbass auf und leiten über einen phrygischen Halbschluss zur zweiten Strophe hin. Besonders drastisch wirkt die heterophone Spaltung von Singstimme und Klavier in Takt 15. Während die Singstimme den 6-5-Vorhalt bereits auf der ersten Zählzeit auflöst, hält die Klavierstimme diesen Vorhalt bis zur vierten Zählzeit durch.
Takte 16–19
Die Technik der verschobenen Basstöne weitet Schumann in der 2. Strophe aus: In den Takten 16–19 unterlegt er das gesamte zweistimmige Modell in der rechten Hand mit ausgehaltenen Bassoktaven in der linken, jede um ein Viertel verschoben.
Beispiel 11: Robert Schumann, Zwielicht, T. 16–19, rechte Hand rhythmisch vereinfacht
Takte 24–28
Die dritte Strophe (ab Takt 24) beginnt zunächst identisch wie die zweite. Takt 25 führt dann eine neue, gegenläufige und um ein Achtel verschobene Bassstimme ein. Außerdem wird das Modell nun aufwärts sequenziert – und zwar real, so dass die 3. Strophe schließlich in cis-Moll endet.
Beispiel 12a: Robert Schumann, Zwielicht, T. 24–28, rechte Hand rhythmisch vereinfacht, linke Hand metrisch ›korrigiert‹
Ich überführe nun diese ›korrekte‹ Version Schritt für Schritt in Schumanns Version, indem ich zunächst die originale Oberstimme hinzusetze:
Beispiel 12b: Robert Schumann, Zwielicht, T. 24–27, rechte Hand in Originalfassung, linke Hand metrisch ›korrigiert‹
Dann verschiebe ich die Bassstimme wie in Schumanns Originalsatz.
Beispiel 12c: Robert Schumann, Zwielicht, T. 24–27, Original
Es stellt sich das Gefühl ein, dass die rhythmisch-metrische Koordination der Vorhalte in den beiden Oberstimmen verrutscht. Vorhaltsdissonanzen kommen normalerweise auf schwerer Zeit, die Auflösung auf leichter Zeit – das wird durch die Bassstimme hier verwischt, da sie Betonungen auf leichten Zählzeiten suggeriert.
Der eingeschobene Takt 32 leitet zur 4. Strophe hin. Hier eliminiert Schumann das zweistimmige Modell fast gänzlich. Nur den Verlauf der Singstimme behält er bei und lässt das Klavier mit Akkorden in Achtelpulsation sowie mit Bassoktaven begleiten.
Während bisher den jeweils ersten Takten der Strophen der Basston E zugrunde lag, harmonisiert Schumann den Beginn der 4. Strophe nun über Fis. Der verminderte Dreiklang cis1-e1-g1 – im ersten Takt des Liedes noch harmonisch ambivalent – wird somit als Bestandteil eines in Bezug auf den folgenden h-moll-Akkord (zwischen-)dominantischen Septnonakkordes gedeutet. Daraus ergibt sich die Einbettung der Oberstimmenmodells in den Zusammenhang einer Quintfallsequenz, die von Cis (T. 31) bis Dis (T. 37) reicht. Der letzte Ton ist Basston eines verminderten Septakkordes, womit die Tonart e-Moll wieder erreicht ist.
Beispiel 13: Robert Schumann, Zwielicht, T. 28–37, Klavierstimme akkordisch vereinfacht
Im Verlaufe der ersten drei Strophen verarbeitet Schumann das zweistimmige Modell mit steigender Komplexität. Zunächst fügt er nur einzelne Basstöne hinzu, dann fügt er eine neue Basslinie hinzu (3. Strophe) und ändert die Richtung der Sequenz und gelangt damit in eine andere Tonart. Schließlich reduziert Schumann die Komplexität in der 4. Strophe, indem er die ursprünglich kontrapunktische Gestalt des zweistimmigen Modells komplett eliminiert und nur noch die Oberstimme (Singstimme) sowie ein akkordisches Gerüst übriglässt.
Zusammenfassung und Ausblick
An den drei gezeigten Beispielen wird deutlich, wie sehr Schumann in der auf Satzmodellen aufbauenden Kompositionstradition verwurzelt ist. Schumann übernimmt diese Modelle und Satztechniken aber nicht einfach nur, sondern geht aktiv und produktiv mit dieser Tradition um: Entweder erzeugt er (wie in Auf einer Burg) bewusst einen Topos des ›Alten‹, den er dann mittels der geschilderten Kollisionsverfahren bricht. Oder er versieht einfache zweistimmige Modelle (Muttertraum, Zwielicht) mit metrischen Verschiebungen und Unschärfen, klanglichen Härten und unterschiedlichen harmonisch-kontrapunktischen ›Beleuchtungen‹.
Schumann komponiert damit in seine Musik eine Reflexion über Satztechnik ein. Anstatt traditionelle Satztechnik einfach nur auf ›interessante‹ Weise weiterzuentwickeln, setzt Schumann seine Modelle einem zunächst potentiell zerstörerischen Verfahren aus, das die metrische und klangliche Konsistenz dieser Modelle für einen kurzen Moment in ihrer Substanz angreift, um sie schließlich in einem eigenartigen Gleichgewichtszustand zwischen Verfestigung und Auflösung aufzufangen.
Damit reflektiert Schumann in seinen Vertonungen nicht nur die subtile Abgründigkeit der Texte, sondern zugleich auch das kompositorische Verhältnis von Text und Musik, sowie die Rolle der (satztechnischen) Tradition und damit auch die historische Dimension von Musik. Dies könnte man als Realisierung eines romantischen Programms auffassen: Von der philosophischen Tradition der deutschen Romantik her gesehen, zu deren wichtigsten ästhetischen Paradigmen das Einbeziehen von Reflexion über Kunst in das Kunstwerk selbst gehört, sind Schumanns Lieder nicht ›einfach nur Musik‹. Es schwingt vielmehr zugleich immer eine Reflexion mit über den Standort des kompositorischen und komponierenden Subjekts in Bezug auf die Tradition – im Spannungsfeld zwischen Affirmation und Auflösung.
Literatur
Jans, Markus (1987), »Alle gegen Eine: Satzmodelle in Note-gegen-Note-Sätzen des 16. und 17. Jahrhunderts«, Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 11, 101–120.
Schmidt, Christopher (2004), Harmonia modorum. Eine gregorianische Melodielehre. Sonderband Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis, Winterthur: Amadeus.
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