Rom, Uri (2009), »Ein ›Es-Dur-Gedanke‹? Zum Zusammenhang von Motivik und Tonart bei Mozart«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 6/1, 9–50. https://doi.org/10.31751/426
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 15/02/2009
zuletzt geändert / last updated: 02/09/2010

Ein ›Es-Dur-Gedanke‹?

Zum Zusammenhang von Motivik und Tonart bei Mozart

Uri Rom

Den Gegenstand der folgenden Betrachtungen bildet eine sechstönige melodische Struktur, wie sie etwa in den Takten 7f. der ›Bildnisarie‹ Taminos vorkommt. Die satztechnische Erörterung und chronologische Einordnung der verschiedenen Instanzen dieser Struktur sollen im Folgenden Aufschluss über ihren Stellenwert in Mozarts Gesamtwerk sowie ihre mutmaßliche Bindung an die Tonart Es-Dur geben. Eine Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Problemen melodischer Satzmodelle schließt sich an. Vor diesem Hintergrund wird die generelle Frage nach der Rolle der Tonartenwahl in Mozarts Komponieren diskutiert.

Schlagworte/Keywords: Hartmut Fladt; Johann Christian Bach; key; Pendelharmonik; Synailophe; Tonart; Tonartencharakteristik; Topos; Werner Lüthy; Wilhelm Gloede; Wolfgang Amadeus Mozart

Einleitung

Inwiefern stellt die Tonartenwahl bei Mozart ein wesentliches, inwiefern nur ein akzidentielles Moment seines Komponierens dar? Die Mozartforschung des ausgehenden Jahrhunderts suchte die Antwort auf diese Frage vor allem im Bereich der Tonartencharakteristik. Als erster umfassender Versuch dieser Art kann Werner Lüthys Studie Mozart und die Tonartencharakteristik von 1931 genannt werden.[1] Lüthy, der seine Thesen hauptsächlich auf eine Textanalyse von Arien und Liedern stützt, fasst seine Ergebnisse in einem Überblick zusammen, der an Tabellen von Tonartencharakteristika erinnert, wie sie von Musiktheoretikern des 18. und 19. Jahrhunderts her bekannt sind.[2] Die in der Folgezeit entstandene umfangreiche Reihe von Publikationen zur Tonartencharakteristik bei Mozart reicht bis in unsere Zeit hinein.[3] Indessen scheint dieser Ansatz unter Mozartforschern kein Konsens zu sein. Während Wolfgang Auhagen mit Blick auf die wichtigsten Beiträge zu diesem Thema eine positive Bilanz zieht[4], lehnt Wilhelm Gloede jeden Versuch, die Tonartencharakteristik auf Mozarts Musik anzuwenden, kategorisch ab.[5]

Die Primärquellen aus Mozarts Umfeld bieten indes wenig Hilfe bei dem Versuch, die Rolle der Tonartencharakteristik in seinem Denken verlässlich zu rekonstruieren. Die ›Lehre‹ der Tonartencharakteristik, die im Spätbarock eine überaus präsente, von Musiktheoretikern und Komponisten intensiv diskutierte Größe darstellte[6], war zwar in Mozarts zeitlichem sowie geographischem Umfeld weiterhin lebendig[7], doch ist genau genommen keine Aussage des Komponisten überliefert, die ihren Einfluss erkennen ließe.[8] In Leopold Mozarts Gründliche[r] Violinschule wird dem Thema eine einzige etwas kryptische Fußnote gewidmet, aus der hervorgeht, der Autor halte es für selbstverständlich, dass verschiedene Tonarten unterschiedliche Charaktere besitzen; es entsteht allerdings nicht der Eindruck, als nähme dieses Phänomen in Leopold Mozarts ästhetischem Denken eine wichtige Rolle ein.[9]

Angesichts der eher mageren Indizien aus Mozarts direktem Umfeld drängt sich die Frage auf, ob der Diskurs zur Bedeutung der Tonartenwahl in seiner Musik zwangsläufig ausschließlich aus der Perspektive der Tonartencharakteristik geführt werden muss. Einen anderen Ansatz verfolgt Wilhelm Gloede: Ausgehend von seiner grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber der Anwendung tonartencharakteristischer Denkkategorien auf Mozarts Musik zeigt Gloede, dass in bestimmten Bereichen des Mozartschen Œuvres eine statistische Korrelation bestimmter motivischer Gestalten und bestimmter Tonarten besteht.[10] Im Unterschied zum Bestreben der ›traditionellen‹ Tonartencharakteristik, die Tonartenwahl als einen semantischen, ›kommunikativen‹ Akt zu deuten[11], besteht Gloedes Neuerung in der Fokussierung auf eine satztechnisch-handwerkliche, von semantischen Überlegungen losgelöste Ebene des Mozartschen Schaffensprozesses.[12]

Der vorliegende Text schließt an Gloedes These an: Anhand eines ausgewählten Fallbeispiels (Beispiel 1) thematisiert er die Frage nach einem Zusammenhang zwischen Tonartenwahl und spezifischen melodischen Gestalten.[13] Der Fokus auf satztechnische Phänomene erlaubt es, den paradigmatischen Rahmen der Tonartencharakteristik zu vernachlässigen. Dadurch öffnet sich allerdings eine Erklärungslücke: Während sich Korrelationen zwischen Charakter und Tonart vor dem Hintergrund einer allgemeinen Tonartencharakteristik der Mozartzeit erörtern lassen, erfordern tonartliche Bindungen konkreter satztechnischer Elemente eine alternative Erklärungsstrategie, die sich in erster Linie mit individuellen Merkmalen der Schaffensweise des Komponisten befasst. Ein solches Erklärungsmodell wird gegen Ende dieses Texts vorgestellt.

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Beispiel 1: Die sechstönige Motivstruktur[14]

›Buchstäbliche‹ Instanzen der sechstönigen Motivstruktur

Die folgenden analytischen Überlegungen sehen sich vor allem mit dem Problem der Vergleichbarkeit melodischer Gestalten konfrontiert. In Mozarts Gesamtwerk lassen sich zahlreiche Melodiesegmente aufzählen, die eine grundsätzliche Ähnlichkeit mit der Motivstruktur in Beispiel 1 aufweisen.[15] Unter dieser erweiterten Gruppe von Instanzen (im Sinne von Exempeln eines allgemeineren Prinzips) zeichnen sich allerdings keine tonartlichen Tendenzen ab. Die analytische Aufgabe besteht nun darin, Kriterien für eine sinnvolle Eingrenzung des typologischen Umfelds aufzustellen, die gleichzeitig zur Aufdeckung tonartlicher Bezüge innerhalb des engeren Beispielcorpus’ führen können.

Melodische Verläufe werden durch das Ineinanderwirken mehrerer unterschiedlicher satztechnischer Momente wie der Diastematik, der rhythmisch-metrischen Gestaltung oder der impliziten Harmonik definiert. Während diese Aspekte der Melodiebildung in den folgenden analytischen Erörterungen Berücksichtigung finden, beruht das zentrale Bestimmungsmoment der zunächst einzugrenzenden ›Kerngruppe‹ vor allem auf der Eigenschaft der ›buchstäblichen Wiedergabe‹ der zugrunde liegenden Motivstruktur, nämlich der Eigenschaft des ›Nicht-Verziert-Seins‹.

Die Wahl der irreduziblen melodischen Oberfläche als Unterscheidungskriterium ist alles andere als selbstverständlich, kehren doch diverse Diminutions- und Verzierungslehren des 16. bis 19. Jahrhunderts gerade die Substanzidentität zwischen unverzierten und verzierten Varianten ein und desselben ›Grundschemas‹ hervor.[16] Die methodologische Sinnfälligkeit des ›Buchstäblichkeitsprinzips‹ misst sich im vorliegenden Fall am zu erzielenden Erkenntniswert: der Aufdeckung einer beachtlichen, offenbar nicht zufälligen Korrelation zwischen Melodiebildung und Tonart. Wird das Buchstäblichkeitsprinzip durch den Materialbefund ratifiziert, so vermag dieses wiederum auf eine besondere Bedeutung der Oberflächengestalt in Mozarts Melodie-Auffassung im Allgemeinen hinzuweisen.

Die Motivstruktur aus Beispiel 1 erscheint in Mozarts Gesamtwerk in acht verschiedenen Stücken in ›Reinform‹, d.h. ohne jegliche Verzierungen, Zusätze oder Auslassungen.[17] Tabelle 1 listet ihre verschiedenen Instanzen in chronologischer Reihenfolge.[18] Beispiel 2 zeigt die Instanzen in der Gestalt, in der sie jeweils zum ersten Mal im jeweiligen Stück begegnen, Beispiel 3 diejenigen Instanzen, die von den entsprechenden primären Erscheinungsformen signifikant abweichen.[19]

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Tabelle 1: ›Buchstäbliche‹ Erscheinungen der sechstönigen Motivstruktur in Mozarts Gesamtwerk

Beispiel 2: Primäre Instanzen der sechstönigen Motivstruktur

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Beispiel 2a: W.A. Mozart, Streichquartett Es-Dur KV 160 (159a), I. Satz, Allegro, T. 24–28

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Beispiel 2b: W.A. Mozart, Divertimento D-Dur KV 205 (173a, 167A), III. Satz, Adagio, T. 1–4 (Violine, Viola und Bass)

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Beispiel 2c: W.A. Mozart, Streichquartett F-Dur KV 168, I. Satz, Allegro, T. 31–35

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Beispiel 2d: W.A. Mozart, Streichquartett Es-Dur KV 171, I. Satz, Adagio-Einleitung, T. 1–8

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Beispiel 2e: W.A. Mozart, Serenade D-Dur KV 203 (189b), VI. Satz, (Andante?), T. 1–5

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Beispiel 2f: W.A. Mozart, Idomeneo, Dramma per Musica in tre atti KV 366 Nr. 11, Andante ma sostenuto, T. 1–6

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Beispiel 2g: W.A. Mozart, Sinfonie g-Moll KV 550, II. Satz, Andante, T. 1–8

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Beispiel 2h: W.A. Mozart, Die Zauberflöte, Deutsche Oper in zwei Aufzügen KV 620 Nr. 3, Larghetto, T. 3–10

Beispiel 3: Zusätzliche abweichende Instanzen der sechstönigen Motivstruktur

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Beispiel 3a: W.A. Mozart, Streichquartett Es-Dur KV 160 (159a), I. Satz, Allegro, T. 83–87

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Beispiel 3b: W.A. Mozart, Streichquartett F-Dur KV 168, I. Satz, Allegro, T. 98–102

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Beispiel 3c: W.A. Mozart, Idomeneo, Dramma per Musica in tre atti KV 366 Nr. 11, Andante ma sostenuto, T. 15–20 (entspricht auch T. 58–63)

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Beispiel 3d: W.A. Mozart, Sinfonie g-Moll KV 550, II. Satz, Andante, T. 13–15

Wie oben erwähnt setzt sich die vorliegende Gruppe von acht Werken aus unveränderten Instanzen der Motivstruktur aus Beispiel 1 zusammen. Die Antizipationen in KV 205/III und KV 203/VI könnten indessen bereits als eine leichte Art der Verzierung verstanden werden. Vergleicht man die drei Erscheinungsformen der Motivstruktur in der Arie der Ilia miteinander (Beispiel 2f resp. 3c), scheint es plausibel, die Erscheinungsform mit Antizipationen, die schließlich nichts am Tonvorrat der Originalfigur oder an der ursprünglichen Reihenfolge der Töne verändert, als eine mit der unverzierten Gestalt besonders eng verwandte Variante zu betrachten. Die Tatsache, dass die Variante mit Antizipationen in den gesungenen Passagen der Arie verwendet wird, während die ›karge‹ Gestalt lediglich im Orchestervorspiel vorkommt, legt es nahe, auch die Varianten in KV 205/III und KV 203/VI (mit Antizipationen an analogen Positionen) als abgerundete, gesanglichere Erscheinungsformen ein und derselben Figur und nicht als typologische Abweichungen zu bewerten. Eine gravierende Abweichung stellt indes der Oktavsprung dar, welcher der Motiverscheinung in KV 205/III vorangeht. Zählt man das tiefere a1 zur Figur dazu, stellt dieser Fall bereits eine Art der Diminution dar. Gleichwohl soll diese Instanz in der zu untersuchenden ›Kerngruppe‹ beibehalten werden.

Weitere abweichende Varianten von den primären Gestalten aus Beispiel 2 erscheinen in den Beispielen 3a–b und 3d. Beispiel 3d gibt die zweite Motiverscheinung im langsamen Satz der Sinfonie KV 550 wieder: Ein bemerkenswerter Unterschied zur ersten Variante besteht in der Versetzung der sechstönigen Motivstruktur in die Bassstimme, einer Maßnahme, die eine grundsätzliche Umstellung des Tonsatzes nach sich zieht. Die Beispiele 3a und 3b sind jeweils den Reprisenteilen von KV 160/I und KV 168/I entnommen: Hier handelt es sich um genaue (bzw. fast genaue) Transpositionen der Beispiele 2a resp. 2c, die als dem Nebentonart-Bereich der jeweiligen Expositionen entnommene Gestalten in der Reprise normgemäß einer Unterquint- (bzw. Oberquart-) Transposition unterzogen werden. Anders als in den Beispielen 3c und 3d stellen diese Varianten keine signifikanten satztechnischen Abweichungen gegenüber den primären Erscheinungsformen dar, sondern erweitern lediglich das Tonartenfeld, in dem diese Gestalten begegnen.

Inwiefern lässt nun die Zusammenstellung in Tabelle 1 von einer statistisch bedeutenden Anbindung der sechstönigen Motivstruktur an die Tonart Es-Dur sprechen? Vier der acht primären Erscheinungsformen des Motivs in Beispiel 2 stehen in Es-Dur. Rechnet man die zusätzlichen Instanzen hinzu, ändern sich die Verhältnisse abermals zugunsten der Es-Dur-Tonart: So stehen im Streichquartett KV 171, in der Ilia-Arie und im langsamen Satz der Sinfonie KV 550 insgesamt fünf weitere Instanzen ebenfalls in Es-Dur.[20] Sogar der erste Satz des Streichquartetts KV 160 mit einer primären Motiverscheinung in B-Dur steuert eine Reprisenvariante in Es-Dur bei (Beispiel 3a). Lediglich die dem Streichquartett KV 168 und der Serenade KV 203 entnommenen ›Sekundär‹-Varianten stehen in anderen Tonarten als Es-Dur.[21] Somit steigt die Anzahl sämtlicher Es-Dur-Erscheinungen der Motivstruktur (primärer und sonstiger) auf zehn (über 60% der insgesamt sechzehn Fälle).[22]

Bedenkt man, dass die Tonart Es-Dur unter den sieben gebräuchlichen Dur-Tonarten in Mozarts Instrumentalschaffen den drittletzten Platz belegt, was die Häufigkeit der Verwendung als Satztonart anbelangt, erhält dieser Befund zusätzliches statistisches Gewicht.[23] Unter Berücksichtigung der Satztonart dürfte ja ohnehin auch KV 160/I zu den vier Erscheinungen in Es-Dur dazugerechnet werden, sodass sich ein Block von fünf Es-Dur-Stücken (gegenüber drei Sätzen in anderen Tonarten) ergäbe. Bemerkenswerterweise fällt die jeweilige Präsenz der übrigen Tonarten im Beispielcorpus deutlich hinter ihre Normalverteilung zurück: Kein einziges der Beispiele steht in der häufigsten Satztonart in Mozarts Instrumentalmusik, nämlich D-Dur; die nicht in Es-Dur stehenden Instanzen verteilen sich fast gleichmäßig auf die restlichen ›üblichen‹ Tonarten C-, F-, G-, A- und B-Dur. Die Bindung der Motivstruktur an die Tonart Es-Dur sticht umso deutlicher hervor, als sich neben ihr keine andere Tonart im Beispielcorpus statistisch behaupten kann.

Die offensichtliche Affinität zwischen der sechstönigen Motivstruktur und der Tonart Es-Dur verlangt nach einer Erklärung. Bevor diese versucht wird, soll zunächst die Frage gestellt werden, inwiefern die acht primären Erscheinungen der Motivstruktur als Instantiierungen ein und desselben satztechnischen Modells betrachtet werden können, bzw. inwiefern sich der (zu Beginn dieses Abschnitts bereits angedeutete) Ausschluss weiterer mit dieser Motivstruktur verwandter Erscheinungsformen im Mozartschen Werk aus dieser Achter-Gruppe analytisch rechtfertigen lässt.

Satztechnische Merkmale der ›Achter-Gruppe‹

Eine eingehende Analyse der Instanzen der ›Achter-Gruppe‹ vermag mehrere signifikante harmonische, metrische und rhythmische Nuancen ans Licht zu befördern. Zunächst hat aber eine generellere, eher taxonomische als analytische Unterscheidung den Vorrang: die Rubrizierung nach Satzgattung und Tempo.

Die meisten Fälle im vorliegenden Beispielcorpus sind langsamen Sätzen entnommen (der Begriff ›langsamer Satz‹ wird hier unabhängig von der Satzform verwendet), auch die beiden vorliegenden Opernarien ließen sich am ehesten unter dem Instrumentaltypus des langsamen Satzes rubrizieren. Allein KV 160/I, KV 168/I und KV 171/I stellen Allegro-Kopfsätze dar. Aber auch in KV 171/I sind die Motiverscheinungen nicht dem Allegro-Teil, sondern der langsamen Einleitung bzw. einem ebenfalls mit Adagio überschriebenen Epilog entnommen.

Der Tempounterschied darf indes nicht als rein äußerliches Merkmal betrachtet werden. Die Instanzen im langsamen bzw. mäßigen Tempo legen einen entschieden anderen Habitus an den Tag als die schnellen Achtelfiguren in KV 160/I und KV 168/I: Mit dem verlangsamten Tempo verbindet sich eine prinzipielle Anverwandlung des Topos.[24] Lassen sich die Instanzen der beiden Allegro-Sätze unter einen ›schnellen Topos‹ subsumieren, so sind die Motiverscheinungen in den übrigen sechs Stücken einem ›langsamen Topos‹ zuzuordnen.

Unter den Erscheinungsformen im langsamen Tempo ließe sich ferner zwischen der ›festlichen‹ Adagio-Einleitung von KV 171/I im Unisono-Satzbild und der lyrischen Gestaltung des Motivs in allen übrigen langsamen Instanzen unterscheiden. Bis zu einem gewissen Grad könnte man in diesem Zusammenhang von einem ›Adagio-‹ und einem ›Andante-Topos‹ sprechen, wobei die topologische Unterscheidung in der tempomäßigen nicht restlos aufgeht: Die Motiverscheinung im ebenfalls mit ›Adagio‹ überschriebenen langsamen Satz des Divertimentos KV 205 (173a, 167A) wäre eher dem lyrischen ›Andante-Topos‹ zuzuordnen (die Tempoangabe stammte in diesem Fall allerdings von der Hand Leopold Mozarts); gleiches gilt auch für die mit ›Larghetto‹ überschriebene ›Bildnisarie‹.

Die Motiverscheinungen des Andante-Topos’ stehen – mit Ausnahme von KV 203/VI – an einer internen Position (als zweite oder dritte Phrase) innerhalb einer thematischen Setzung. Selbst im Falle von KV 203/VI, einer Melodie, in der dem Sechs-Ton-Motiv lediglich ein Einzelton vorangestellt wird, besitzen diese melodischen Formulierungen einen ausgesprochenen ›Fortspinnungscharakter‹: Die sechstönige Motivstruktur wird gewissermaßen als ein Versatzstück eingesetzt, um langatmige, lyrische Themen zu prolongieren. Die Instanzen des Allegro- und des ›festlichen‹ Adagio-Topos’ teilen indes diese kantable Langatmigkeit des ›lyrischen‹ Andante-Topos’ nicht.

Die topologische Rubrizierung fügt sich recht gut in die Klassifizierung nach Tonarten innerhalb der Achter-Gruppe: Alle primären Instanzen der Tonart Es-Dur begegnen ausschließlich im Zusammenhang mit langsamen bis mäßigen Tempi; allerdings fallen in diese Kategorie auch zwei der nicht in Es-Dur stehenden Instanzen (die langsamen Sätze KV 205/III und KV 203/VI).[25]

Die folgenden analytischen Betrachtungen beleuchten das Beispielcorpus der Achter-Gruppe vor allem aus zwei satztechnischen Blickwinkeln: der rhythmisch-metrischen Umsetzung der Motivstruktur und der genauen harmonischen Realisierung.

Eine zentrale Eigenschaft der sechstönigen Motivstruktur ist ihre Teilung in zwei symmetrische Drei-Ton-Phrasen (c-gis-a und c-fis-g in Beispiel 1). In allen acht Fällen der Gruppe findet sich die symmetrische Anlage der Motivstruktur auch durch die rhythmisch-metrische Gestaltung bestätigt. In der Regel geraten die Töne der zweiten Phrase an identische metrische Positionen wie die der ersten. In den drei Sätzen KV 160/I, KV 168/I und KV 205/III liegen zusammengesetzte Taktarten vor: Hier beträgt der jeweilige Abstand zwischen den zwei Drei-Ton-Phrasen nicht einen ganzen, sondern lediglich einen halben Takt und diese besetzen folglich keine identischen, jedoch äquivalente metrische Positionen im Taktschema.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach einer möglichen Abstufung des metrischen Gewichts zwischen der ersten und der zweiten Drei-Ton-Phrase des Motivs in den verschiedenen Instanzen. Bemerkenswerterweise erhält der fünfte Ton (zweiter Ton der zweiten Phrase) in jenen drei Fällen, in denen lediglich ein halbtaktiger Abstand zwischen den Phrasen besteht, den wichtigeren metrischen Akzent, indem er mit der Takteins zusammenfällt: Dieser Umstand kennzeichnet die zweite Drei-Ton-Phrase als metrisch grundsätzlich gewichtiger als die erste.[26]

Die vorherrschende Phrasensymmetrie im Beispielcorpus wird vor allem in KV 205/III tendenziell verletzt: Die erste Phrase wird durch den eröffnenden Oktavsprung und die darauf folgende Antizipation mit verhältnismäßig reger Bewegung inszeniert, die zweite Drei-Ton-Phrase, die die Sechzehntelnoten der ersten durch ruhige Achtelnoten ersetzt, wirkt im Vergleich beschwichtigend. Ferner wird der letzte Ton der ersten Phrase (nicht aber der zweiten) verlängert, so dass ein nahtloser Anschluss an die zweite Phrase entsteht: Die unterschiedlichen Längen der Abschlusstöne sind für ein weiteres Moment der Phrasen-Asymmetrie in diesem Beispiel verantwortlich.

Im Falle der Ilia-Arie (Beispiel 2f) wird – trotz perfekter metrisch-rhythmischer Symmetrie der zwei Phrasen – die übliche Zäsur zwischen dem 3. und dem 4. Ton der Sechs-Ton-Folge durch den ganztaktigen Phrasierungsbogen in Takt 3 überspielt. In den zwei späteren Erscheinungen des Motivs in dieser Arie (siehe Beispiel 3c) wird die Überspielung der Phrasengrenze an die Synaloiphe im Gesangstext (»patria_il riposo«) gekoppelt. Die Annahme liegt nahe, dass diese textliche Konstellation in der ›Anlage‹ der Arie auch die ungewöhnliche asymmetrische Phrasierung selbst in der rein instrumentalen Motiverscheinung im Orchestervorspiel kompositorisch bedingte.[27] Die asymmetrische Wirkung fällt hier allerdings sehr gering aus und lässt sich kaum mit dem oben besprochenen Fall von KV 205/III vergleichen.

Mit Ausnahme von KV 171/I fallen alle metrischen Akzente (bzw. Nebenakzente) auf den zweiten und den fünften Ton der sechstönigen Struktur – zugleich die beiden tonartfremden Töne der Sequenz. Erster und vierter Ton werden als Auftakte, dritter und sechster als Auflösungen behandelt. Die abweichende metrische Konstellation in KV 171/I hängt zweifelsohne mit der in Mozarts Œuvres singulären exponierten Stellung der Motivstruktur am Beginn eines Satzes (und sogar eines Werkes) zusammen. Die gleichmäßigen, moderaten rhythmischen Werte im Adagio-Tempo und das Satzbild im kräftigen Unisono verleihen der Stelle das Gepräge eines dem gesamten Satz vorangestellten ›Mottos‹; dieser Eindruck findet sich in der Wiederholung der Passage als Epilog am Satzende noch einmal bestätigt.

KV 171/I liefert auch die einzige nicht harmonisierte Erscheinung der Motivstruktur im vorliegenden Beispielcorpus. Durch ihre ›hieroglyphische‹ Einstimmigkeit erhält die Passage eine tonale und harmonische Ambivalenz: Die erste Drei-Ton-Phrase könnte beispielsweise auch die Tonart c-Moll artikulieren, wie es bei einer ähnlichen Figur zu Beginn des II. Satzes aus Rossinis dritter Streichersonate in der Tat der Fall ist (Beispiel 4). Eindeutig bestimmt wird die tonale Zugehörigkeit zu Es-Dur im Quartettsatz erst mit dem Sekundakkord auf der vierten Zählzeit von Takt 3.[28]

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Beispiel 4: Gioachino Rossini, 3. Streichersonate in C-Dur, II. Satz, Andante, T. 1–2

Mit Ausnahme von KV 171/I und KV 168/I liegt allen Motiverscheinungen ein identisches harmonisches Modell zugrunde: das Pendel Tonika-Subdominante-Tonika.[29] Pendelharmonik mit der Subdominante als Wechselklang ist in Mozarts Instrumentalwerk eine recht übliche Strategie für die Gestaltung der zweiten oder dritten Phrase eines Themas, tritt aber direkt am Satzbeginn deutlich seltener in Erscheinung: Das einzige Beispiel hierfür aus dem vorliegenden Beispielcorpus stellt der Anfang von KV 203/VI dar.[30]

Die konkreten harmonischen Realisierungen des subdominantischen Pendels begegnen im Beispielcorpus in einigen voneinander abweichenden Varianten. Dem ersten Ton der Figur liegt in der Regel ein tonikaler Klang in Grundstellung zugrunde; die Töne zwei bis vier werden von einem subdominantischen Klang getragen (in der ›Bildnisarie‹ wird die Subdominante durch die Einführung des erniedrigten 7. Skalentons des in Takt 7 sogar leicht tonikalisiert); die beiden letzten Töne artikulieren wiederum die Tonika. Hier begegnen einige leichte Differenzen: In KV 160/I, KV 203/VI, KV 205/III und in der Ilia-Arie (in allen drei Instanzen) endet das harmonische Modell mit der Tonika in Grundstellung, in KV 550/II (erste und dritte Erscheinungsform) und in der ›Bildnisarie‹ hingegen mit dem Tonikaklang in Sextakkord-Stellung.[31]

Die Instanzen der Motivstruktur in den drei Sätzen KV 160/I, KV 205/III und KV 203/VI unterscheiden sich insofern von den übrigen Fällen, als in ihnen dem gesamten Pendelmodell ein tonikaler Orgelpunkt unterliegt. Diese harmonische Lösung geht mit einer gewissen Schwächung der subdominantischen Stufe des Pendelmodells einher. Zum einen verstärkt der tonikale Orgelpunkt den Eindruck, als fungiere das gesamte Pendelmodell lediglich als Tonika-Verlängerung, Zum anderen knüpft das Modell an andere harmonische Modelle an, deren Bestimmungsmoment die Abfolge verschiedener Klänge über tonikalem Orgelpunkt und nicht eben die Artikulation der Subdominante ist. Ein Beispiel für eine solche Orgelpunkt-Auskomponierung liefert der Anfang der Sinfonie KV 76 (42a) in F-Dur (Beispiel 5): Die symmetrische metrische und motivische Anlage des eröffnenden Viertakters scheint zunächst einen zweitaktigen harmonischen Rhythmus zu suggerieren; die Stufenfolge I–IV erklingt tatsächlich, indes führt Takt 4 zur V. Stufe (weiterhin über dem tonikalen Orgelpunkt) und konterkariert damit die Erwartung, das subdominantische Pendel-Modell werde sich erfüllen.

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Beispiel 5: W.A. Mozart, Sinfonie KV 76 (42a) F-Dur, I. Satz, Allegro maestoso, T. 1–5

Wie bereits erwähnt bildet die Harmonik der Fälle KV 171/I und KV 168/I insofern eine Ausnahme, als sie nicht dem Pendelmodell folgt: in KV 171/I, weil das Motiv unharmonisiert auftritt; in KV 168/I aufgrund der Einbindung des Motivs in einen breiteren harmonischen und thematischen Kontext. Im Unterschied zu den anderen sieben Fällen erhält die sechstönige Struktur in KV 168/I kaum Eigengewicht: Die zwei Drei-Ton-Phrasen heben sich rhythmisch und diastematisch kaum von den umgebenden Figuren ab; ferner ist der Ansatz des Motivs an keinen harmonischen Neubeginn gekoppelt: Die sechstönige Wendung wird vielmehr mitten in eine größere tektonische Einheit zwischen einen Trugschluss und einen kadenzierenden Quartsextakkord ›gezwängt‹ und büsst dadurch ihre harmonische Eigenständigkeit ein.

Fassen wir nun die aus der vorangehenden Diskussion gewonnenen analytischen Einsichten im Hinblick auf die Frage der Tonartenspezifik und der möglichen Anbindung an die Tonart Es-Dur zusammen:

Eine buchstäbliche melodische Wiedergabe der sechstönigen Motivstruktur wird vor allem in den nicht in Es-Dur stehenden Instanzen KV 203/VI (G-Dur) und KV 205/III (A-Dur) leicht beeinträchtigt, und zwar durch die Verwendung von Antizipationen. Auch die Ilia-Arie (Es-Dur) verwendet ähnliche Antizipationen, dies allerdings nicht bei der primären Erscheinungsform der Motivstruktur im Orchestervorspiel. Eine gravierendere Verletzung des ›Buchstäblichkeitsprinzips‹ bildet indes der Oktavsprung in KV 205/III, der den ersten Ton der Motivstruktur ›diminuiert‹.

Das Moment der Symmetrie zwischen den zwei Drei-Ton-Phrasen wird in KV 205/III (A-Dur) durch rhythmische Abweichungen und die Verlängerung des Schlusstones der ersten Phrase deutlich tangiert. Eine minimale, wohl auf die textliche Synaloiphe zurückzuführende Beeinträchtigung der Symmetrie ist auch in der Ilia-Arie (in allen drei Motiverscheinungen) zu bemerken (Es-Dur).

Von der metrischen Gestaltung und der formalen Position her bildet KV 171/I (Es-Dur) einen Fall für sich, da beide Drei-Ton-Phrasen auf starken Zählzeiten beginnen und das Motiv als Ganzes direkt am Satzbeginn steht. Die zwei Motiverscheinungen in KV 171/I sind darüber hinaus die einzigen Vertreter des festlichen ›Adagio-Topos’‹ innerhalb der Achter-Gruppe.[32]

Eine genaue Analyse der Harmonisierungsnuancen ermöglicht ferner die folgende Rubrizierung (die genannten Tonarten beziehen sich auf die jeweiligen primären Motiverscheinungen, vgl. Beispiel 2):

  • Pendelharmonik mit stark artikulierter Subdominante: Ilia-Arie, KV 550/II und ›Bildnisarie‹ (alle drei in Es-Dur)

  • Pendelharmonik mit unterliegendem Tonika-Orgelpunkt: KV 160/I (B-Dur), KV 205/III (A-Dur) und KV 203/VI (G-Dur)

  • Harmonische Einbindung in einen größeren Zusammenhang: KV 168/I (C-Dur)

  • Keine Harmonisierung: KV 171/I (Es-Dur)

Bezieht man diese verschiedenartigen satztechnischen Beobachtungen aufeinander, lassen sich einige der nicht in Es-Dur stehenden Instanzen der Achter-Gruppe als weniger ausgeprägte Realisierungen der sechstönigen Motivstruktur bewerten; gleichzeitig tritt der besonders enge Zusammenhang zwischen dreien der vier Fälle in Es-Dur hervor. Nimmt man das Moment der Symmetrie der beiden Phrasen als maßgeblich, so fällt KV 205/III (A-Dur) besonders aus dem Rahmen, wobei diese Instanz bereits durch den vorangehenden Oktavsprung als ›verziert‹ gelten kann. Dient die Ausgeprägtheit der satztechnischen Inszenierung der sechstönigen Motivstruktur als Kriterium, so wäre die strukturell ›unterdrückte‹ Instanz in KV 168/I (C-Dur) am ehesten aus der Achter-Gruppe auszugliedern. Schränkte man die typologische Definition der Gruppe durch die zusätzliche harmonische Vorgabe ›Pendelharmonik mit stark artikulierter Subdominante‹ ein, wäre es möglich, eine reine Es-Dur-Dreiergruppe zu erzielen – dies allerdings unter Ausschluss des ebenfalls in Es-Dur stehenden unharmonisierten ›Sonderfalls‹ von KV 171/I.

Diese Dreier-Gruppe – KV 366/Nr. 11, KV 550/II und KV 620/Nr. 3 –, bestehend aus zwei Opernarien und einem langsamen Sinfoniesatz mit insgesamt sieben Motiverscheinungen in Es-Dur, bildet gewissermaßen das ›Herz‹ der Achter-Gruppe: Nicht nur erfüllen die Instanzen dieser drei Sätze alle Anforderungen an Symmetrie, Genauigkeit der Motivwiedergabe und Ausgeprägtheit der subdominantischen Pendelharmonik, sie gehören auch jeweils dem gesanglichen, ausdrucksvollen ›Andante-Topos‹ an.[33]

Sondierung des typologischen Umfelds

Nachdem die einzelnen Mitglieder der Achter-Gruppe aus verschiedenen satztechnischen Perspektiven beleuchtet worden sind und aus der Sicht verschiedener typologischer sowie topologischer Überlegungen eine besonders starke Affinität unter dreien der vier primären Es-Dur-Motiverscheinungen gezeigt werden konnte, erwächst nun die Frage nach verwandten Beispielen außerhalb dieser Gruppe – die Frage mithin nach dem typologischen Umfeld. Es gilt, den Ausschluss weiterer potentieller Mitglieder aus der Achter-Gruppe analytisch zu untermauern, um die behauptete ›Hegemonie‹ der Tonart Es-Dur innerhalb der Gruppe abermals zu befestigen.

Die sechstönige Motivstruktur lässt sich folgendermaßen in strukturelle Ebenen zerlegen:

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Beispiel 6: Strukturelle Ebenen der sechstönigen Motivstruktur

Der erste und der vierte Ton bilden eine Art virtuellen ›überhängenden‹ Liegeton: Ihre (suggerierte) klangliche Kontinuität schafft – zumindest vorübergehend – eine eigene ›Ponte‹-Ebene. Die Töne Nr. 3 und 6 sind als Strukturtöne der Melodie anzusehen und beschreiben mit den jeweiligen chromatischen Nebentoneinstellungen (Nr. 2 und 5) eine um einen Ganzton absteigende ›Fonte‹-Sequenz vom sechsten zum fünften Skalenton.[34]

Die Inszenierung eines melodischen Abstiegs vom sechsten zum fünften Skalenton mittels zweier sequenzierter Phrasen bildet eine sehr gebräuchliche Vokabel in der musikalischen Sprache der Wiener Klassik. Das melodische Verfahren ist bereits unter Mozarts ersten kompositorischen Versuchen vertreten, beispielsweise im ersten Satz des Klaviertrios KV 12 von 1764 (Beispiel 7a). Hier ist das Modell auch an jene Pendelharmonik gekoppelt, die sich in sechs der acht Fälle der ›Kerngruppe‹ manifestiert. Diese Anbindung der melodischen Sequenz an eine subdominantische Pendelharmonik scheint indes auch im typologischen Umfeld der Achter-Gruppe die Regel zu sein.

Nimmt man die Artikulation eines melodischen Abstiegs vom sechsten zum fünften Skalenton mittels zweier sequenzierender Phrasen als zentrales Bestimmungsmoment des typologischen Umfelds, finden sich in Mozarts Werken zahlreiche Instanzen, die mit den Mitgliedern der Achter-Gruppe verwandt sind und sich gleichzeitig von ihnen durch verschiedene Merkmale absetzen. Die diversen Möglichkeiten der satztechnischen Abweichungen von der ›buchstäblichen‹ Realisierung der Motivstruktur, wie sie in der Achter-Gruppe begegnet, lassen sich unter folgenden Punkten subsumieren:

Vollständiger oder teilweiser Wegfall des überhängenden tonikalen Liegetons.

Wegfall der chromatischen Nebentoneinstellungen (Töne 2 und 5 der Sechs-Ton-Folge) bzw. deren Ersetzung durch andersartige Nebentoneinstellungen.

Hinzufügung von Tönen/Figuren zwischen die Töne der Sechs-Ton-Folge.

Verletzung der Symmetrie zwischen den beiden Drei-Ton-Phrasen (eine Beeinträchtigung der Symmetrie geht in der Regel mit einer oder mehreren der oben genannten Abweichungen einher).

Angesichts der Fülle an Beispielen, die dieser erweiterten Definition entsprechen, wird im Folgenden zwischen einem weiteren und einem engeren Kreis von Instanzen um die Achter-Gruppe differenziert. Während für die diversen Arten der weitgreifenden satztechnischen Abweichungen lediglich repräsentative Beispiele herangezogen werden, wird auf den ›inneren Kreis‹, also auf die Instanzen, welche den Mitgliedern der Achter-Gruppe besonders nahe stehen, genauer eingegangen.

Beispiel 7: Ausgewählte Instanzen aus dem erweiterten typologischen Umfeld um die ›Kerngruppe‹

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Beispiel 7a: W.A. Mozart, Sonate für Klavier, Violine (oder Flöte) und Violoncello in A-Dur KV 12, I. Satz, Andante, T. 5–8

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Beispiel 7b: W.A. Mozart, La clemenza di Tito, Opera seria in due atti KV 621 Nr. 2, Allegro-Teil, T. 66–70

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Beispiel 7c: W.A. Mozart, Klaviersonate G-Dur KV 283 (189h), I. Satz, Allegro, T. 1–6

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Beispiel 7d: W.A. Mozart, Violinsonate G-Dur KV 379 (372a), I. Satz, Adagio, T. 10–14

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Beispiel 7e: W.A. Mozart, Klavierstück (Andante?) Es-Dur aus dem Londoner Skizzenbuch KV 15kk, T. 1–5

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Beispiel 7f: W.A. Mozart, Il sogno di Scipione, Azione teatrale KV 126 Nr. 9, Mittelteil (Andante), T. 139–143

Ein Wegfall des tonikalen Liegetons kennzeichnet beispielsweise eine Passage aus der Arie der Vitellia, Nr. 2 aus La clemenza di Tito (Beispiel 7b). Die beiden chromatischen Nebentöne und die exakte Symmetrie der Phrasen sind in diesem G-Dur-Beispiel bewahrt, allerdings ersetzen zwei dreitönige Auftaktfiguren den aus der Achter-Gruppe her bekannten Tonika-Auftakt. Mit dieser Abweichung in der Melodie geht ferner eine grundsätzliche harmonische Umstellung einher: Die Passage artikuliert kein subdominantisches Pendel, sondern die Stufenfolge IV-(ii)-V im Rahmen einer Kadenzprogression.

Die Takte 5–6 (mit Auftakt) aus dem ersten Satz der G-Dur-Klaviersonate KV 283 (189h) (Beispiel 7c) exemplifizieren ein subdominantisches Pendelmodell und enthalten ferner die überhängende tonikale ›Klammer‹ (Töne 1 und 4 der Sechs-Ton-Folge). Die Abweichungen gegenüber der ursprünglichen Motivstruktur beziehen sich auf das Ersetzen der chromatischen Aufwärts-Nebentoneinstellungen (Töne 2 und 5 der Folge) durch diatonische Abwärts-Appoggiaturen sowie die Hinzufügung mehrerer Antizipationen (wobei die Verwendung von Antizipationen auch unter den Instanzen der Achter-Gruppe gelegentlich in Erscheinung tritt). Die unterschiedlichen Arten der Nebentoneinstellungen bewirken einen deutlichen Charakterwandel: Während die aufsteigenden chromatischen Schritte der sechstönigen Motivstruktur als weiche Seufzer anmuten, wirken die diatonischen Nebentoneinstellungen hart und ›forsch‹.

Mit den Mitgliedern der Achter-Gruppe deutlich näher verwandt sind Instanzen, bei denen die oben besprochenen Abweichungsarten lediglich bei einer der zwei Drei-Ton-Phrasen greifen. Im bereits besprochenen frühen Fall KV 12/I (Beispiel 7a) entfällt beispielsweise der erste Ton der Sechs-Ton-Folge; im ersten Satz der Violinsonate KV 379 (372a) hingegen die zweite chromatische Nebentoneinstellung (Beispiel 7d). In diesen beiden Fällen wird die sechstönige Motivstruktur zwar deutlich angesprochen, indes stellen die Demontage der überhängenden ›Klammer‹ im erstgenannten Beispiel und der Wegfall des zweiten chromatischen Seufzers im zweiten eine entscheidende Abweichung gegenüber der ursprünglichen Motivstruktur dar. Zudem entfernen sich beide Fälle zusehends von einer idealtypischen symmetrischen Gestaltung der beiden Drei-Ton-Phrasen, wie sie von den Instanzen der Achter-Gruppe weitgehend eingehalten wird.

In diesem Zusammenhang ließe sich auch die erste Es-Dur-Instanz des typologischen Umfelds – der Andante(?)-Satz KV 15kk aus dem Londoner Skizzenbuch – heranziehen (Beispiel 7e).[35] Abgesehen vom Umstand, dass sie in Es-Dur steht, weist diese Instanz keine größere Nähe zu den Mitgliedern der Kerngruppe auf als etwa das zeitnah entstandene Klaviertrio KV 12 (Beispiel 7a): Neben dem Wegfall der ersten chromatischen Nebentoneinstellung – und damit auch des verminderten Quartsprungs und des ersten ›Seufzers‹ – wird der charakteristische Sprung der verminderten Quint zwischen 4. und 5. Ton der Motivstruktur durch den vermittelnden Ton c ›aufgeweicht‹.

Die Fälle, in denen alle sechs Töne der Motivstruktur ohne Auslassungen erscheinen, sind verhältnismäßig rar. Diese Vollständigkeit allein bürgt aber noch nicht für eine durchgreifende typologische Übereinstimmung mit den Instanzen der Achter-Gruppe. Im langsamen Mittelteil der Arie der ›Beständigkeit‹ (›Costanza‹), Nr. 9 der Oper Il sogno di Scipione (Beispiel 7f), werden sowohl die verminderte Quarte zwischen erstem und zweitem Ton (T. 140–141) als auch die verminderte Quint der folgenden Phrase (T. 142–143) durch schrittweise Bewegung ausgefüllt. Der daraus resultierende Wegfall der beiden expressiven Sprünge der ursprünglichen Tonfolge sorgt für eine eklatante typologische Entfernung von den Instanzen der Achter-Gruppe.

Den engsten Verwandtschaftskreis um die Achter-Gruppe bilden fünf Instanzen, bei denen sämtliche sechs Töne der Motivstruktur erscheinen und darüber hinaus mindestens einer der charakteristischen Sprünge zwischen erstem und zweitem bzw. zwischen viertem und fünftem Ton bewahrt ist. Beispiel 8a–e präsentiert diese in chronologischer Reihenfolge.[36]

Beispiel 8: Instanzen des unmittelbaren Umkreises der ›Achter-Gruppe‹

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Beispiel 8a: W.A. Mozart, Oboenquartett KV 370 (368b) F-Dur, I. Satz, Allegro, T. 8–14 (entspricht T. 105–111)

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Beispiel 8b: W.A. Mozart, Rondo für Violine und Orchester C-Dur KV 373, Allegretto grazioso, T. 40–44

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Beispiel 8b’: W.A. Mozart, Rondo für Violine und Orchester C-Dur KV 373, Allegretto grazioso, T. 44–47

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Beispiel 8c: W.A. Mozart, Violinsonate G-Dur KV 379 (372a), III. Satz, Variation V, Adagio, T. 13–16

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Beispiel 8d: W.A. Mozart, Klavierkonzert F-Dur KV 413, I. Satz, Allegro, Solisteneinsatz T. 56–62 (entspricht den Takten 235–241)

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Beispiel 8e: W.A. Mozart, Menuett KV 585 Nr. 10, T. 1–8

Im C-Dur-Rondo für Violine und Orchester KV 373 tritt die sechstönige Motivstruktur zunächst als dritte und vierte Phrase im Rahmen des ersten Solo-Einsatzes auf, d.h. an einer Position, die auch unter den fünf Instanzen des ›lyrischen‹ Andante-Topos’ aus der Achter-Gruppe die Regel darstellt (die Motiverscheinungen in diesem mit Allegretto grazioso überschriebenen Rondo sind eher dem ›Andante‹- als dem ›Allegro-Topos‹ zuzuordnen). Allerdings ist diese erste Motiverscheinung (T. 41–42 mit Auftakt, Beispiel 8b) nur bedingt mit der Achter-Gruppe verwandt, da der vierte Ton der Folge fehlt. Eine sich direkt anschließende variierte Wiederholung (T. 45–46 mit Auftakt, Beispiel 8b’) entspricht der Sechs-Ton-Folge weitaus genauer: Bis auf die aufsteigenden Tiraten-Figuren, welche beiden Drei-Ton-Phrasen vorangehen, handelt es sich um eine buchstäbliche Wiedergabe.

Sofern man die Takte 1–4 und 5–8 des Kopfsatzes aus dem Oboenquartett KV 370 (368b) als jeweils eine Phrase betrachtet, erscheint die sechstönige Motivstruktur – ähnlich wie im Violinrondo – auch in diesem Allegro-Satz an der Position der dritten und der vierten Phrase (Beispiel 8a). Die motivische Bezugnahme fällt in diesem Fall sogar buchstäblicher aus als im Falle der zweiten Motivwiederholung aus KV 373, da die beiden tonikalen Auftakte (Töne 1 und 4 der Sechs-Ton-Folge) lediglich durch lokale ›circulatio‹-Figuren und Tonrepetitionen verziert werden. An die Motiverschienung in den Takten 9–10 schließt sich unmittelbar eine zweite Variante (T. 14f.) mit ›verkehrten Verhältnissen‹ an, da der tonikale Liegeton diesmal unterhalb der chromatischen ›Seufzer‹ liegt – diese Variante ist typologisch natürlich wieder etwas abgeschwächt.

Im ›Solistenthema‹[37] aus dem Kopfsatz des Klavierkonzerts KV 413 (Beispiel 8d) entfällt sogar die umkreisende Figur aus dem Oboenquartett: Als einzige Abweichung gegenüber der ursprünglichen Sechs-Ton-Folge erweist sich die Repetition des ersten und des vierten Tons. Freilich ist dies ein besonders schwaches Unterscheidungskriterium gegenüber den Motiverscheinungen der Achter-Gruppe, beinhalten doch einige der ›buchstäblichen‹ Instanzen ebenfalls Tonrepetitionen in der Form von Antizipationen.

Im Unterschied zu dieser fast buchstäblichen Wiedergabe im Klavierkonzert liefert die Adagio-Variation (Nr. V) aus dem III. Satz der Violinsonate KV 379 (372a) einen eher abgeschwächten Verwandtschaftsgrad mit den Mitgliedern der Achter-Gruppe. Alle sechs Töne der Motivstruktur sind hier zwar vorhanden, der vierte Ton verbirgt sich allerdings in einer absteigenden Tonleiter-Figur, ein Umstand, der eine Verletzung der symmetrischen Gestaltung der beiden Drei-Ton-Phrasen bewirkt. Ferner erscheint hier die Motivstruktur an einer ungewöhnlichen formalen Position, nämlich im Rahmen der Schlusskadenz der gesamten Variation, einer Position, die etwa gegenüber der ›Fortspinnungsfunktion‹, wie sie von den Instanzen des Andante-Topos’ her bekannt ist, eine signifikante Abweichung darstellt.

Ungewöhnliche formale Position und Charakter kennzeichnen schließlich die Erscheinungsform im Es-Dur-Menuett (Nr. 10) aus der Tanzreihe KV 585 (Beispiel 8e). Hier steht die sechstönige Motivstruktur direkt zu Beginn des Tanzes und ist im Unterschied zu den meisten Instanzen der Kerngruppe und des typologischen Umfelds nicht an einen cantabile-Topos gekoppelt, sondern erfährt vielmehr eine geradezu martialische Gestaltung mit Pauken und Trompeten. Ähnlich den Erscheinungsformen im Oboenquartett und im Klavierkonzert KV 413 werden die ersten Töne der beiden Drei-Ton-Phrasen rhythmisch aufgelöst, doch im Unterschied zum anmutigen ›Doppelauftakt‹ der erstgenannten Beispiele werden diese Töne in KV 585/Nr. 10 durch gestochene Punktierungen artikuliert.

Unter den ausgewählten Beispielen aus dem erweiterten typologischen Umfeld (siehe Beispiel 7) sowie den zuletzt besprochenen fünf mit der ursprünglichen Motivstruktur besonders eng verwandten Instanzen (Beispiel 8) stehen nur zwei Fälle, KV 15kk und KV 585/Nr. 10, in Es-Dur. Inwiefern gefährdet nun diese Corpuserweiterung die Hegemonie der Tonart Es-Dur unter den Instantiierungen der untersuchten melodischen Struktur? Die Antwort auf diese Frage hängt schließlich von der jeweiligen Eignung der zusätzlichen Instanzen ab, in die Achter-Gruppe aufgenommen zu werden (eine Maßnahme, welche diese Gruppe natürlich entsprechend erweitern würde). Es genügt hier, nur den engsten Verwandtschaftskreis zu berücksichtigen.

Der Fall KV 379/III (Beispiel 8c) scheidet durch die beeinträchtigte Phrasensymmetrie sowie durch die abweichende formale Position der Motivstruktur aus der Diskussion aus. Die zweite Motiverscheinung in KV 373 (Beispiel 8b’) ist zwar recht eng mit der zugrundeliegenden Sechs-Ton-Folge verwandt, doch schon die Tatsache, dass die buchstäblichere der zwei dicht aufeinander folgenden Instanzen an zweiter Stelle steht und somit als eine Variante der weniger genauen ersten gehört wird, schafft eine typologische Entfernung zu den Instanzen der Achter-Gruppe.

Die satztechnische Übereinstimmung der Instanzen aus KV 370/I, KV 413/I und KV 585/Nr. 10 mit den Mitgliedern der Kerngruppe lässt sich indes nicht von der Hand weisen. In den drei Fällen werden fast alle Merkmale der Achter-Gruppe eingehalten: Alle sechs Töne der Folge sind vorhanden, ebenfalls die Teilung in zwei symmetrische Phrasen. Ungeachtet der lebendigen Tempi werden die Töne der Motivstruktur durch verhältnismäßig gediegene Notenwerte wiedergegeben (Viertelnoten in KV 413/I, eine Kombination von Halbe- und Achtelnoten in KV 370/I sowie Halbe-, Viertelnoten und punktierten Rhythmen in KV 585/Nr. 10), wodurch die jeweiligen Figuren mehr Gewicht erhalten als etwa bei den durch vorüberrauschende Achtel-Bewegung gekennzeichneten Allegro-Instanzen aus KV 160/I und KV 168/I.[38] In KV 370/I und in KV 585/Nr. 10 liegt der Motivstruktur sogar ein ausgeprägtes subdominantisches Pendelmodell, in KV 413/I allerdings lediglich die etwas abgeschwächte Pendelharmonik mit unterliegendem Tonika-Orgelpunkt zugrunde.[39]

Als einzige aus dem typologischen Umfeld scheinen sich die Fälle KV 370/I, KV 413/I und KV 585/Nr. 10 für eine Aufnahme in die Achter-Gruppe (vgl. Tabelle 1) zu empfehlen, bestehen doch ihre Abweichungen gegenüber der ursprünglichen Modelldefinition lediglich in der Einführung von Tonrepetitionen.[40] Dies würde die statistische Vorherrschaft der Es-Dur-Instanzen zwar etwas schwächen, die tendenzielle Anbindung an die Tonart Es-Dur bliebe aber selbst innerhalb dieser erweiterten Gruppe bemerkenswert genug. Es ist möglicherweise auch kein Zufall, dass unter diesen neuen Fällen die beiden in F-Dur stehenden eine sehr ähnliche Behandlung der Motivstruktur aufweisen, indem sie die Auftakttöne (Töne 1 und 4 der Tonfolge) jeweils in zwei ›elegante‹ Achtel auflösen: Liegt hier etwa ein zusätzlicher, mit nur zwei Instanzen ausgestatteter Fall einer Korrelation zwischen Tonart und (im Bezug auf die ursprüngliche Sechs-Ton-Folge nur leicht variierter) Motivstruktur vor?[41]

Durch die Erörterung des typologischen Umfelds wird ein wichtiger Umstand deutlich: Die Beschränkung der Achter-Gruppe auf ›buchstäbliche‹ Wiedergaben der Motivstruktur spielt keine lediglich zweitrangige Rolle in der Etablierung der tonartlichen Anbindung an Es-Dur. Die kleinste satztechnische Lizenz genügte, um das typologische Feld dergestalt zu erweitern, dass jegliche mutmaßliche Vorherrschaft dieser oder jener Tonart in der Beispielmenge unterginge. Betrachtet man die sechstönige Motivstruktur als ein variables, grundlegendes ›Schema‹, so scheint letzteres in Mozarts Werken viel zu verbreitet zu sein, um in einer exklusiven Kombination mit nur einer bestimmten Tonart aufzutreten. Die Buchstäblichkeit bzw. das ›Nicht-Verziert-Sein‹ der Instanzen der Achter-Gruppe im Hinblick auf die zugrunde liegende Sechs-Ton-Folge ist somit ein zentrales Bestimmungsmoment, welches die Postulierung einer tonartlichen Anbindung an Es-Dur erst ermöglicht.

Dieser bemerkenswerte Umstand lädt zu einem eingehenden Nachdenken über Mozarts Auffassung des melodischen Phänomens ein. Vorausgesetzt, dass die Häufung ›buchstäblicher‹ Instanzen in Es-Dur innerhalb der Achter-Gruppe mehr als einen glücklichen Zufall darstellt, bedeutet sie, dass Mozart eine Vorstellung von einem typischen Es-Dur-Motiv gehabt haben muss (die Frage, wie eine solche schaffenspsychologische ›Fixierung‹ zustande gekommen sein könnte, wird gegen Ende dieses Texts aufgeworfen). Diese Vorstellung dürfte indes an ein sehr eng definiertes melodisches Modell gebunden sein, da sich die tonartliche Bindung bereits bei minimaler Modifikation der Modelldefinition praktisch auflöst.

Vermitteln die Diminutions- und Verzierungslehren der Zeit – die auch Mozarts musikalische Ausbildung nachweislich mitgeprägt haben[42] – einen Modellbegriff, der verschiedene Melodievarianten als grundsätzlich austauschbare Erscheinungsformen ein und desselben melodischen Schemas behandelt, scheint die exakte Gestalt einer Melodie, ihre irreduzible Oberfläche, für Mozarts kompositorisches Denken zumindest streckenweise maßgeblich gewesen zu sein. Eine bestimmte melodische Realisierung dürfte ihm ebenso als eine unverwechselbare Entität gegolten haben (die als solche auch eine konkrete tonartliche Bindung eingehen konnte) wie ihre Variante: Beide waren als eigenständige, separate Einheiten zu behalten und zu verwenden.

Die Sondierung des typologischen Umfelds dürfte nicht als abgeschlossen gelten, bevor man eine besondere Abwandlung der sechstönigen Struktur aus dem Haydn gewidmeten Streichquartett KV 428 in Es-Dur zur Betrachtung heranzieht. Der Themenkopf des I. Satzes des Quartetts (Beispiel 9) erfüllt zwar keines der hier genannten Bestimmungsmomente der sechstönigen Motivstruktur. Bei genauem Hinsehen stellt er sich allerdings als ein Derivat dieser Struktur heraus, wobei die Reihenfolge der sechs Töne durch einfache Permutation und die Oktavlage des ersten Tons durch Transposition modifiziert werden. Die Unisono-Eröffnung von KV 171/I – eines Werkes derselben Gattung und in derselben Tonart – dürfte als ein typologisches Verbindungsglied zwischen diesem singulären Thema (man bedenke den eklatanten Sprung der verminderten Quint zwischen zweitem und drittem Ton) und den Instanzen der Achter-Gruppe angesehen werden. Wie ein Vergleich zwischen der Motiverscheinung in KV 171/I, Takte 1–2, und der unmittelbar anschließenden Variante in den Takten 5–6 (vgl. Beispiel 2d) aufzeigt, verwendet Mozart das ›Permutationsprinzip‹ auch bereits innerhalb der Adagio-Einleitung des früheren Quartetts.

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Beispiel 9: W.A. Mozart, Streichquartett Es-Dur KV 428, I. Satz, Allegro non troppo, T. 1–4

Zur Chronologie der Werke der Achter-Gruppe

Ein weiteres bemerkenswertes Charakteristikum der Mitglieder der Achter-Gruppe stellt die beachtliche Zeitspanne dar, welche die diversen Erscheinungen der sechstönigen Motivstruktur einschließt. Zwischen dem auf der dritten Italienreise 1772–73 komponierten Streichquartett KV 160 und der Zauberflöte vergehen ca. 19 Jahre – etwa zwei Drittel von Mozarts Schaffenszeit. Selbst wenn man nur die primären Motiverscheinungen in Es-Dur beachtet, deren erste dem Quartett KV 171 vom August 1773 entstammt, verringert sich dieser Zeitraum lediglich um wenige Monate.

Für einen Versuch, die kompositorische Entfaltung der sechstönigen Motivstruktur in Mozarts Werk und darüber hinaus die Geschichte der Anbindung dieser Motivstruktur an die Tonart Es-Dur nachzuzeichnen, sind chronologische Fragen von entscheidender Bedeutung. Nun bereitet unglücklicherweise die genaue Datierung gerade der ersten Werke aus der Achter-Gruppe der Mozartphilologie erhebliche Schwierigkeiten: Die Datierungsangaben von KV 160 (159a) und KV 205 (173a, 167A) in Tabelle 1 sind teilweise ungenau, teilweise gar hypothetisch. Die folgenden chronologischen Überlegungen haben nicht zum Ziel, bewährte Datierungsmethoden (wie etwa Wolfgang Plaths Schriftchronologie) in Frage zu stellen. Es wird lediglich versucht, innerhalb des von der Philologie abgesteckten Rahmens weiterführende, auf musikalischer Analyse basierende Hypothesen aufzustellen.[43]

Auf die Andersartigkeit der beiden Erscheinungen der sechstönigen Motivstruktur in den ersten Sätzen der Streichquartette KV 160 und KV 168 ist oben bereits verwiesen worden. Diesen eher lapidaren Spielfiguren aus dem Nebentonart-Bereich der jeweiligen Kopfsätze scheint ein grundsätzlich anderer Topos zugrunde zu liegen als den übrigen sechs Fällen der Gruppe, die langsamen Sätzen (bzw. Formteilen) entnommen sind. Das Auftreten in zwei zeitnah aufeinander folgenden Sammlungen von je sechs Quartetten legt eine vorübergehende kompositorische Praxis nahe, die sich mit der Verwendung dieser Spielfiguren verbindet und anschließend aus Mozarts Schaffen wieder verschwindet.[44]

Zweifelsfrei stellt das während der dritten Italienreise entstandene Streichquartett KV 160 das früheste Werk der Achter-Gruppe dar. Wie es um die Reihenfolge der beiden Quartette aus dem nächsten Zyklus, KV 168 und KV 171, bestellt ist, bleibt unklar: Alles deutet darauf hin, dass Leopold die Reihenfolge des gesamten Opus (nachträglich) bestimmte und die Quartette mit Datierungs- und Ortsangaben versah.[45] Für die hier unternommenen Unterscheidung zwischen ›schnellem‹ und ›langsamem‹ Topos ist die chronologische Reihenfolge der beiden Werke innerhalb der Achter-Gruppe allerdings nicht von Belang: Ein Ausklingen des ›Allegro-Topos’‹ mit der Motiverscheinung in KV 168/I wäre durchaus auch zu einem Zeitpunkt vorstellbar, nachdem sich der langsame Topos mit KV 171/I bereits installiert hatte.

Eine größere Schwierigkeit für die Geschichte der sechstönigen Motivstruktur verbindet sich indes mit der Entstehungsreihenfolge von KV 171 und KV 205 (173a, 167A). Mit dem markanten Einsatz der Unisono-Figur von KV 171/I wird eine grundsätzlich neue Dimension der Sechs-Ton-Folge eröffnet, die perspektivisch von weitaus größerer Bedeutung für Mozarts Schaffen ist als jene frühen ›lapidaren‹ Instanzen des Allegro-Topos’ in KV 160 und KV 168. Mit dieser ›festlichen‹ Quartetteröffnung scheint nicht nur der langsame Topos, sondern gleichzeitig auch die Tonart Es-Dur als die ›eigentliche‹ Tonart dieser Motivstruktur in Mozarts Werk Einzug gefunden zu haben.

Der philologische Befund scheint allerdings dieser aus analytischer Sicht plausibel erscheinenden Chronologie zunächst zu widersprechen: Wie der Datierungsspalte der Tabelle 1 zu entnehmen ist, geht die A-Dur-Erscheinung der Motivstruktur in KV 205/III der ersten Es-Dur-Instanz voran. Dieser Befund stellt zwar kaum die statistische Vorherrschaft der Tonart Es-Dur innerhalb der Achter-Gruppe in Frage, hat aber Folgen für die Darstellung des Prozesses, durch den die sechstönige Motivstruktur zu ihrer lang anhaltenden Bindung an die Tonart Es-Dur gelangt sein könnte. Der philologisch gestützten Chronologie zufolge käme der langsame sechstönige Topos nicht erstmalig mit dem markanten Anfang von KV 171 zustande, sondern würde gleichsam zögerlich erst über die typologisch abgeschwächte A-Dur-Variante in KV 205/III erreicht:[46] Somit wird aber um Einiges unklarer, warum sich das Motiv später mit solcher Beharrlichkeit an die Tonart Es-Dur bindet. Einige teilweise spekulative Überlegungen in Kauf nehmend, kann allerdings plausibel gemacht werden, dass die kompositorische bzw. konzeptionelle Arbeit an KV 171/I der Entstehung von KV 205 vorangegangen sein könnte.[47]

Die undatierte Partitur des Divertimentos KV 205 (173a, 167A) dürfte einer hypothetischen, auf der Schriftchronologie Mozarts basierenden Einschätzung Wolfgang Plaths zufolge im Juli 1773 in Salzburg (d.h. direkt vor Leopolds und Wolfgangs Aufbruch nach Wien am 14. Juli) entstanden sein. Wie aus den Datierungs- und Ortsangaben Leopolds hervorgeht, sind die sechs Quartette KV 168–173 aber erst in Wien im August (oder teilweise etwas später) entstanden bzw. komplettiert worden.

Während die Vervollständigung von KV 171 höchstwahrscheinlich nach der Fertigstellung von KV 205 erfolgt ist, ist es aus philologischer Sicht dennoch nicht ausgeschlossen, dass die Genese des Streichquartetts eine längere Geschichte hat, in der die kompositorische ›zündende Idee‹ der Quartetteröffnung dem langsamen Divertimento-Satz voranging. Das Divertimento scheint »in großer Eile« geschrieben zu sein[48], was für eine Gelegenheitskomposition keine Ausnahme darstellt. Plaths hypothetische Ortsangabe ›Salzburg‹ hängt wohl mit der (nicht abgesicherten) Annahme zusammen, das Werk sei für den Namenstag Maria Anna Elisabeth von Antretter, der kurz nach Abreise der Mozarts nach Wien – also in deren Abwesenheit – gefeiert werden sollte, bestimmt (in diesem Fall ließe sich die Eile dadurch erklären, dass das Werk wohl während der Reisevorbereitungen entstanden sein müsste). Die eben kurz darauf in Wien vervollständigten und zum überwiegenden Teil mit der Angabe August 1773 datierten sechs Quartette sind »mit ruhiger Hand« – so Plath – ausgeführt. Allerdings müsse man annehmen, es handele sich dabei um »ein letztes Arbeitsstadium«, dem die Arbeit »mit ausführlichen Skizzen und Konzeptblättern«[49] vorausgegangen sei.

Das Ziel der Wiener Reise im Sommer 1773 bleibt im Dunkel, allerdings legt die konzentrierte Vervollständigung der sechs Quartette KV 168–173 innerhalb kurzer Zeit die Vermutung nahe, die Vorstellung dieser Werke in Wien habe einen Schwerpunkt dieser Reise dargestellt. Doch gerade die Planmäßigkeit der Arbeit an den Quartetten – einer Gattung, die Mozart in der Regel besondere Mühe bereitete[50] – macht es recht wahrscheinlich, dass die mutmaßlichen Skizzen und Entwürfe zu den sechs Quartetten vom Sommer 1774 nicht etwa auf den Aufenthalt in Wien, sondern vielmehr auf die vorangegangenen vier Monate in Salzburg zurückgehen dürften. Diese längere Beschäftigung mit dem ›Quartettopus‹ würde aber bedeuten, dass etwaige kompositorische Vorarbeiten zu KV 171 der Komposition des Divertimentos KV 205 (173a, 167A) tatsächlich vorangegangen sein müssten.

Geht man von dieser hypothetischen, philologisch zumindest nicht auszuschließenden Reihenfolge aus, wäre die erstmalige Erscheinung des langsamen sechstönigen Topos’ im Mozartschen Werk in einer etwa zwischen März und Juli 1774 entworfenen Gestalt der langsamen Einleitung zum I. Satz des Streichquartetts KV 171 zu vermuten. Diese mutmaßliche erste Erscheinung steht – passend zu unserem Narrativ – in Es-Dur. Das zeitnahe – nach dieser hypothetischen Darstellung jedoch spätere – Auftreten im A-Dur-Divertimentosatz KV 205/III bringt eine neue Stufe in der Entwicklung des Topos’ mit sich: Das Motiv wird aus seiner isolierten Stellung am Satzbeginn gelöst und in eine galante, ›gefällige‹ Melodie integriert, wobei die ursprüngliche, singuläre metrische Konstellation in der Adagio-Einleitung von KV 171/I zugunsten des gebräuchlicheren Auftakt-Vorhalt-Auflösung-Schemas aufgegeben wird. Der etwa ein Jahr später entstandene, in G-Dur stehende Serenadensatz KV 203/VI repräsentiert mehr oder weniger eine gleiche Etappe in der Geschichte des Motivs. Erst mit der etwa sieben Jahre später entstandenen Arie aus Idomeneo findet Mozart zu einer Synthese zwischen der (mutmaßlich) ursprünglichen Tonart Es-Dur in KV 171 und der ›galanten‹ Inszenierung der sechstönigen Motivstruktur in KV 205/III und KV 203/VI. Diese Synthese sollte nun im wiederum etwa sieben Jahre später entstandenen langsamen Satz der Sinfonie KV 550 und schließlich auch in der ›Bildnisarie‹ aus Mozarts letztem Lebensjahr beibehalten werden.[51]

Aus dieser (freilich auf der hypothetischen Datierung der Kompositionsarbeit an KV 171 beruhenden) Perspektive scheint die Anbindung der vorliegenden Motivstruktur an die Tonart Es-Dur wahrhaftig eine anhaltende Größe in Mozarts Schaffen darzustellen, die ihre ›Initialzündung‹ in jener auffallenden Quartetteröffnung hat. Darüber hinaus scheint sich aber diese Bindung von Tonart und Motiv mit der Zeit – ja sogar über mehrere Jahre hinweg – immer stärker zu verfestigen. Während die beiden ersten Instanzen des ›Allegro-Topos’‹ (KV 160/I und KV 168/I) sowie die zwei ersten lyrischen ›Andante-Instanzen‹ (KV 205/III und KV 203/VI) in einer scheinbar beliebigen Auswahl von Tonarten stehen (B-Dur, C-Dur, A-Dur und G-Dur)[52], gehören ab Idomeneo alle Motiverscheinungen im langsamen Tempo allein der Tonart Es-Dur an.

Selbst die zusätzlichen Instanzen aus dem engen typologischen Umfeld, KV 370/I, KV 413/I und KV 585/Nr. 10, die sich von den acht Mitgliedern der Kerngruppe lediglich durch eine rhythmische Auflösung der Auftakttöne unterscheiden, scheinen dem ›Sog‹ der Es-Dur-Tonart zu erliegen: Gehören die im Zeitraum nach Idomeneo entstandenen Werke – das Oboenquartett und das Klavierkonzert KV 413 – noch der Tonart F-Dur an (immerhin nur einer abweichenden Tonart), so schließt sich das Ende 1789 datierte Menuett den umgebenden Es-Dur-Instanzen aus der ›großen‹ g-Moll-Sinfonie und der Zauberflöte auch tonartlich an.

Dieser Befund deckt sich grundsätzlich mit der Schlussfolgerung einer von Steven B. Jan unternommenen Untersuchung Mozartscher Sätze und Arien in g-Moll:

On the basis of the areas of enquiry chosen […], it is clear from the summary that there is no career–wide or pervasive objective/structural characterisation of G minor in Mozart. On the other hand, it is possible to argue that the summary shows [that] increasingly towards the end of his life the composer was moving toward such a characterisation.[53]

Während Jans Studie von der Tonartidentität des untersuchten Werkcorpus ausgeht und gemeinsame satztechnische Momenten aufspürt, beschreitet die vorliegende Untersuchung den umgekehrten Weg, indem sie nach der tonartlichen Distribution innerhalb eines nach satztechnischen Prinzipien bestimmten Beispielcorpus’ fragt. Die beiden komplementären Ansätze gelangen allerdings zu einem ähnlichen Ergebnis: Mozarts Weg führt von einer eher losen Bindung zwischen Tonart und konkreten satztechnischen Elementen hin zu einer Befestigung tonartlicher und satztechnischer Zusammenhänge: Eine anfängliche ›zufällig‹ wirkende Vielfalt weicht einer engeren kompositorischen Ausrichtung einer Tonart. Will man die Instanzen der sechstönigen Motivstruktur als Stufen eines teleologischen Prozesses auffassen, so ließe sich dieser als Findung einer ›Eigentlichkeit‹ in der Beziehung zwischen Tonart und musikalischem Material verstehen. Im vorliegenden Fall scheint der ›Findungsprozess‹ gleichzeitig eine Art ›Rückkehr zum Ursprung‹ darzustellen: Klammert man die zwei frühen Instanzen des ›schnellen‹ Topos’ (KV 160/I und KV 168/I) aus und wird ferner KV 171/I unter den Instanzen des ›langsamen‹ Topos’ chronologisch an die erste Stelle gerückt (vgl. obige chronologische Überlegungen), so scheint dieser früheste Es-Dur-Fall die spätere ›Fixierung‹ auf diese Tonart vorwegzunehmen.

Zu tonartenbezogenen Aspekten in Mozarts Schaffen

Die vorangegangene Diskussion beleuchtet die Tonartenwahl in Mozarts Werken unter einem anderen Aspekt als die traditionelle, primär auf die Semantik von Opern- bzw. Liedtexten gestützte Tonartencharakteristik. Was die hier angeführten Fälle ausmacht, sind signifikante Bezüge zwischen Motivik und Tonart, mithin handfeste Merkmale des Tonsatzes. Die besprochenen Figuren können zwar durch die Art ihrer Inszenierung und Verwendung eine semantische Dimension erlangen, so dass man von ›Topoi‹ (im Unterschied zu ›satztechnischen Modellen‹) sprechen würde; indessen bleiben aber die satztechnischen Bestimmungsmomente die primären.

Der durch die Achter-Gruppe repräsentierte Ausschnitt aus Mozarts Gesamtwerk erlaubt es aufgrund seines geringen Umfanges kaum, hier mit Hypothesen über einen möglichen statistischen Stellenwert der ›Tonartenspezifik‹ in seiner Musik aufzuwarten.[54] Der Befund scheint indes bemerkenswert genug, um einige grundlegende Fragen zu verschiedenen Aspekten der Schaffensweise Mozarts aufzuwerfen. Dies betrifft vor allem den Grad, in dem das Phänomen als Mozart-spezifisch betrachtet werden könnte, sowie die mutmaßlichen schaffenspsychologischen Grundlagen der Verbindung von Tonart und Motivik.

Zu tonartbedingten satztechnischen Merkmalen in den Werken anderer Komponisten der Wiener Klassik liegt eine Anzahl von Veröffentlichungen vor.[55] Eine Berücksichtigung dieser Beiträge und vor allem ein Vergleich mit der in diesem Text aufgezeigten Art der tonartlichen Bindungen in Mozarts Musik würden allerdings den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.[56] Doch selbst wenn das Phänomen der Tonartenspezifik im Œuvre weiterer Komponisten feststellbar sein sollte, hindert dies nicht, den konkreten Fall Mozarts für sich zu betrachten und nach einer möglichen Verankerung des Phänomens in idiosynkratischen Zügen seiner Schaffensweise zu suchen. In dem oben bereits erwähnten Artikel »Motivstruktur und Tonart bei Mozart« entwirft Wilhelm Gloede 1993 – möglicherweise als erster – folgende komponistenspezifische Erklärungsstrategie:

Vermöge seines absoluten Gehörs hat Mozart seine musikalischen Einfälle zweifellos nicht in einem abstrakten Tonraum, sondern vielmehr jeweils in einer konkreten Tonart konzipiert, und auch sein Gedächtnis wird in entsprechender Weise gearbeitet haben.[57]

Angesichts Mozarts äußerst akkuraten absoluten Gehörs sowie phänomenalen musikalischen Gedächtnisses scheint es durchaus plausibel, dass eine tonartengebundene musikalische Vorstellung für die Etablierung einer anhaltenden ›komponisteneigenen‹ Verbindung zwischen Tonart und musikalischem Material verantwortlich sein könnte.[58] Diese Erklärung wird durch das Durcheinander der absoluten Tonhöhen und der Stimmungssysteme in Mozarts musikalischem Umfeld zwar herausgefordert,[59] nicht aber grundsätzlich in Frage gestellt.

In etlichen Quellen aus dem späten 18. und dem 19. Jahrhundert wird das Moment des von der Tonartenwahl abhängigen Instrumentalklangs zum Hauptverantwortlichen für eine typische Färbung bestimmter Tonarten, mithin für die Entstehung eines Tonartencharakters gemacht.[60] Inwiefern könnten nun solche klanglichen bzw. besetzungstechnischen Faktoren für die Verwendung einer konkreten Motivstruktur wie der vorliegenden Sechs-Ton-Folge maßgeblich gewesen sein? Es fällt auf, dass allen Werken der Achter-Gruppe eine Streicherbesetzung – solistisch oder orchestral – zugrundeliegt: In der Tat entfalten die Streichinstrumente zu Mozarts Zeit (und – wenngleich in einem etwas abgeschwächten Maße – auch noch heute) in Es-Dur einen charakteristischen Klang. Davon abgesehen variieren Besetzung und Tonlage der Es-Dur-Instanzen der Achter-Gruppe doch recht erheblich, etwa von der solistischen Bläserbesetzung der Ilia-Arie bis hin zu den zwei Versionen der ›großen‹ g-Moll-Sinfonie mit und ohne Klarinetten und zur flöten- und oboenlosen Bildnisarie, in der die sechstönige Motivstruktur in Tenorlage – also eine Oktave tiefer als in der Arie aus Idomeneo – erklingt (bei einer Berücksichtigung des Menuetts KV 585/Nr. 10 kämen sogar noch Trompeten und Pauken hinzu!). Aus dem Hintergrund dieser klanglichen Vielfalt scheint es eher fragwürdig, die besondere Anbindung der sechstönigen Motivstruktur an die Tonart Es-Dur primär einer typischen Es-Dur-Klanglichkeit zuschreiben zu wollen: Die oben exponierte Hypothese, welche das Phänomen mit Mozarts absolutem Gehör in Beziehung setzt, scheint demgegenüber wahrscheinlicher.

Abschließend könnte nun die Frage nach dem ›Ursprung‹ der sechstönigen Motivstruktur und ihrer Anbindung an die Tonart Es-Dur gestellt werden. Ist Mozart auf dieses Motiv – sei es in seiner schnellen Erscheinungsform in KV 160/I oder in der langsamen Variante in KV 171/I – ›von alleine‹ verfallen, oder könnte ihm dabei ein fremdes Vorbild vorgeschwebt haben?

Als der achtjährige Mozart im Frühsommer 1764 – also zu einem Zeitpunkt, da noch keines der Werke der Achter-Gruppe einmal entworfen worden war – die Bekanntschaft Johann Christian Bachs in London machte, stand dessen Sinfonie op. 3 Nr. 4 kurz vor der Veröffentlichung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Mozart das Werk, das mit Sicherheit bereits früher entstanden war, aus der Partitur, vielleicht sogar aus einer Aufführung kennen lernen durfte.[61] Beispiel 10 zeigt den Beginn des II. Satzes der Sinfonie, ›Andantino, sempre piano‹ in Es-Dur; die sechstönige Motivstruktur erscheint hier – mit den bekannten ›Iliaschen‹ Antizipationen – an der Position der 6. und der 7. Phrase (rechnet man jede Achtelpause der Melodie als eine Phrasenzäsur an):

Abbildung

Beispiel 10: Johann Christian Bach, Sinfonie B-Dur op. 3 Nr. 4, II. Satz, Andantino, sempre piano, T. 1–9

Könnte der Sinfoniesatz Bachs der Initialzünder für die sechstönige Motivstruktur in Mozarts Werken gewesen sein? Schaffenspsychologisch erscheint es plausibel, dass gerade Prägungen in jüngeren Jahren lang anhaltende Konsequenzen nach sich ziehen können: Bedenkt man die hinreichend dokumentierte gegenseitige Wertschätzung und Zuneigung, welche die zwei Komponisten verbanden, so erscheint eine bedeutende Beeinflussung Mozarts durch den Londoner Bach sogar recht wahrscheinlich. Allerdings sollte man sich vor einem voreiligen Schluss in Acht nehmen: Zwischen der Begegnung mit Bach und der ersten Erscheinung des Motivs in Mozarts Werken vergehen gut acht Jahre[62] und dann ist es zunächst die weder tonartlich noch topologisch mit Bachs Melodie verwandte Variante im Streichquartett KV 160, die Mozart gebraucht.

Angesichts des relativ hohen Anteils der Streichquartette gerade unter den frühen Mitgliedern der Achter-Gruppe stellt sich weiterhin die Frage, ob Mozarts Verwendung der sechstönigen Motivstruktur auf einen Einfluss der drei Quartett-Opera 9, 17, 20 Joseph Haydns, die er spätestens 1773 in Wien kennenlernte, zurückzuführen sei.[63] In der Tat findet sich im langsamen Satz des c-Moll-Quartetts op. 17 Nr. 4 eine geradezu wörtliche Instanz des Motivs, die obendrein in Es-Dur steht. Die Motiverscheinung in diesem mit Adagio cantabile überschriebenen Satz entspricht allerdings kaum der Adagio-Einleitung in Mozarts Streichquartett KV 171/I und ist mit ihrem lyrischen Tonfall und den (ebenfalls in Bachs Sinfoniesatz verwendeten) galanten Antizipationen mit den Mozartschen Instanzen des ›Andante-Topos’‹ viel näher verwandt (wie bereits erwähnt, umfassen die Instanzen des ›Andante-Topos’‹ auch Sätze im Adagio- und im Larghetto-Tempo).

Abbildung

Beispiel 11: Joseph Haydn, Streichquartett c-Moll op. 17 Nr. 4, III. Satz, Adagio cantabile, T. 1–10

Haydns Streichquartette spielten in Mozarts kompositorischer Entwicklung bekanntlich keine geringere Rolle als Johann Christian Bachs Sinfonien. Unter Mozarts Instanzen des Motivs findet sich zwar keine im Dreiertakt (vgl. Tabelle 1), dies wäre aber kein hinreichender Grund, um Haydns Quartettsatz die Vorbildfunktion kategorisch abzusprechen.

Für welchen der beiden Sätze man sich auch immer entscheidet, mit ihnen wäre nicht nur der Einzug der sechstönigen Figur ins Mozartsche Werk, sondern ferner auch ihre lang anhaltende Bindung an die Tonart Es-Dur zu begründen.[64] Allerdings sieht sich auch diese Hypothese mit ungelösten Fragen konfrontiert: Die frühesten Mozartschen Instanzen, die den beiden potentiellen Vorbildern typologisch nahe stehen, sind eher die Motiverscheinungen in KV 205/III (A-Dur) und KV 203/VI (G-Dur) und nicht die Es-Dur-Instanz in KV 171 mit ihren festlichen, etwas starren Viertelnoten. Erst mit der Arie Nr. 11 aus Idomeneo wird eine umfassende satztechnische, topologische sowie tonartliche Übereinstimmung mit Johann Christian Bachs Andantino (hier stimmt sogar die Taktart überein) und mit Haydns Adagio cantabile erreicht.

Wie eine bestimmte Figur ihren Weg in Mozarts melodisches Repertoire gefunden haben, bzw. ihre Anbindung an eine spezifische Tonart zustande gekommen sein könnte, wird im Einzelfall kaum restlos nachzuvollziehen sein – dies schon allein aus dem Umstand heraus, dass eine methodologisch abgesicherte Erschließung der Musik, die Mozart kannte und die ihn mutmaßlich beeinflusste, nur sehr eingeschränkt möglich ist. Nun erzählt aber das Mozartsche Werk auch eine eigene Entwicklungsgeschichte. Will man aus der besprochenen sechstönigen Motivstruktur auf das Ganze schließen, scheint bei dieser Geschichte wiederum die Bindung bestimmter Momente des Tonsatzes an spezifische Tonarten eine nicht unwesentliche Rolle gespielt zu haben.

Abkürzungen:

NMA: Neue Mozart-Ausgabe = Wolfgang Amadeus Mozart. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, in Verbindung mit den Mozartstädten Augsburg, Salzburg und Wien hg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, 10 Serien, Kassel u.a.: Bärenreiter 1955ff.

BriefeGA: Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe (= Briefe Gesamtausgabe), hg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, gesammelt und erläutert von W.A. Bauer und O.E. Deutsch, auf Grund deren Vorarbeiten erläutert von Joseph Heinz Eibl, Textbände I–IV, Kommentarbände V/VI, Registerband VII, zusammengestellt von Joseph Heinz Eibl, Kassel u.a.: Bärenreiter, 1962/63, 1971 und 1975; neu aufgelegt mit zusätzlichem Bd. VIII (= Einführung, Ergänzungen und Bibliographie), hg. von Ulrich Konrad, Kassel u.a.: Bärenreiter 2005.

Anmerkungen

1

Lüthy 1931.

2

Johann Matthesons ausführlichste Auflistung verschiedener Tonartencharaktere befindet sich in der Orchestre-Schrift von 1713 (231–253). Wichtige und umfangreiche Quellen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind Schilling 1835–38 und Hand 1837.

3

Als repräsentative Auswahl aus der Sekundärliteratur zur Tonartencharakteristik bei Mozart können genannt werden: Souper 1933, Hyatt-King 1937, Tenschert 1953, Chusid 1968, Bockholdt-Weber 2003 und Jan 1995. Letztere Veröffentlichung beschäftigt sich allerdings überwiegend mit satztechnischen Aspekten.

4

Auhagen 1983, 270–279.

5

»Mozarts Tonartenentscheidungen auf die Lehre von der Tonartencharakteristik zurückzuführen, stellt m. E. eine durch Tatsachen nicht gedeckte, wissenschaftlich unhaltbare Mystifikation dar.« (Gloede 1993, 42f.)

6

Die Tonartencharakteristik stand inmitten erbitterter musiktheoretischer Debatten wie etwa derjenigen zwischen Friedrich Wilhelm Marpurg und Johann Philipp Kirnberger (vgl. Steblin 1981, 79–102). Aber auch bei den Anhängern der Lehre herrschten oftmals Zweifel über die triftige Zuordnung konkreter Charaktere zu bestimmen Tonarten: Allein unter den Veröffentlichungen Johann Matthesons zum Thema lassen sich eklatante Abweichungen feststellen (vgl. Steblin 1981, 51f.).

7

Vgl. z.B. Schubart 1806, 261–265.

8

Mozarts dokumentierte Aussagen zu Fragen der Tonartenwahl fallen extrem spärlich aus. Die ausführlichste Formulierung befindet sich in einem Brief an den Vater vom 26. September 1781 aus Wien und betrifft die tonartlichen Entscheidungen in der Arie des Osmin, Nr. 4 der Entführung aus dem Serail (BriefeGA III, 161ff.). Genau gesehen handelt es sich in dieser Besprechung allerdings um das Tonarten-Verhältnis zwischen dem Hauptteil der Arie (in F-Dur) und dem abschließenden Presto (in a-Moll) und um keine Einzel-Charakterisierung dieser beiden Tonarten.

9

»[…] In der Kirche geniessen sie [die ›alten‹ Modi] das Freyungsrecht; bey Hofe aber werden sie nimmer gelitten. Und wenn gleich alle die heutigen Tongattungen nur aus der Tonleiter (C) Dur und (A) moll versetzet zu seyn scheinen; ja wirklich durch Hinzusetzung der (b) und (#) erst gebildet werden: woher kömmt es denn, daß ein Stück, welches z.E. vom (F) ins (G) übersetzet wird, nimmer so angenehm läßt, und eine ganz andere Wirkung in dem Gemüthe der Zuhörer verursachet? Und woher kömmt es denn, daß ein wohlgeübter Musikus bey Anhörung einer Musik augenblicklich den Ton derselben anzugeben weis, wenn sie nicht unterschieden sind?« (Mozart 1756, 59, FN 1)

10

Gloede verweist auf charakteristische Motivstrukturen für die Tonarten: A-Dur, a-Moll, B-Dur, c-Moll und d-Moll. Seine Ergebnisse belegt er mit einer Statistik, die auf einer Analyse von Satz- bzw. Opernnummern-Anfängen beruht. Die Instanzen der d-Moll-Motivstruktur umfassen beispielsweise solche Passagen wie den Beginn des III. Satzes (Menuett) aus dem d-Moll-Streichquartett KV 421 (417b), den Beginn des d-Moll-Klavierkonzerts KV 466, den ersten Einsatz Donna Annas im Sextett Nr. 19 aus Don Giovanni, die erste Gesangphrase aus der d-Moll-Arie der Königin der Nacht Nr. 14 der Zauberflöte etc. (1993, 36).

11

Für die Fähigkeit der Tonartenwahl, eine ›kommunikative‹ Funktion zu erfüllen, ist es zunächst unerheblich, ob die Tonart aufgrund von wie auch immer gearteten instrumentalen oder stimmungsbedingten Konstellationen eine eigene ›charakteristische‹ Klanglichkeit entfaltet oder ob ihr semantischer ›Gehalt‹ lediglich auf nicht-akustischen Momenten (wie etwa der ›Tonartensymbolik‹ bzw. geschichtlich gefestigter Hermeneutik) beruht.

12

Die dargelegte Dichotomie zwischen ›Charakter‹ und satztechnischen Bestimmungsmomenten vermag zunächst zu befremden, scheint doch ein musikalischer Charakter nichts anderes als das Resultat ineinander wirkender satztechnischer Momente darzustellen. In diesem Sinne schreibt Paul Mies (1948, 12): »Eine Tonart hat also einen bestimmten Charakter, 1. wenn eine große Gruppe von Stücken der Tonart gemeinsame Inhalte (Stimmungen, Vorstellungen), gemeinsame musikalische Faktoren (Tempo, Melodik, Rhythmik und dgl.) hat.« – Es besteht dennoch ein grundlegender Unterschied zwischen dieser Definition (die stellvertretend für die ›traditionelle‹ Tonartencharakteristik stehen kann) und dem Ansatz Gloedes: Während Mies’ »gemeinsame Faktoren« per definitionem semantisch belegt sind und – samt der dazugehörigen Tonart – als eine Art ›symboltheoretischer Kommunikationsfläche‹ von einer ›Komponistengemeinschaft‹ (deren Mitglieder auf verschiedene Epochen verteilt sein können) eingesetzt werden, werden die tonartlichen Bindungen etwaiger Motivstrukturen in Gloedes Untersuchung als ›privates‹ Phänomen der Mozartschen Kompositionswerkstatt betrachtet und deren vermeintliche ›Ursachen‹ ebenfalls in individualspezifischen Merkmalen der Schaffensweise des Komponisten gesucht (Gloedes Erklärungsmodell dieses Phänomens wird an einer späteren Stelle dieses Textes exponiert). Diesen Ansatz verallgemeinernd könnte hier von einer ›Tonartenidiomatik‹ gesprochen werden, die sich in einer konkreten kompositorischen Ausrichtung einer Tonart offenbart, ohne dass der Korrelation zwischen Tonart und musikalischer Substanz zwangsläufig eine semantisch-kommunikative Funktion zukäme. Der ›private‹, schaffenspsychologische Blick auf das Phänomen bleibt selbst von dem Umstand unberührt, dass der Komponist in seiner Material- und Tonartenwahl von fremden Vorbildern beeinflusst sein könnte (zu möglichen fremden Quellen der zu untersuchenden Motivstruktur vgl. die Diskussion am Ende dieses Textes sowie Anm. 64).

13

Die in diesem Text zu untersuchende sechstönige Motivstruktur (Beispiel 1) wird von Gloede nicht erwähnt. Dies ist wohl kein Zufall, denn seine Untersuchung erfasst vor allem melodische Wendungen, die am Anfang eines Satzes bzw. zu Beginn eines größeren Formabschnitts exponiert werden, während die vorliegende Motivstruktur in der Regel der zweiten oder dritten Phrase eines Themas angehört (bis auf eine auffallende Ausnahme im ersten Satz des Streichquartetts KV 171, siehe unten).

14

Beispiel 1 sowie das davon abgeleitete Beispiel 6 (siehe unten) stehen in einem ›neutralen‹ C-Dur: Die Tonarten der konkreten Motiverscheinungen sind Tabelle 1 sowie den Notenbeispielen 2 und 3 zu entnehmen.

15

Die Anzahl der verwandten Beispiele hängt von der Schärfe der typologischen Definition ab und bewegt sich zwischen etwas über 50 und nur wenigen Einzelfällen. Siehe hierzu die folgende Besprechung des typologischen Umfelds.

16

Diminutionslehren etwa von Instrumental- und Vokalschulen des frühen 16. Jahrhunderts bis hin zu Hinweisen zur Verzierung italienischer Arien des 19. Jahrhunderts stellen vorerst Anweisungen zur Improvisation dar, doch schlagen sich die Prinzipien im Laufe der Musikgeschichte immer wieder in ausnotierten Kompositionen nieder. Auch Leopold Mozarts Violinschule enthält eine ausführliche Beschreibung verschiedener Arten der ›Auszierung‹ (vor allem im 9. und 11. ›Hauptstück‹), die gelegentlich (einfachen) Formen der Diminution gleichkommen (1765, 193ff. und 238ff.).

17

Als ›Stücke‹ werden Sätze in zyklischen Werken sowie Einzelsätze und Opernnummern verstanden.

18

Die chronologischen Angaben in Tabelle 1 entsprechen grundsätzlich den Datierungsangaben der NMA. Zum Streichquartett KV 160 (159a) notiert die NMA: »Entstanden angeblich Mailand/Salzburg, Anfang 1773«. Diese Angabe ist hier durch die von Ulrich Konrad (2005, 332) ersetzt worden. Auf einige spezielle Datierungsprobleme der Werke in Tabelle 1 wird im Folgenden eingegangen.

19

Die Zusammenstellung in Tabelle 1 und in den entsprechenden Notenbeispielen dürfte in ihrer Vollständigkeit eine Neuerung darstellen; auf etliche dieser Belegstellen wird allerdings bereits in älteren Quellen verwiesen, was bei dem Bekanntheitsgrad einiger der Werke nicht anders zu erwarten wäre. Bereits Otto Jahn (1856–59, 633, FN 50) verweist auf die melodische Parallele zwischen Taminos Arie und dem Andante der g-Moll-Sinfonie. Alexander Ulibischeff (1859, 3. Bd., 109f.) bezieht ferner die Arie der Ilia in den Vergleich mit ein. Alfred Heuß verweist auf dieselben drei Belegstellen, die er als »echte[n] Esdur-Gedanke[n]« bezeichnet (Heuß 1930/31, 188f.); ferner sieht er eine Entsprechung zwischen den sich sowohl in der Ilia-Arie als auch in der Tamino-Arie auf das sechstönige Motiv anschließenden Septimsprüngen der Vokallinie zum hohen as2 (bzw. as1). Im Rahmen einer tabellarischen Darstellung listet Ellwood Derr (1997, 289) sechs der acht Werke (KV 168/I und KV 203/VI ausgenommen), fügt allerdings KV 413/I und KV 585/Nr. 10 hinzu, Instanzen, die im Rahmen der vorliegenden Studie nicht der ›Kerngruppe‹, sondern deren unmittelbarem ›typologischem Umfeld‹ zugeordnet werden (Beispiele 8d und 8e unten). Schließlich verweist Joachim Brügge (1992, 79f.) explizit auf den Zusammenhang zwischen der Eröffnung des Streichquartetts KV 171/I und den bekannteren Belegstellen.

20

In der Tamino-Arie findet man eine lediglich rudimentäre Reprise, bei welcher das vorliegende Motiv entfällt (in fast allen Nummern der Zauberflöte manifestiert sich ein sehr freier Umgang mit Reprisenmomenten, ein Umstand, der zweifellos mit dem grundsätzlichen Verzicht auf ›Textreprisen‹ zusammenhängt: Hierin unterscheiden sich die Arien der Zauberflöte deutlich vom übrigen Opernschaffen Mozarts).

21

Die Wiederkehr des Motivs im Reprisenteil von KV 205/III ist in einem modulatorischen Prozess begriffen, welcher die diastematischen Verhältnisse der Gestalt zu weit verzerrt, als dass diese Erscheinungsform hier überhaupt berücksichtigt werden könnte.

22

Die Wahrscheinlichkeit, dass (mindestens) vier von acht Stücken in ein und derselben Tonart stehen, liegt immerhin bei ca. 12,6%. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies bei zehn von sechzehn Instanzen der Fall ist, ist dagegen verschwindend gering (unter 0,01%). Diese Werte basieren auf der vereinfachten Arbeitshypothese, Mozart habe lediglich in sieben Tonarten geschrieben und diese seien gleich stark vertreten (siehe aber Anm. 23).

23

Mozarts Instrumentalwerk verteilt sich auf die verschiedenen Satztonarten nach folgendem Schlüssel: D-Dur: leicht unter 18%, B-Dur: unter 15%, C-Dur: über 14%, F-Dur: über 13%, Es-Dur: über 12%, G-Dur: etwas über 11%, A-Dur: über 6%, D-Dur: leicht unter 18%, B-Dur: deutlich unter 17%, C-Dur: deutlich unter 14%, F-Dur: leicht unter 13%, Es-Dur: ca. 12%, G-Dur: ca. 11%, A-Dur: etwas über 6%, alle übrigen Dur- und Moll-Tonarten machen insgesamt weniger als 10% aller Sätze aus. Bemerkenswert ist, dass die Tonart Es-Dur, wiewohl eine der weniger gebräuchlichen Satztonarten, immerhin einen höheren Platz belegt als die ›einfache‹ – und daher vermeintlich herkömmlichere – G-Dur-Tonart. Obige statistische Angaben basieren auf einer Auswertung aller Instrumentalstücke Mozarts (Sätze innerhalb von zyklischen Werken sowie Einzelstücke) unter Auslassung von Gesellschaftstänzen und Fragmenten sowie einiger weniger Instrumentalstücke, deren tonartliche Zuordnung methodologische Schwierigkeiten bereitet. Umfassendere statistische Ergebnisse werden im Rahmen der in Vorbereitung befindlichen Dissertation des Autors enthalten sein (siehe Anm. 54).

24

Die Wahl des ›Topos‹-Begriffs trägt dem Umstand Rechnung, dass durch die Verortung in eine bestimmte Satzgattung die abstrakte Diastematik der sechstönigen Motivstruktur einen konkreten Ausdruck, mithin eine semantische Grundlage erlangt. Zur Unterscheidung zwischen Modell und Topos vgl. Hartmut Fladt: »›Modell‹ ist primär – abstrakte – Struktur, ›Topos‹ die Einheit von Struktur und geschichtlich definierter Bedeutung/Funktion.« (2005, 343)

25

Der Allegro-Satz KV 160/I steht zwar ebenfalls in Es-Dur, allerdings ist B-Dur die Tonart der primären Erscheinung der sechstönigen Motivstruktur.

26

Die übrigen fünf Fälle bieten allerdings keine eindeutige Antwort auf die Gewichtungsfrage: Betrachtet man den ersten Takt des jeweiligen Satzes als ›schwer‹, fällt nur in KV 203/III das Hauptgewicht auf die zweite Phrase (T. 3 mit Auftakt); in den Arien aus Idomeneo und der Zauberflöte sowie im langsamen Satz der Sinfonie KV 550 ist es die erste Phrase, die jeweils auf einen ungeraden, vermeintlich schweren Takt fällt (auf die grundsätzlich abweichende metrische Konstellation in KV 171/I wird im Folgenden eingegangen). Diese Divergenz kann auf zweierlei Arten aufgefasst werden: Entweder ändern sich die Gewichtsverhältnisse innerhalb des Motivs tatsächlich von Fall zu Fall oder man muss annehmen, dass Mozart in den nicht-zusammengesetzten Taktarten einen metrischen ›Schwebezustand‹ anstrebt, der bewirkt, dass die metrischen Verhältnisse beim Hören flexibel (möglicherweise ›rückwirkend‹) neu definiert werden, so dass die zweite Motivhälfte als schwerer empfunden wird, selbst wenn die vorangehenden Takte eine umgekehrte metrische Abstufung suggerieren. Da sich alle drei Fälle in zusammengesetzten Taktarten konform verhalten und den Hauptakzent auf die zweite Phrase fallen lassen, wird der zweiten der oben genannten Möglichkeiten (dem flexiblen metrischen ›Schwebezustand‹ der nicht-zusammengesetzten Taktarten) der Vorzug gegeben.

27

Laut Heinrich Christoph Koch entspricht die ›Anlage‹ – die thematische und ideelle Substanz eines Stücks – in konzertanten Sätzen und Arien nicht der orchestralen Einleitung, sondern dem Solistenpart bzw. dem mit Text unterlegten Gesangpart, der ja im ästhetischen Mittelpunkt der Komposition steht (1782–1793, III, 333).

28

Die tonale Ambivalenz der einstimmigen Motivwiedergabe in KV 171/I (Beispiel 2d) drückt sich ferner auch in der unmittelbaren Wiederholung des Motivs in den Takten 5–6 aus: Hier genügt ein Umtausch der beiden letzten Töne der Sechs-Ton-Folge, um eine Tonikalisierung der V. Stufe einzuleiten. In keinem anderen Fall innerhalb der ›Achter-Gruppe‹ werden solche Permutationen eingesetzt.

29

In seiner Typologie verschiedener Pendelmodelle führt Ulrich Kaiser (2007, 166ff.) unter anderem die Stufenfolge I-IV-I-V-I als ein zusammenhängendes Modell ein, das aus einer Kombination subdominantischer und dominantischer Pendel-Komponenten besteht und grundsätzlich mit einer Oberstimmstruktur 6-5-4-3 einhergeht. Die sechs Fälle der vorliegenden ›Achter-Gruppe‹, welche für die Rubrizierung als subdominantisches Pendel in Frage kommen, ließen sich grundsätzlich auch als Instantiierungen dieses erweiterten Pendelmodells (mit anschließender dominantischer Komponente) auffassen, dies allerdings mit gewissen Einschränkungen: In KV 203/VI schließt sich an das subdominantische Pendel zunächst ein subdominantischer Klang an (T. 4, erste Zählzeit, Kaiser beurteilt allerdings solche Harmoniefolgen – wie etwa in KV 9a [5a] – als »subdominantische Prolongationen der V. Stufe«, ebd., 175ff.); ferner wird in KV 205/III und in der Ilia-Arie der letzte Tonikaklang des fünfgliedrigen Modells nur auf dem Weg zu einem Halbschluss ›gestreift‹, womit er kaum als Abschluss einer harmonischen Formulierung wirkt und möglicherweise nach einer anderen Rubrizierung verlangt. Im Falle der vorliegenden Instanzen empfiehlt es sich grundsätzlich, die Stufenfolge I-IV-I nicht als Teil eines größeren harmonischen Zusammenhangs, sondern als eine gewissermaßen selbständige harmonische Bildung zu betrachten, die sich mit verschiedenen Fortsetzungsmodellen verbinden kann (vgl. ebd. 184ff). – Insofern der tonikale Ausgangsklang des Pendels in einen metrisch leichten Takt (bzw. in den Schlusstakt einer vorangehenden metrischen Einheit) fällt, trifft Kaiser eine abweichende Rubrizierung des Modells als IV-I-V-I bzw. IV-I, wobei die Subdominante an erster Stelle steht (ebd., 179ff. und 188ff.). Die Anwendung dieser Unterscheidung auf die Mitglieder der ›Achter-Gruppe‹ würde etwa zu ungleichen Rubrizierungen von KV 203/III und der Tamino-Arie führen, da die Ausgangstonika im ersten Fall auf einen ›schweren‹ Takt fällt, im zweiten auf einen vermeintlich ›leichten‹. Vor dem Hintergrund des unter Anm. 26 postulierten metrischen ›Schwebezustands‹ einiger Mitglieder der Achter-Gruppe erscheint eine metrisch motivierte Ausdifferenzierung im vorliegenden Corpus eher unzutreffend: Die Kategorie des stets mit der I. Stufe ansetzenden ›subdominantischen Pendels‹, die eine einheitliche Rubrizierung der vorliegenden Pendel-Instanzen erlaubt, scheint demgegenüber sinnvoller.

30

Ein weiteres Beispiel aus dem ›frühen‹ Mozart für eine subdominantische Pendellharmonik direkt am Satzbeginn liefert der Kopfsatz der Sinfonie in F-Dur KV Anh. 223 (19a).

31

Einen besonderen Fall stellt die zweite Erscheinung des Motivs in KV 550/II, T. 13ff., dar (Beispiel 3d): Dadurch, dass das Motiv in die Bassstimme verlegt wird, ergibt sich eine Umstellung der Akkordtöne, und die Harmonisierung der Stelle – unter Auslassung der chromatischen Nebentoneinstellungen – lautet: I-IV6-I6/4, wobei der abschließende Quartsextakkord hier eine tonikale Auflösung und keinen kadenzierenden Quartsextakkord darstellt.

32

Es erscheint bezeichnend, dass im Wettstreit-Ensemble zwischen Madame Herz und Madame Silberklang (Nr. 3 aus Der Schauspieldirektor) die erste Phrase der sechstönigen Motivstruktur zum vielsagenden Text »Adagio« gesungen wird, dies obendrein in Es-Dur (T. 91 mit Auftakt). Das Motiv wird dann aber nicht fortgeführt.

33

Sowohl Phrasenüberziehung als auch Antizipationen in der Arie der Ilia stellen sehr geringfügige, im Grunde zu vernachlässigende Abweichungen von diesen Bestimmungskriterien dar.

34

Die Begriffe ›Fonte‹ und ›Ponte‹ sind Joseph Riepel (1755, 44) entliehen und im Sinne ›absteigender‹ und ›gleich bleibender Tonhöhe‹ resp. verwendet. Die vorliegenden satztechnischen Zusammenhänge weichen allerdings zusehends von denjenigen Riepels ab.

35

Die schaffenschronologische Reihenfolge der ersten drei Instanzen des topologischen Umfelds kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Die NMA gibt 1764 als Entstehungszeit sowohl für KV 12 (Beispiel 7a) als auch für KV 14 (diese Instanz – im I. Satz, T. 2–4 – wird in der vorliegenden Untersuchung nicht weiter berücksichtigt) und für das Londoner Skizzenbuch an.

36

Die melodischen Gestalten zu Beginn des Trio-Teils von Nr. 8 (F-Dur) sowie am Ende von Nr. 11 (G-Dur) der Menuettreihe KV 585 entsprechen zwar der oben genannten Maßgabe, fallen allerdings durch melodische Zusätze und einen erhöhten Grad der Phrasen-Asymmetrie zu ›unbuchstäblich‹ aus, als dass sie in dieser Darstellung des engsten typologischen Umfelds berücksichtigt werden könnten. Der Anfang von Nr. 10 (Es-Dur) derselben Tanzreihe hingegen ist mit der sechtönigen Motivstruktur sehr nah verwandt (siehe Beispiel 8e).

37

Mit dem Begriff ›Solistenthema‹ wird hier eine thematische Setzung bezeichnet, die mit dem ersten Solo-Einsatz zusammenfällt, vom Hauptthema der Orchestereinleitung allerdings abweicht und auch im weiteren Satzverlauf dem Solopart vorbehalten bleibt. Die Verankerung dieser Strategie in der allgemeinen Kompositionspraxis der Zeit lässt sich anhand Quantz’ Aussage belegen: »Sofern der Anfangsgedanke vom Ritornell nicht singend, noch zum Solo bequem genug ist: so muß man einen neuen Gedanken, welcher jenem ganz entgegen ist, einführen, und mit den Anfangsgedanken dergestalt verbinden, daß man nicht bemerken könne, ob solches aus Noth, oder mit gutem Bedachte geschehen sey.« (1752, 296) – In einem Überblick der Solo-Eingänge in Mozarts Klavierkonzerten, die von der Thematik der jeweiligen Orchestereinleitungen abweichen, betont David Rosen die Verschiedenartigkeit dieser Eingänge, die nicht zwangsläufig thematische Substanz besitzen (1996, 270).

38

Bemerkenswerterweise stellen die beiden Instanzen aus KV 160/I (Beispiele 2a und 3a) jeweils ›doppelte‹ Motiverscheinungen dar, da sie aus der zweimaligen Wiederholung eines Zweitakters bestehen, welcher die Motivstruktur enthält (eine interessante Nuance bildet der Registerwechsel mitten in der Reprisenvariante, siehe Beispiel 3a). Diese unmittelbare Motivwiederholung, die im erweiterten Beispielcorpus auch im Oboenquartett KV 370 (368b) begegnet (dies allerdings mit typologischen Abweichungen zwischen den Varianten, vgl. obige Besprechung), scheint allerdings das ›Gewicht‹ der ›Doppel-Instanz‹ nicht zu erhöhen – womöglich hat sie sogar eine umgekehrte, eher ›bagatellisierende‹ Wirkung.

39

Das Pendelmodell in KV 370/I (Beispiel 8a) stellt eine Zwischenkategorie zwischen stark artikulierter Subdominante und unterliegendem tonikalem Orgelpunkt dar. Auf der jeweils ersten Zählzeit der Takte 9 und 10 erklingt zwar die Tonika orgelpunktartig im Bass, allerdings artikuliert die Basslinie im weiteren Verlauf dieser Takte die Dreiklänge der IV. und der I. Stufe und liefert somit den fehlenden Basston der Subdominante bzw. des tonikalen Sextakkords sozusagen nach.

40

Zu den Tonrepetitionen kommen in KV 370/I ›circulatio‹-Figuren hinzu.

41

In der Tat stellen die Instanzen aus KV 370/I und KV 413/I die einzigen Motiverscheinungen im gesamten ›Umfeld-Corpus‹ dar, welche die tonikalen Auftakte (Töne 1 und 4 der Sechs-Ton-Folge) in eine doppelte Tonrepetition ›auflösen‹. Die ›feurigen‹ Punktierungen im Menuett KV 585/Nr. 10 lassen sich mit diesen eleganten auftaktigen Achteln nicht vergleichen.

42

In Mozarts Werken tritt das Diminutionsprinzip vor allem in Variationszyklen deutlich hervor, wobei in der Regel einige der Variationen eine Ausfigurierung des Themas in immer kleiner werdenden rhythmischen Werten darstellen. Das Prinzip ist aber auch in vielen Rondo- und rondoähnlichen Sätzen operativ, insofern jede Wiederholung des Refrains mit neuen Varianten verbunden ist.

43

Ein Resümee der Problemgeschichte der Mozart-Chronologie, eines Forschungsgebiets, auf dem sich ›äußerliche‹ (auf ›materielle‹ Hinweise gestützte) und ›innerliche‹ (stilkritische) Datierungsmethoden abwechselnd diskreditieren und rehabilitieren, beschließt Wolfgang Plath mit der Aufforderung: »Man sollte beizeiten damit beginnen, auf die in den nächsten Jahrzehnten sicherlich fällige Rehabilitierung der ›innerlich‹-stilkritischen Methode hinzuarbeiten […] Das Problem der Chronologie muß, wenn es recht erkannt ist, über die bloßen Neudatierungen hinaus zur Stilerkenntnis führen.« (1984, 378)

44

Eine weitere kompositorische ›Gepflogenheit‹, welche die beiden um weniger als ein Jahr auseinander liegenden Quartettsammlungen durchzieht, ist ein fünftöniger stufenweiser diatonischer Abstieg ausgehend vom fünften Skalenton, wobei der Anfangston der Figur verhältnismäßig ausgedehnt ist und der Abstieg sich in Form von zwei Seufzerfiguren vollzieht. Diese Gestalt begegnet als Hauptthema in den Kopfsätzen von insgesamt drei Quartetten dieser Zeit: in der ersten Opus-Sammlung einmal (KV 160 in Es-Dur), in der zweiten sogar zweimal (KV 169 in A-Dur und KV 173 in d-Moll, wobei letztere Erscheinungsform modusbedingt mit einer Mollterz einhergeht). Darüber hinaus erscheint die Gestalt als Themenkopf im etwas früher datierten Streicherdivertimento KV 136 in D-Dur. Nach diesem intensiven Gebrauch – im Übrigen ohne erkennbare tonartliche Präferenz – scheint auch diese Figur – zumindest als Eröffnungsfloskel in Instrumentalsätzen – einige Zeit zu ruhen. Zwei wesentlich spätere Instanzen begegnen mitten im Finalsatz des Klavierquartetts KV 478 und zu Beginn des Klavierrondos KV 485 (diese Erscheinungsformen stehen beide in D-Dur).

45

Vgl. Plath 1966, XI.

46

Die typologische Abschwächung der Motiverscheinung in KV 205/III besteht, wie oben erörtert, in einer Verletzung der Symmetrie zwischen den beiden Drei-Ton-Phrasen sowie in einer ›Auszierung‹ des ersten Tones durch den eröffnenden Oktavsprung.

47

Mit Blick auf das typologische Umfeld der sechstönigen Motivstruktur scheint die Sinnfälligkeit der hier zu unterbreitenden ›verdrehten‹ Chronologie letztlich eine Ermessensache: Gerade die oben erörterten typologischen Abweichungen der Motiverscheinung in KV 205/III ließen es wohl zu, diesen Fall – etwa wie KV 12/I oder KV 15kk – dem ›frühen‹ typologischen Umfeld zuzuordnen: Somit würde KV 171/I – auch unabhängig von der schaffenschronologischen Reihenfolge des Streichquartetts und des Divertimentos – zur ersten ›buchstäblichen‹ Instanz des ›langsamen‹ Topos.

48

Vgl. Bär 1963, 34.

49

Plath 1966, XI.

50

Bekanntlich bezeichnete Mozart die sechs Haydn-Quartette, als »il frutto di una lunga e laboriosa fatica«. Alan Tysons Papieruntersuchungen – vor allem am Autograph des ›Jagd‹-Quartetts KV 458 – ergeben, dass die Fertigstellung dieses Sechser-Opus’ viel länger dauerte und Mozart viel mehr Mühe kostete, als er vorausgesehen hatte (1987, 104f.).

51

Prekär wie es ist, von einem ›Spätwerk‹ bei Mozart sprechen zu wollen, drängt sich gerade bei der Zauberflöte immer wieder der Eindruck eines Mozartschen ›Schaffenskompendiums‹ auf. Neben zahlreichen Studien, welche die motivischen Korrespondenzen zu vielen früheren Werken Mozarts belegen (neben der Erscheinung der sechstönigen Motivstruktur in der Arie des Tamino ließe sich beispielsweise auf das typische d-Moll-Motiv am Beginn der zweiten Arie der Königin der Nacht verweisen, vgl. Anm. 10), wird die umfassende stilistische Integration der Oper etwa im folgenden Resümee Ludwig Finschers hervorgehoben: »Die auf höchstem Formniveau gelungene Verschmelzung von Theatermusik und Instrumentalmusik, von Haydns motivischem und Bachs kontrapunktischem Denken, vom Bedeutendsten der historischen und dem Bedeutendsten der gegenwärtigen Musik erscheint uns als Mozarts eigentlicher Beitrag zum klassischen Stil [… Das] Repertoire [der Zauberflöte] an dramatisch fungierenden Formen, Stilen und Tonfällen [reicht] vom Wiener Komödienlied über die ›zeitgenössische‹ Buffa- und Seria-Szene zum ›historischen‹ Oratorienmarsch Händels und zur Choralbearbeitung Bachs […] Hier scheint das Äußerste erreicht, das Mozart und der Wiener Klassik möglich war, ein Werk, dessen Text in einer Musik von universalem Anspruch aufgehoben wurde – einer Musik, die diesen Anspruch so vollkommen mühelos erfüllte, dass sie ihn ins reine Spiel auflöste.« (1985, 278)

52

Es werden hier lediglich die Tonarten der jeweiligen primären Motiverscheinungen berücksichtigt.

53

Jan 1995, 319.

54

Die Erörterung satztechnischer (nicht nur melodischer) tonartgebundener Phänomene in Mozarts Musik bildet den Gegenstand der unter Anleitung von Prof. Dr. Christian Martin Schmidt im Entstehen begriffenen Dissertation des Autors zum Thema: Tonartbezogenes Denken in Mozarts Werken.

55

Michael C. Tusa bezeichnet mehrere strukturelle und melodische Eigenschaften in Beethovens Werken in c-Moll als charakteristisch für diese Tonart (1993). Petra Bockholdt-Weber (1990) betrachtet die Gegenüberstellung der Tonarten B-Dur und D-Dur als ein bedeutendes Moment in Beethovens Schaffen. James Webster verweist auf einen charakteristischen Es-Dur-›Ausbruch‹ in G-Dur-Sätzen Haydns, Mozarts und Beethovens (1991, 172).

56

Man sollte jedoch eine solche Erklärungsstrategie, die das komponistenspezifische Moment in eine allgemeinere – stilistisch gebundene – Tonartenbezogenheit der zeitgenössischen Musiksprache aufhebt, nicht vorschnell verwerfen. Wenn Heuß im Zusammenhang mit der sechstönigen Motivstruktur von einem »echte[n] Esdur-Gedanke[n]« spricht (1930/31, 188f.), so stellt dies möglicherweise mehr als ein theoretisches Konstrukt ›a posteriori‹ dar: Es wäre denkbar, dass auch weitere Komponisten der Mozartzeit bestimmte satztechnische Elemente tendenziell in Verbindung mit bestimmten Tonarten verwendeten – vielleicht sogar in ähnlichen Konstellationen, wie sie im Mozartschen Werk auftreten. Gerade das Auftreten von Es-Dur-Instanzen der vorliegenden sechstönigen Motivstruktur auch in Mozarts Vor- und Umfeld (vgl. hierzu Beispiele 10 und 11 unten sowie Anm. 64) lässt die ›Es-Durigkeit‹ des Motivs in einem neuen, überraschenden Licht erscheinen: Liegt hier etwa eine gleich mehrere Komponisten umfassende ›Mode‹ vor? Und geht ihre Verbreitung möglicherweise auf einen früheren gemeinsamen ›Ursprung‹ zurück? Die Überprüfung solcher Fragestellungen bedürfte freilich eines erheblich breiteren Panoramas, als des im Rahmen dieser Studie gebotenen. Jedenfalls erscheint auch für die Beschreibung einer umfassenderen zeitgenössischen Bindung von Tonart und Tonsatz der weitgehend von der satztechnischen Ebene abstrahierend gedachte Begriff der Tonartencharakteristik als eher ungeeignet; vielmehr sollte man in diesem Zusammenhang von einer ›Tonartentypik‹ bzw. ›–idiomatik‹ sprechen.

57

Gloede 1993, 40f.

58

Ein Brief des Salzburger Hoftrompeters Johann Andreas Schachtner an Mozarts Schwester von 1792 belegt das außergewöhnlich genaue absolute Gehör, das Mozart bereits als Knabe besaß (BriefeGA, IV, 179ff.). Ein Brief Leopold Mozarts an seine Frau vom 14. April 1770 aus Rom berichtet über Wolfgangs Gedächtnisleistung in der Nachschrift von Allegris Miserere nach zweimaligem Hören (ebd. I, 332ff.). In einer Besprechung dieses Falls beschreibt Isolde Vetter Mozarts Gabe als die des Eidetikers (Vetter 1998).

59

Unterschiedliche, nebeneinander existierende Stimmsysteme sowie Schwankungen der absoluten Tonhöhe von gut über einem Halbton sind in Mozarts musikalischem Umfeld nachgewiesen, dies abgesehen von dem Fortbestand des Unterschieds zwischen ›Chor‹- und ›Kammerton‹ (vgl. beispielsweise Haynes 2002, 302f.). Diese Umstände erschweren die Einschätzung, welche innere Hörvorstellung Mozart von den verschiedenen Tonarten gehabt haben mochte. Jeglicher Versuch, tonartgebundene Phänomene in Mozarts Schaffen in Verbindung mit seinem absoluten Gehör zu erklären, setzt voraus, dass Mozart von der heterogenen Klanglichkeit seiner Umwelt zumindest bis zu einem gewissen Grad zu abstrahieren imstande war und dass auch sein Gehör und sein Gedächtnis zu solcher ›Abstraktion‹ fähig waren.

60

Für eine Übersicht der ›physikalischen‹, instrumentenbedingten Begründungen für Tonartencharaktere vgl. Steblin 1981, 135–152.

61

Die Publikation von Johann Christian Bachs sechs Sinfonien op. 3 erfolgte Anfang April 1765. Die Werke waren unmittelbar davor im Rahmen einer Londoner Subskriptionsreihe zwischen Januar und März dieses Jahres aufgeführt worden, sind aber ferner auch in (früheren) italienischen Manuskripten erhalten (vgl. Warburton 1984). Die Mozarts hielten sich in London vom 23. April bis 6. August 1764, dann wieder vom Ende September 1764 bis Ende Juli 1765 auf, also während eines Zeitraums, in den sowohl die Subskriptionsreihe als auch die Veröffentlichung von Bachs op. 3 fielen.

62

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Es-Dur-Instanz KV 15kk aus dem Londoner Skizzenbuch (Beispiel 7e) unter dem Einfluss von Johann Christian Bachs Sinfoniesatz stehen könnte, indes weist dieses Beispiel eine zu große typologische Distanz sowohl zu Bachs melodischer Formulierung als auch zur ›buchstäblichen‹ Motivstruktur auf, als dass ein zwingender Zusammenhang behauptet werden könnte.

63

Vgl. Plath 1966, XI und FN 30.

64

Die offensichtliche motivische Entsprechung zwischen der sechstönigen Struktur in Mozarts Werk und dem II. Satz aus Johann Christian Bachs Sinfonie op. 3 Nr. 4 erscheint zwar zu eklatant, als dass sie bisher nicht erkannt würde, allerdings ist es dem Autor nicht gelungen, entsprechende Hinweise ausfindig zu machen. In der einschlägigen Mozartliteratur wird eher ein Zusammenhang mit dem ebenfalls in Es-Dur stehenden II. Satz aus Carl Philipp Emanuel Bachs Triosonate in B-Dur H 584/Wq 158 postuliert, einem Werk, das ursprünglich im Rahmen der Berliner Reihe Musikalisches Mancherley zwischen 1762 und 1763 erschien und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in einer bearbeiteten Fassung von Georg Schumann in Leipzig neu verlegt wurde. Hermann Abert verweist neben diesem Triosonatensatz auf eine Opernstelle Paisiellos in F-Dur als einen möglichen Einfluss (1955/56, I, 364; die Stelle in Paisiellos Werk bleibt allerdings ungenannt). Alfred Heuß will den Einfluss Paisiellos aus chronologischen Gründen ausgeschlossen wissen, vermutet indes den mittleren Satz aus Carl Philipp Emanuel Bachs Triosonate als Ursprung des Gedankens in Mozarts Musik (Heuß 1930/31 188f.). Bemerkenswert erscheint, dass Ellwood Derr, obwohl in seiner ›Konkordanz‹ der motivischen Korrespondenzen zwischen Mozart und Johann Christian Bach eine partielle Liste der Instanzen der sechstönigen Motivstruktur in Mozarts Werken erscheint (vgl. Anm. 19 oben), diese Stellen nicht etwa auf Johann Christian Bachs Andantino, sondern – ähnlich seinen Vorgängern – auf Carl Philipp Emanuel Bachs Triosonatensatz bezieht. Im Laufe dieses langsamen Satzes im Dreivierteltakt begegnet das sechstönige Motiv fünfmal – viermal davon in Es-Dur –, dies obendrein in der bekannten symmetrischen Gestaltung an der Position der dritten und der vierten Phrase des Themas (erstmalig in T. 4f. mit Auftakt). Im Vergleich mit den Erscheinungsformen im Mozartschen Œuvre fällt allerdings auf, dass die Auftakte (Töne 1 und 4 der Sechs-Ton-Folge) bei Carl Philipp Emanuel Bach als Sechzehntelnoten besonders leicht ausfallen (vor allem in Relation zu den darauf folgenden Viertelnoten). Es kann keinesfalls ausgeschlossen werden, dass die Nummer der Berliner Musikzeitschrift mit Carl Philipp Emanuel Bachs Triosonate in Mozarts Hände gelangen konnte, dennoch erscheint ein Zusammenhang mit Johann Christian Bachs zur Zeit des London-Aufenthalts der Mozartfamilie aufgeführter Sinfonie wesentlich plausibler. Die Motiverscheinung im II. Satz der Sinfonie in B-Dur op. 17 Nr. 5 von Karl Friedrich Abel (erwähnt in Brügge 1992, 79 FN 42) liefert einen weiteren Fall in Es-Dur (wiewohl mit etlichen typologischen Abweichungen von der ›Reinform‹), der sich möglicherweise als eine Anspielung auf den Andantino-Satz des inzwischen verstorbenen Johann Christian Bach deuten ließe. Mozart dürfte indes dieses späte Werk Abels, das erst um 1785 in London erschien und außerhalb England keine Verbreitung hatte, nicht bekannt gewesen sein. Auch das zweite hier genannte mögliche Vorbild für Mozarts sechstönige Motivstruktur, Joseph Haydns Adagio cantabile op. 17 Nr. 4/III, scheint in diesem Zusammenhang bisher nicht beachtet worden zu sein. Nicole Schwindt-Gross’ Behauptung (1989, 152), die ersten drei Töne des Motivs in KV 171/I stellen eine Anspielung auf den Beginn des II. Satzes (›Capriccio‹) aus Haydns Streichquartett op. 20 Nr. 2 dar, vermag wenig zu überzeugen, da die melodische Formulierung Haydns von der ersten Phrase der sechstönigen Motivstruktur nicht nur durch getauschte Reihenfolge der Töne, sondern auch durch die Hinzufügung eines weiteren Tons g abweicht (Haydns Unisono-Phrase lautet: c1-es1-h-g1). Joachim Brügges Verweis auf die Eröffnung des Finalsatzes aus Haydns op. 17 Nr. 4 (1992, 79) veranschaulicht die tonale Ambivalenz der ersten Motivhälfte, die in diesem Fall die Tonart c-Moll artikuliert, allerdings kommt dieses Thema als melodisches Vorbild der sechstönigen Motivstruktur nicht in Frage. Im I. und im III. Satz aus Haydns C-Dur-Streichquartetts op. 9 Nr. 1 erscheinen zwar motivische Formulierungen, die mit der sechstönigen Motivstruktur verwandt sind, diese stellen aber keine ›buchstäblichen‹ Wiedergaben der Struktur dar und stehen darüber hinaus nicht in Es-Dur. Aus Haydns drei Quartettzyklen op. 9, 17 und 20 bietet sich lediglich die oben zitierte Stelle aus op. 17 Nr. 4/III als möglicher Einfluss auf Mozarts ›Andante-Topos‹-Instanzen an. Der Umstand, dass gleich zwei offensichtlich unabhängig voneinander entstandene ›vormozartsche‹ Quellen (drei sogar, wenn man Carl Philipp Emanuel Bachs Triosonatensatz dazurechnet) die sechstönige Motivstruktur in Verbindung mit der Tonart Es-Dur verwenden, führt indes zu allgemeinen Überlegungen hinsichtlich einer möglichen, über den Mozartschen Bezug hinausgehenden ›Es-Durigkeit‹ dieses Motivs (vgl. Anm. 56).

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