»Im Schatten des Kunstwerks« – Komponisten als Theoretiker in Wien vom 17. Jahrhundert bis Anfang 19. Jahrhundert. Internationaler Kongress für Musiktheorie, Wien 3. bis 5. Mai 2007
Thomas Dézsy
Das Thema der Veranstaltung an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien war dem geschichtsträchtigen Veranstaltungsort geschuldet: Auf Einladung von Kongressleiter Dieter Torkewitz machten sich internationale Referenten Gedanken über das ›Erfolgsmodell Wiener Schule‹. Ohne Theorie keine Praxis, so könnte das Resümee nach drei Tagen mit Vorträgen, musikalischen Darbietungen und Diskussionen lauten. Deutlich wurde nicht allein, dass Theorie und Praxis einander bedingten (und bedingen), sondern auch, dass der Praktiker zugleich Theoretiker war, ja sein musste, um den kompositorischen Problemstellungen seiner Zeit, allzumal in Phasen des Stilumbruchs, handwerklich gerecht zu werden: Ohne theoretische Reflexion war eine Innovation auf der praktischen, ausführenden Seite (sei es im Komponieren oder im Musizieren) unmöglich.
Im Fokus standen vor allem die Anfänge einer eigenständigen Wiener Musiktheorie. Deren Abhängigkeit von der italienischen Tradition wies Melanie Wald (Zürich) mit beinahe detektivischer Akribie nach (»Wiener Musiktheorie des 17. Jahrhunderts: römisch?«). Auch Ludwig Holtmeier (Freiburg im Breisgau/Basel) betonte, die Wiener Generalbasslehre um 1800 knüpfe nahtlos an die neapolitanische Partimentotradition an. Seine praxisorientierte Darstellung widmete sich vor allem Emanuel Aloys Försters Prinzip der ›besten Lage‹ (1818), das auf eine beinahe rezepthafte Anleitung für die Gestaltung des harmonischen Satzes hinausläuft. Ladislav Kacic (Bratislava) umriss die nord-östliche Verbindung Wiens mit den geistlichen Zentren etwa der slowakischen Franziskaner und verwies in diesem Zusammenhang auf slowakische und tschechische Übersetzungen deutschsprachiger Lehrwerke, etwa der zentralen Schriften von Heinichen, Fux und Albrechtsberger. Im deutschsprachigen Norden wiederum entstanden, wie Wolfgang Horn (Regensburg) darstellte, eigene strahlkräftige Zentren mit ›fortschrittlichem‹, lutherisch-bürgerlichem Profil (repräsentiert etwa durch Johann David Heinichen), die mit dem deutschen Süden und dessen traditionsorientierter, nichts desto Trotz origineller Musikschulung (repräsentiert etwa durch Georg und Gottlieb Muffat) konkurrierten. Gleichwohl spiegelt auch die norddeutsche Theorie den überragenden Einfluss der Fuxschen Lehre.
Martin Eybl (Wien) widmete sich Johann Joseph Fux als Beispiel einer glücklichen Personalunion von Theoretiker und Praktiker und wies auf einige überraschende Facetten des Komponisten Fux hin. So zeigt sich Fux in seinen Triosonaten, die im Unterschied zu den einem kleineren Hörerkreis vorbehaltenen Opern und Oratorien weitere Verbreitung fanden, als origineller, bisweilen extravaganter Komponist – ein Umstand der eindrucksvoll vor Augen führt, dass der Gradus ad Parnassum keineswegs darauf zielte, die Ästhetik des alten Stils zu konservieren. Nicht von ungefähr bezeichnete ausgerechnet Fux streng kontrapunktische Sätze als ›superstitiöse Antiquität‹. Wie Fux sich den Übergang von seiner kontrapunktischen Didiaktik in die zeitgenössische Kompositionspraxis vorgestellt haben mag, veranschaulichte Jen-Yen Chen (Taipeh). Anhand einer Messe Georg Christoph Wagenseils, die Korrekturen durch dessen Lehrer Fux vermuten lässt, zeichnete er eindrucksvoll nach, wie der Lehrer dem Schüler den Weg von einem dem ›stile antico‹ verpflichteten ›Lehrsatz‹ hin zur galanten Schreibweise des ›stile moderno‹ finden half. Der Einführungsvortrag von Renate Groth (Bonn) verwies – anknüpfend an »Gedanken über die verschiedenen Lehrarten in der Composition« – wiederum auf Johann Joseph Fux als originellen Lehrer, der, anstatt in einer praktischen Kompositionslehre den kleinsten gemeinsamen Nenner unterschiedlicher Stilebenen, Gattungen und Genres seiner Zeit zu suchen, deren satztechnische Basis unter dem Deckmantel des alten Stils didaktisch aufarbeitete und auf eine allgemeine Hebung des kompositorisch-handwerklichen Niveaus zielte. Markus Grassl (Wien) präsentierte das Ricercar als Gattungsidee, die – ähnlich wie Fuge und Sonate – eine ganze musikalische Welt zu integrieren vermochte und im 17. Jahrhundert einer Vielzahl individueller Realisierungen offenstand, später aber verschwand und(unter anderem bei Fux) im didaktischen Zweck aufging (»Retrospektiv-aktuell. Zur Wiener Ricercarproduktion des 17. und frühen 18. Jahrhunderts«).
Mehrere Referenten verwiesen auf Vorläufer, Wegbereiter und Nachfolger der Wiener Schule um Johann Joseph Fux, die – so eine Kernthese des Kongresses – als die eigentliche ›erste‹ Wiener Schule geführt werden sollte. Walter Kreyszig (Saskatchewan) thematisierte das »Guidonische Hexachord als Zugang zu Studier- und Lehrgegenstand von Kompositionspraktiken des stile antico im Wien des 17. und 18. Jahrhunderts« (sic!)und verortete »Johann Joseph Fux als Mittel[s]mann zwischen Johann Jakob Froberger und Wolfgang Amadeus Mozart«. Angelika Moths (Basel) präsentierte Johann Valentin Eckelts Prolegomena de musica in Genere als zwischen Froberger und Pachelbel stehendes Lehrmaterial. John Patrik MacKewon (Basel) verwies – in seinem Vortrag behende zwischen Flügel, Projektor und Pult wechselnd – auf die Rezeption Fux’ bei Haydn und Beethoven. Dieter Torkewitz zeigte den immensen Einfluss des Fuxschen Lehrwerkes und der in seiner Nachfolge etablierten ›kompositorischen Grammatik‹ auf Mozarts Attwood Studien. In Anlehnung an das Kongressmotto sprach Gerhard Winkler (Eisenstadt) von einer ›Schattenschule‹, die sich in den Jahren 1793–96 in der Verbindung zwischen Beethoven und Haydn etabliert habe, und ging deren Einflüssen auf die ›Neue Tonkunst‹ nach. Stefan Rohringer (München) schließlich wies auf die Ausstrahlung der Fuxschen Lehre ins 19. Jahrhundert hin. Ausgehend von der Wiener Tonschule Joseph Preindls arbeitete er wesentliche Züge einer lokalen Lehre heraus, die hinsichtlich etwa der Flexibilität ihrer Modulationstechnik den damals moderneren Lehren Georg Joseph Voglers oder Jacob Gottfried Webers in nichts nachstand und zudem auffällig mit kompositorischen Praktiken Franz Schuberts korreliert.
»Konkurrierendes Denken in der Musiktheorie« oder »Warum sich Theoretiker streiten« – dieses Thema böte ausreichend Stoff für einen eigenen Kongress, der bei aller Tragik dieser Grabenkämpfe einer amüsanten zeitgeschichtlichen Komponente nicht entbehren dürfte. Oliver Wiener (Würzburg) lieferte dafür mit seinem geheimnisvoll betitelten Beitrag »Mit der Lichtschere geschnitten. Der Fall Murschhauser« ein eindrucksvolles Beispiel. Die Auseinandersetzung, bei der Mattheson mit zynischer Feder auf die Kritik seines ›Kollegen‹ reagierte und ihm damit – metaphorisch gesprochen – den Teppich unter den Füßen wegzog, spiegelt als Stellvertreterkonflikt paradigmatisch die Unterschiede zwischen Nord- und Süd.
Der zu Unrecht vergessenen Gestalt Alessandro Pogliettis widmete sich Peter Waldner (Innsbruck), der mit vielen Hörbeispielen vom Cembalo aus referierte. Als Kammer- und Hoforganist am Kaiserlichen Hof unter Leopold I. starb Poglietti 1683 während der Angriffe der Türken. Seine Sammlung Rossignolo ist eine Verbindung aus Suitenform (mit Toccata, Ricercari, Capricci) und Variationszyklus. Dieses Werk sowie ein handschriftliches Kompendium aus Satz- und Kontrapunktlehren, dessen Original (als spektakuläre Leihgabe aus dem Stift Kremsmünster) in einer liebevoll und detailliert gestalteten Ausstellung zu sehen war, weisen Poglietti als einen seinerzeit einflussreichen Komponisten und Lehrer aus, dessen tragisches Schicksal sich auch in dem beinahe gänzlichen Verschwinden seiner Werke widerspiegelt. Vielleicht trägt dieser Kongress auch zu einer Renaissance Alessandro Pogliettis bei.
Die kleine Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek machte anschaulich, was in den Beiträgen der Vortragenden dargelegt, und in einigen von Ingomar Rainer vom Cambalo aus geleiteten musikalischen Darbietungen ganz im Sinn des Kongressthemas hörbar gemacht wurde. Eine gemeinsame Exkursion in die Musiksammlung der Wienbibliothek bot neben dem Einblick in diese einzigartige Sammlung an Autographen auch eine launige Einführung in pädagogisch motivierte Musikwerke Haydns und Schuberts.
Somit schien gelungen, was Dieter Torkewitz bei der Wahl des Kongressthemas vorgeschwebt haben mag, nämlich jenen »Schatten« zu zeigen, den das Kunstwerk auf die Theorie wirft, und der ohne die Theorie als Boden und Fundament nicht sichtbar würde.
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