Komponieren um 2000[1]
Drei Modelle nach Originalen von Thomas Adès, Jörg Widmann und Olga Neuwirth
Gesine Schröder
Die Befassung mit neuen Werken gehört mittlerweile zum Standard des musiktheoretischen Unterrichts an deutschen Hochschulen, auch im sogenannten Pflichtfach Tonsatz und für sämtliche Studiengänge. Sie kann eher analytisch, eher synthetisch – unterschiedliche Erfahrungsbereiche verknüpfend – oder praktisch ausgerichtet sein. An drei Werken aus der jüngsten Geschichte des Komponierens werden die drei Zugangsweisen erprobt.
Bevor ich die Modelle vorstelle, ein paar Worte zu den Originalen und deren Urhebern. Die Stücke entstanden in einem Zeitrahmen von vier Jahren: 2001 (Thomas Adès’ Orchestergesang mit dem Titel Brahms und Jörg Widmanns Doppelkonzert Polyphone Schatten für Viola, Klarinette und Orchestergruppen) und 1997–99 (Olga Neuwirths Musiktheaterstück Bählamms Fest).[2] Die Komponisten waren damals ungefähr gleich alt; ihre Geburtsdaten liegen nicht mehr als fünf Jahre auseinander: 1971 (Adès), 1973 (Widmann), 1968 (Neuwirth). Wahrscheinlich kann man sagen, sie gehörten derselben Generation an.
Die drei Stücke spielen mit Assoziationen an die neuere Musikgeschichte: an das spezifische Material und den unfeinen Klang von Brahms’ 4. Symphonie (Adès), an die Klangfläche zu Beginn und am Schluss von Richard Strauss’ Alpensinfonie (Widmann) und an die Liedzitate in Alban Bergs Wozzeck (Neuwirth). Auch die Charaktere der Stücke ähneln sich; ich nenne sie vorläufig humoresk (Adès) – eine Art Cartoon in Öl –, kapriziös (Widmann) und grotesk (Neuwirth). In allen drei Fällen handelt es sich um Werke mit Orchester; doch weisen die Besetzungen beträchtliche Unterschiede auf: bei Adès beinahe ein Standardorchester, bei Widmann eine besondere Zusammenstellung der Instrumente, bei Neuwirth als Ausgangspunkt eine große Standardbesetzung, die extrem zum Kammerensemble ausgedünnt und dann mit Zusatzinstrumenten versehen ist. Alle drei Stücke sind offenbar ohne systematische Zeitstrukturierung und Tonhöhenkalkulation komponiert, aus dem Bauch heraus, dem Ohr folgend, auch ein wenig: aus dem Ärmel geschüttelt. Dieses Schreiben ist aber durchsetzt von den Ergebnissen einer mehr oder weniger ausgeprägten Sammelwut, dem Zusammentragen und der frappierenden Zusammenfügung des Gefundenen, bei Neuwirth bis hin zum Sammelsurium, wie in einer Wunderkammer.
Ich werde jeweils nur eine bestimmte kurze Partie der Stücke herausgreifen. Aspekte der Formbildung bleiben daher unberührt. Im Zentrum steht in allen drei Fällen Klangliches, dessen beide Hauptebenen anlangend: Tonhöhe und Klangfarbe.
Nach meinen Hinweisen auf gewisse musikgeschichtliche Assoziationen könnte man annehmen, es solle von Modellen im Sinne frei gewählter kompositorischer Vorbilder oder Leitideen die Rede sein, solchen, an denen die Komponisten sich ab- oder auf die sie zuarbeiteten. Das Verhältnis zu solchen Vorbildern und Leitideen wird gewiss auch zu besprechen sein. Doch geht es mir darum, aus dem um 2000 Neu- und nicht etwa aus einem Nachkomponierten etwas zu entwickeln, das – natürlich vereinfachend – in seiner Struktur oder seiner Funktion dem entsprechenden Original analog ist. Die Modelle – gewissermaßen Nachbauten der Originale – sind zweckbestimmt:
Die Befragung eines nach dem Original konstruierten Modells soll neue Erkenntnisse über das Modell liefern, aus denen hypothetisch auf entsprechende Eigenschaften des Originals geschlossen werden kann (Modell als Werkzeug der Analyse).
Das Modell soll der Demonstration dienen. Was ich von dem Original weiß, wird für Zwecke der Lehre anknüpfend an Erfahrungen und das aktuelle Wissen des Schülers oder Studenten umcodiert (Modell als Medium einer Übertragung).
Das Modell soll der Variation und Projektierung dienen. Man abstrahiert bestimmte Züge vom Original und erprobt die Auslegungen, die das Modell zulässt (Modell als Leitfaden einer Stilkopie).
Modell zu Thomas Adès, Brahms
Zu den Tonhöhenverhältnissen: Der Vorrat einer Durtonleiter wird kombiniert mit den Vorräten zweier anderer Durtonleitern, die jeweils eine kleine Terz darüber und darunter liegen, zum Beispiel: zu C-Dur kommen Vorräte von A-Dur und Es-Dur hinzu. Die Tonvorräte sind in Terzenketten angeordnet und können gleichzeitig erklingen, und zwar so, dass sich immer auch vertikal Terzen ergeben. Die Vorräte beginnen zu rotieren, werden erweitert und mit Skalen verzahnt.
Zur Instrumentation: Die besonderen Merkmale des Gebrauchs eines Standardorchesters – in diesem Fall durch Brahms – werden hervorgekehrt und verschärft. Adès Vorgehen zehrt – wie vielleicht auch das andere, nicht ganz neu klingende, z.B. an Strawinskij erinnernde harmonische Verfahren – von einem konkreten Vorbild, Muster oder eben Modell, das seinerseits aus zweiter Hand stammen kann, aber nicht mehr derart wahrgenommen wird.
Wie gelange ich zu dem Modell? Inwiefern vereinfacht es das Original? Welche Fragen an das Original legt es nahe? Inwieweit werden meine Fragen nun vom Modell bestimmt? Für Adès’ Stück wirkt Brahms’ 4. Symphonie wie ein Filter. Doch es gibt einen weiteren Filter, den das klangliche Material des Stücks passieren muss: den Text, der zu singen ist, und das Wissen um dessen Herkunft. Adès hat sein Stück Alfred Brendel zum 70. Geburtstag gewidmet; Brahms für Bariton solo und Orchester basiert auf einem Gedicht Brendels:
Wenn nachts das Gespenst erscheint
und sich ums Klavier herumtreibt
dann wissen wir
Brahms ist gekommen
Das wäre nicht weiter schlimm
wenn nicht dieser Zigarrengeruch
das Musikzimmer tagelang verpesten würde
schlimmer noch
ist allerdings sein Klavierspiel
Dieses Gewühl durch Akkorde und Doppeloktaven
weckt sogar die Kinder aus ihrem Tiefschlaf
Schon wieder Brahms
heulen sie
und halten sich die Ohren zu
Verstimmt und rauchend
steht der Flügel da
wenn Brahms sich erhebt
Brahms
sagt er mehrmals
mit klagender Tenorstimme
bevor er verschwindet[3]
Nun, die Orchesterbesetzung enthält kein Klavier. Das Orchester ist im Sinne Brahms’ normal besetzt, es gleicht dem seiner 4. Symphonie. Über gewisse Erweiterungen des klassischen Standardorchesters, wie sie auch schon beim späteren Beethoven vorkommen – das zweite Hornpaar, das Posaunentrio, das Kontrafagott, Piccoloflöte und Triangel –, geht Adès lediglich mit der Erweiterung der Schlagwerks um einen Amboss und metallene Backtröge hinaus. Doch ist charakteristisch und nicht mehr neutral – denn Adès verschärft hier gewisse Züge der Instrumentenverwendung Brahms’ –, dass der Einsatz der Nebeninstrumente multipliziert wird und diese schließlich ihre Hauptinstrumente verdrängen. Statt des einen Kontrafagotts, das sich den zwei üblichen Fagotten hinzugesellt, haben wir am Ende drei Kontrafagotte, aber kein normales Fagott mehr, statt der einen Piccoloflöte, die neben die große tritt, hören wir am Ende zweimal Piccolo und keine große Flöte mehr. Und so, in dieser Polarisierung des Klangs, endet das Stück. Das Auseinanderdriften der Register am Schluss, die Präferenz des unsaubereren Tons der Nebeninstrumente bildet natürlich ab, wie verstimmt das Klavier nach dem Tastengewühl ist. Auch der Umgang mit den Instrumenten ist anders als bei Brahms, besonders an das Blech werden viel höhere spieltechnische Anforderungen gestellt. Es wird in der Tiefe über das hinaus gefordert, was ihm naturgemäß leicht fällt. Überhaupt sind die tiefen Regionen extrem hervorgekehrt. Und natürlich schreibt Adès für die Hörner nicht mehr wie Brahms: als seien sie eigentlich Naturinstrumente. War es nicht, als wollte Brahms das Orchester klingen lassen wie ein Klaviertrio, das in einem Etablissement in der Großen Freiheit Nummer Soundso aufspielt, mit zu viel Tiefe, mit zu viel Höhe, schrill und dumpf in einem, mit ausgesparter Mitte und ohne verschmelzenden Klang? Und so hat Adès den Kneipenklaviertrioklang von Brahms’ Orchester genutzt, um dem Klavierspieler Brendel zu huldigen.
Beispiel 1: Thomas Adès, Brahms, T. 1–8
Ein Gespinst von Dezimenparallelen, mit instrumentalen Resten primär von den Holzbläsern gespielt. Streicher färben bloß einzelne kürzere Abschnitte der Terzenketten und heben durch Flageoletts oder liegenbleibende Töne Einzelheiten der Terzenkette heraus, z.B. die Anfangstöne der Ketten h3 und a3 (je zu Beginn der Takte 1 und 2).
Die eine, höher gelegene Terzenkette besteht, wie das Modell schon verriet, zunächst ausschließlich aus Tönen der C-Dur-Skala, die andere aus Tönen, die zu den C-Dur-Tönen immer eine Dezime bilden und die zuerst dem Vorrat von A-Dur, dann dem von Es-Dur zugerechnet werden können. Derjenige Vorrat, welcher den der drei Tonvorräte symmetrisch ergänzte und nach dessen Vorhandensein mich das Modell fragen lässt (das insofern eine erkenntnisleitende Aufgabe übernimmt), der Fis-Dur-Vorrat, fehlt hier noch. Fast ist es, als würde Brahms nur bearbeitet, als arbeitete sich Adès an ihm als Modell ab.
Da Brahms in e-Moll schreibt, hält sich die ebenfalls mit h beginnende Terzenkette, die die Geigenstimme zeigt, wenn man die steigenden Sexten in fallende Terzen verwandelt, natürlich nicht an einen C-Dur-Vorrat, und auch die untere Terzenkette, die von den jeweils zweiten Holzbläsern (Flöte, Klarinette, Fagott) gespielt wird, bleibt in der Tonart. So wie Adès auf die Besetzung der gesamten 4. Symphonie zurückgreift und sich nicht auf die des ersten Satzes beschränkt (Piccoloflöte und Triangel kommen dort ja nur im dritten, Kontrafagott und Posaunen nur im letzten Satz vor), so nutzt Adès auch ein Element, das den gesamten Schlusssatz der Symphonie bestimmt: eine anfangs symmetrische Skala, die dort für das Passacagliathema modelliert wird (2-1-2-1) und die Brahms vorgreifend bereits im Hauptsatzthema selber andeutet (vgl. T. 10ff.).[4] Die Spitzentöne der Terzenketten bei Adès – h3 (T. 1), a3 (T. 2), g1 (T. 3), f2 (T. 3 Ende), es1/es2 (T. 4), des1 = cis1 (T. 4 Ende), dann weiter h und a (T. 5 Anfang) – summieren sich zu einer anderen Skala, einer Ganztonleiter, die spätestens ab Takt 3 (g1) erkennen lässt, wie unwichtig hier Oktavlagen sind, das heißt auch, wie sehr Terzen abwärts und ihre komplementären Sexten aufwärts zu einer Intervallqualität ineinander fließen: Vordergrund und Hintergrund, oben und unten werden schwer unterscheidbar. Ab Takt 4 ist das Undeutlich-Werden der Lagen auskomponiert, nachweisbar etwa an dem es auf der zweiten Halben, welches in drei Oktavlagen erscheint: es2 (Klar. 1), es1 (Klar. 2), es (Fag. 1). Immerhin wird allein die mittlere Oktavlage von den zweiten Violinen und den Celli verdoppelt. Den acht Tönen, die diese übervollständige Ganztonleiter konstituieren, schließen sich sieben an, die die andere Transposition der Ganztonleiter durchlaufen: gis, fis, e, d (T. 5–6), und folgend c, b, as. Die nächsten vier Skalentöne bringen wieder die zuerst gehörte Transposition. Im Kanon dagegen verschoben erscheint – eine Sexte darunter – eine Mittelstimme. Nun zeigt sich eine weitere Eigenschaft, die im Modell benannt wurde: das Ineinander von Terzenkette und Skala.
Beispiel 2: Thomas Adès, Brahms, Particell T. 5–8[5]
Ab Takt 5 ist zu jedem ersten, dritten, fünften usw. Ton der Skalen ein Bass hinzugefügt (Kontrafagott und zum Teil Kontrabässe), der wiederum in Terzen fällt: Fis, D, H, G, E, Cis = Des, B. Üblicherweise würde man sagen, dass sich auf jedem ersten, dritten, fünften usw. Skalenton der Oberstimmen ein Quartsextakkord bildet. Doch hier scheint es – bei aller Unentschiedenheit der Oktavlagen – auf die genauen Positionen der Akkordtöne anzukommen: Über dem Bass bilden sich nur dort Quarten, wo es wegen des begrenzten Tonumfangs der Instrumente unumgänglich ist, nämlich bei den letzten beiden Klängen. Es ist, als sollten die Klänge eher als Stapelung zweier Sexten gehört werden. Der Satz sinkt bis zur äußersten unteren Grenze des Tonumfangs herab, der mit diesem Instrumentarium realisierbar ist. Und die Wechsel der Instrumente, die aufgrund ihres begrenzten Tonumfangs nötig werden, wenn sich die Skala weiter hinab bewegt, sind wieder durch Verdopplungen kaschiert und undeutlich gemacht.[6]
Die Elemente dieser durch Terzfälle und Skalen zweifach bestimmten Introduktion, welche ohne jede Zurückhaltung auf das Muster – Brahms’ 4. Symphonie mit deren Terzen im ersten und der Skala im letzten Satz – rekurriert, werden hier wie zwei Kämme ineinander geschoben. Die Takte 1 bis 4 sind von Terzfällen bestimmt, die Skalen erscheinen nur als Resultat, alles bewegt sich nach unten, es wird lauter. Die Takte 5 bis 8 aber sind primär von Skalen gekennzeichnet. Die Terzen im Bass wirken nur mehr als ein Moment von Trägheit, und die viel schwächeren Terzbewegungen aufwärts, die es hier noch gibt, korrelieren mit einer Umkehrung der Dynamik.
Das Modell in seiner naturgemäß vereinfachenden Formulierung provoziert Fragen. Wie systematisch wird die Terzendurchwanderung denn gehandhabt und welche prinzipiellen Möglichkeiten einer Verquickung von Terzenketten und Ganztonleitern bieten sich, wenn auf kleine Terzen nicht überhaupt verzichtet werden soll? Der Blick auf das Original erhält durch das Modell eine Perspektive. Er überzieht das Stück mit einem Netz von Quadranten. So lässt das Modell die Streicherfiguren in den Takten 3 und 4 als sekundäres Phänomen, als Resultat einer Kombination erscheinen.
Beispiel 3: Thomas Adès, Brahms, Particell, Celli 2, T. 3–4, übergehend in Bässe 1, dann 2
Sie bilden sich dadurch, dass bestimmte – nur verdoppelnde und nicht verdoppelte – Instrumente einzelne Töne der Terzenkette festhalten und an anderer Stelle wieder in die ohne sie fortgeführte Kette einsteigen. Es entsteht die Kombination von großer Terz abwärts und Halbton aufwärts. In dem auf die zitierte achttaktige Introduktion folgenden Hauptteil wird diese Kombination dann eine zentrale Rolle spielen. Mit ihr bestreitet der Bariton seinen Auftritt; abermals sind komplementäre Intervalle integriert, der Umfang seiner Stimme reichte sonst nicht aus:
Beispiel 4: Thomas Adès, Brahms, Bariton-Solo, T. 9–18
Der Sänger bringt mithin eine komplette oktotonische Skala (hier die 3. Transposition des 2. Modus von Messiaen). Er durchläuft sie zweimal, das zweite Mal in der halben Zeit, wobei die komplementären Sexten konsequent an die Stelle der Terzen des ersten Durchlaufs, die Septimen an die Stelle der Sekunden treten. Dass die Komplementärintervalle für einander eintreten können, wird auskomponiert. Doch ist der Abschnitt keineswegs vollständig aus dem oktotonischen Vorrat gebaut. So führen die Klarinetten anschließend die beiden Transpositionen der Ganztonleiter vor (T. 23), rhythmisch abwechselnd in Sechzehnteln oder triolisch ineinander verstrickt (2 oben, 2 unten).[7]
Beispiel 5: Thomas Adès, Brahms, Klarinetten T. 22–24
An die Stichpunkte zur Analyse ließen sich grundsätzliche Überlegungen anschließen. Die der Harmonielehre zugrundeliegende Vorstellung, ein Akkord und seine Umkehrung sowie die möglichen Vertauschungen der Oberstimmen bei gleich bleibendem Basston seien identisch oder nur Varianten voneinander, wird suspendiert. Es scheint nun in der Vertikalen auf die Lage der Töne genauer anzukommen. Damit wird zugleich eine Vorstellung suspendiert, die für die Untersuchung von Tonhöhenrelationen in atonaler Musik lange bestimmend war: dass ›eigentlich‹ irrelevant sei, was oben, unten oder in der Mitte liegt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Adès’ Komposition etwa zeitgleich entstand mit ausgearbeiteten Versionen der Neo-Riemannian theory, die sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten aus der Pitch class set theory heraus entwickelt hat, für welche diese Irrelevanz doch noch zentral war. Der Neo-Riemannian theory und dem, was sich an Adès’ Stück beobachten und modellhaft formulieren lässt, sind zumindest zwei Punkte gemeinsam:
Die Bedeutung von Terzschichtungen.
Die nicht-hierarchische symmetrische Teilung der Oktave in äquidistante Segmente als Grundlage der Tonvorräte.
Modell zu Jörg Widmann, Polyphone Schatten
Das zweite Modell wurde bestimmt als eine Umcodierung für Zwecke der Lehre. In diesem Fall bietet sich eine Umcodierung von Hörbarem in Sichtbares an: Ich möchte dies demonstrieren an einer Progression zweier Akkorde, die das Stück abschließen sollen, erstens eines naturtönigen Klangs, der nahezu ›auf einmal‹ eintritt, und zweitens dessen Kehrseite, einem nunmehr langsam und sukzessive aufgebauten Klang. Wieder scheint es für den Abschnitt, den ich aus Jörg Widmanns Original ausgewählt habe, ein Modell vor dem Original gegeben zu haben: Richard Strauss’ Alpensinfonie. Doch vielleicht wirkte Strauss’ Stück auf Widmann gar nicht modellhaft und es käme weniger auf das konkrete Beispiel an als darauf, dass es als Modell benutzbar ist, da dieses Stück eine bestimmte Instrumentationstechnik in hervorragender Weise vorführt. Die Orchesterbesetzung definiert die Bedingungen des Instrumentierens: Neben die Soloinstrumente, eine A-Klarinette und eine Bratsche, treten vier Flöten, vier Klarinetten (dritte und vierte sind alternativ auch mit Bass- und Kontrabassklarinette auszutauschen), keine Doppelrohrblattinstrumente[8], vier Hörner, viermal schweres Blech (zwei Trompeten, zwei Posaunen), kein Schlagzeug, chorisch besetzte Bratschen (10), Celli (8), Bässe mit auf Subkontra-H gestimmter fünfter Saite (6), keine Violinen. Damit hat Widmann 18 Streichinstrumente mit einer C-Saite. Dies wird ausgebeutet. Kurz vor Schluss baut sich nach dem Tumult zwischen ›cantus firmus‹ und Solistenvirtuosität in bis zu vierfachem Sforzato der erste der beiden Schlussakkorde auf, ein Akkord aus der Naturtonreihe über dem großen C der Celli.
Beispiel 6: Jörg Widmann, Polyphone Schatten, T. 280–284
Mit einer kompletten Darbietung aller bis dahin neuen Tonqualitäten[9] reicht die Reihe bis zum 17. Naturton über C, dem cis3 in der Trompete. Darüber liegende weitere Töne oktavieren bloß, so dass das nun nicht mehr ganz vollständige Spektrum noch den 26. Naturton umfasst (a3 in der Flöte). Wir ahnen, wie sich Widmann die Transformation optischer in akustische Phänomene vorstellt: Von dem dröhnenden Naturtonklang bleibt bei seinem Ausknipsen ein Rest zurück: In Takt 282 erscheint der Akkord noch einmal ›subito piano‹ in den Streichern, diesmal jedoch ohne die Grundierung durch die ersten Töne der Partialtonreihe. Dann geht der Naturklang einstimmig mit zwei Halbtonschritten zu einem Nullpunkt über, in einen Ton, den alle hier beteiligten Streicher als natürliches Flageolett auf ihrer höchsten Saite spielen können. Aber nicht wegen des naturtönigen Klangs habe ich die Alpensinfonie assoziiert, sondern wegen des Klangs, der ihm folgt und der dem naturtönigen Klang wie geblendet hinterher trottet.[10] An jenem Stück, das aufgrund seiner extremen Besetzungsstärke (und aufgrund von Vorbehalten gegen Strauss’ ästhetische Naivität) heute selten gespielt wird, bleibt nichts mehr zu deuten: ›Nacht‹ wird abgebildet mit dem in mehreren Oktaven gehaltenen b, von dem aus eine Tonleiter in natürlichem Moll abwärts so präsentiert wird, dass die Summe der Töne einen Cluster ergibt. Nur das konturierende Fagott spielt sämtliche Töne, die neu eintreten, die anderen Spieler halten die Töne fest. Ähnlich bei Widmann ab Takt 291:
Beispiel 7: Jörg Widmann, Polyphone Schatten, T. 285–308
Der zweite, erwartungsgemäß mehr mollartige Akkord besteht aus sämtlichen Tönen, die die Soloinstrumente spielen. Diese tun hier, was Strauss’ Fagott tat: Sie konturieren den Klang. Hinzu kommen die ersten beiden Töne: H und C (sie sind auf der A-Klarinette bekanntlich nicht mehr drauf). Im Folgenden wirft jeder neu eintretende Ton einen langen Schatten: eine auskomponierte Pedalisierung. Das Modell, welches sich in Analogie zu Strauss bilden lässt, erscheint auf den Kopf gestellt. Der Klang wird von unten nach oben aufgebaut. Die Umcodierung in einer optischen Analogie bestehen zu lassen, regt das Titelwort Schatten selber an. Gewiss lohnt sich die Untersuchung der ganzen Serie von Lichtstudien, zu denen das Doppelkonzertstück als zweites von fünf gehört. Widmanns »Beschäftigung mit Licht, Farbe, Perspektive, Proportion und den jeweiligen klanglichen Entsprechungen« war von dem Wunsch getrieben, »eine objektivere Ausdruckswelt zu suchen, eher von der Bildenden Kunst geprägt.«[11] Die Lichtmetapher (der Lichtcode) bietet Möglichkeiten, Widmanns Klänge und ihr Verhältnis zueinander präziser zu imaginieren.
Modell zu Olga Neuwirth, Bählamms Fest
Nun zu dem dritten Zweck, den ein Modell erfüllen kann. Ich nenne, da ich mich auf Aspekte des Timbres konzentrieren will, lediglich die Besetzung desjenigen Ausschnitts von Neuwirths Stück, den ich hier besprechen werde. Es handelt sich um eine Verwandlungsmusik, und so gibt es keine Gesangsstimmen. Neuwirth setzt 21 Spieler eines fast kammermusikalisch besetzten Orchesters ein, das jedoch Nebeninstrumente und einige Sonderinstrumente enthält: Piccolo, Klarinette, Bassklarinette, Sopransaxophon, Fagott, Horn, kleine und normale Trompete, Posaune, Tuba, alle einfach besetzt, zweimal Schlagwerk mit unbestimmtem, weitgehend vom Spieler wählbarem Instrumentarium, E-Gitarre, Akkordeon, Celesta und solistisch besetzte Streicherstimmen für zwei Geigen, eine Bratsche, zwei Celli, einen Bass.[12] Das Modell, formuliert als Anweisung zum Selberschreiben:
Finde ein mehrteiliges ›jüngeres‹ deutsches Volkslied, unterwirf es einer Transformation seines Zeitablaufs und schreibe zwei an üblicher Volksliedharmonisierung orientierte Nebenstimmen dazu. Instrumentiere es ›gespenstisch‹. Kombiniere damit Fragmente eines oder zweier nicht eindeutig durmolltonaler jiddischer Lieder und lasse sie in einer von der des deutschen Liedes weit entfernten Tonart erscheinen. Unterlege den Liedern zwei verschiedene Schichten, welche aleatorisch – aus Fertigteilen – oder quasi seriell gestaltet sein können. Es soll keine Taktart sich als herrschende durchsetzen.
Die Handlungsanweisung für die Stilkopie lässt allerlei Wege offen, wie die divergenten Materialien zueinander in Beziehung treten können. Natürlich will das Modell keine Erklärung des Originals sein und natürlich rührt sich das schlechte Gewissen des Lehrers, der das Original verkürzen muss, wenn er Handeln möglich machen will. Das Modell möge, so hofft er, ein bestimmtes kompositionstechnisches Verfahren mit (außermusikalischen) Inhalten zusammenführen, welche die vorgegebenen Lieder mit ihren, in der Stilkopie wie in Neuwirths Verwandlungsmusik unterdrückten bzw. zu unterschlagenden Texten evozieren. Das Libretto gibt für den Ausschnitt, von dem ich ein Modell für den Tonsatzunterricht – hier für Zwecke des Schreibens einer Stilkopie – abgezogen habe, die folgende szenische Anweisung:
Die Heide verdunkelt sich. Der Salon fährt ein Stück in den Boden hinunter, so daß der Raum niedriger wird, dafür wirken die Personen und Geschöpfe, die dort auftreten, größer. Es sind Wesen, die inzwischen erwachsen geworden sind, nur der Raum ist eben klein geblieben. Die Wände/Draperien fallen zu Boden und was dahinter zum Vorschein kommt, ist eine Kinderzimmertapete. Der Luster des Salons wird nach oben gehoben, so daß ein Loch im Dach bleibt, durch das der Mond zu sehen ist. Von Zeit zu Zeit wirbeln Schneeflocken durch das Loch herein und auf das Schaukelpferd, das da steht, die Flocken machen dem Pferd eine prachtvolle weiße Mähne. In einem Winkel steht eine Spieluhr, verdunkelt von Spinnweben. Das Zimmer ist überhaupt alt und desolat. Alles Spielzeug alle Bücher sind zerrissen und verkommen. Geisterhafte Atmosphäre. Auf einem Tisch ein leerer Käfig. Zerfetzte Kleider, alles so, als hätten hier grausame Kinder gewütet. Kaltes, helles Morgenlicht.[13]
Das Notenbeispiel bringt lediglich eine aus der Mitte der Verwandlungsmusik herausgeschnittene Partie.
Beispiel 8: Olga Neuwirth, Bählamms Fest, T. 305–308
Überwältigend ist der Eindruck des Chaotischen und der Kälte. Zugleich entsteht Nostalgie. Man ahnt die Zitate, auch wenn man sie nicht erkennt.
Erklärung
Bei dem deutschen sogenannten jüngeren Volkslied handelt es sich um »Es tanzt ein Bi-ba-butzemann« (das Wort bedeutet übrigens ›Kinderschreck‹, auch ›Kinderfresser‹; das könnte Elfriede Jelinek, der Librettistin von Neuwirth, gefallen haben). Es hat eine sogenannte dreiteilige Liedform; es zeigt selber, wovon der Text spricht: »in unserm Kreis herum«, und Neuwirths rhythmisch-metrische Transformation der Melodie, die anfangs langsamer gespielt wird, dann mit unregelmäßig angezogener Geschwindigkeit und am Ende im alten Tempo, streicht das Zurückkehren an den Anfang nochmals heraus. Das Lied steht hier in Fis-Dur. Violine (vierteltönig scordiert, mit Flageoletts und Glissandi) und Fagott spielen in einer Anspielung auf das ›Wiener Unisono‹ die komplette Melodie. Nebenstimmen dazu erklingen in Horn und Bassklarinette.
Die ebenfalls rhythmisch-metrisch transformierten jiddischen Lieder[14] stehen bei Neuwirth in einem natürlichen d-Moll und in a-Moll. Fragmente erklingen z.B. deutlich hörbar am Ende des Abschnitts in der Bratsche; in Notenbeispiel 10 ist ihr Beginn ab Takt 306 zu erkennen. Das Ende des anderen jiddischen Liedes wird ab Takt 305 noch im System des Sopran-Saxophons sichtbar.
Die beiden Schichten: a) aus Fertigteilen (ein diffuser halb-aleatorischer Klanggrund), dort, wo die Partiur die Schlängellinien für Tuba, Schlagwerk I und II und E-Gitarre zeigt, b) eine andere quasi serielle Schicht liegt in den beiden Celli, eine Rotation aus einer 14-tönigen Reihe angedeuteter Flageoletts, die mehr perkussiven Effekt haben sollen, als dass die Tönhöhen entscheidend sein könnten.
Die Formulierung von Handlungsanweisungen ist immer respektlos, es ist, als wollte man die Originale auf Kleinkunst reduzieren, auf das, was entsteht, wenn von ihnen lernen will, wer noch nicht Meister ist. Der Schritt, der nach dieser Skizze zu tun wäre: die drei Arten, Modelle zu nutzen, auf jedes der erwähnten Stücke anwenden. Die Ausschnitte aus den drei Stücken lassen sich in einer besonderen (vielleicht sogar angemessenen) Weise hören, wenn man das Vorgefundene (das Angesammelte oder Zitierte), mit dem hier gearbeitet wird, von dem Umgang mit ihm unterscheidet. Aus der Beobachtung des Umgangs mit dem Vorgefundenen lassen sich nicht unmittelbar, aber über ein Modell Handlungsanweisungen für das eigene Schreiben ableiten. Man ist animiert, mit ähnlichen Materialien Ähnliches anzustellen, herumzuprobieren mit Vorgefundenem. Schon die Urheber taten es.
Anmerkungen
Dieser Text ist die erweiterte Fassung eines Beitrags, den die Autorin im Rahmen der »Fachtagung Musiktheorie und Hörerziehung – Unterrichtsangebote für Musikpädagogen« gehalten hat, die vom 10. bis zum 11. März 2007 an der Landesmusikakademie in Sondershausen stattfand. | |
Die Uraufführungen: Adès: 2001, Widmann: 2002, Neuwirth: 1999. | |
Copyright Alfred Brendel 1998, zitiert nach Adès’ Partitur. Die letzte Zeile lautet bezeichnenderweise in der englischen, von Brendel autorisierten Übersetzung: »before leaving through the kitchen door«. | |
Hinsichtlich einer Möglichkeit diesen Konnex aufzufassen vgl. Schmidt 1980, 218f. | |
Angaben zur Dynamik (und teilweise auch Artikulation) wurden in den Beispielen 2 bis 5 weggelassen. | |
Z.B. Ende T. 6 Viola plus Klar. plus Fagott 1. | |
Ein Hinweis zum Potential des Aufeinanderprallens von Terzenketten und Skalen: Bei Studierbuchstabe J beginnt das Stück wieder wie von vorn. Doch wie bei diesem Wiederaufgreifen des Beginns die Instrumentierung in ihr Gegenteil verkehrt wird, so nimmt auch das Kursieren der diastematischen Materialien einen anderen Verlauf. | |
Mit dem Einsatz von Doppelrohrblattinstrumenten war Widmann bis vor kurzem äußerst zurückhaltend. Seine Aussonderung bestimmter Instrumentenarten verrät die Neigung, Ähnlichkeit zu potenzieren. Gerade die verschmelzungsfähigen Flöten und Klarinetten kombiniert er mit den zwei Soloinstrumenten, die gern als Alternativinstrumente gebraucht wurden: Bratsche versus A-Klarinette. | |
Manche Tonqualitäten kommen nicht in sämtlichen Oktavlagen vor, in denen das Naturtonspektrum sie tatsächlich enthält. Es fehlen unter dem 17. Partialton jedoch lediglich g und e1, der dritte und der fünfte. Hinzu kommt die untere Oktavierung des ersten Naturtons durch die Bässe. | |
Das Stück wurde 1915 in Berlin uraufgeführt. Nach der Generalprobe soll Strauss gesagt haben: »Jetzt endlich hab’ ich instrumentieren gelernt.« | |
Jörg Widmann zu den Lichtstudien, insbesondere zu Polyphone Schatten, auf der Website des Schott Verlags: http://www.schott-musik.de/shop/9/show,168984.html. Ich danke Aristides Strongylis für den Hinweis auf diese Seite. | |
Die spektakulären Sonderinstrumente, für die Olga Neuwirth auch in anderen Werken eine besondere Vorliebe zeigt, wie Viola d’amore und Theremin vox, schweigen in diesem Abschnitt. | |
Jelinek 2003, 21. | |
Es handelt sich um die Lieder »Kinder-jorn« (Kinderjahre) und »Hujet, huljet, kinderlech« (Freut euch, freut euch, Kinderchen), Musik & Text: Mordechaj Gebirtig, in: Manfred Lemm: Mordechaj Gebirtig. Jiddische Lieder, Wuppertal: Edition Künstlertreff 1992, 44 und 46. Ich danke Elisabeth Engelken für die Eruierung der Herkunft der jiddischen Lieder. Eine detaillierte Analyse von Neuwirths Verwandlungsmusik ist nachzulesen bei Engelken 2005, 67–82. |
Literatur
Engelken, Elisabeth (2005), Formen der Verfremdung in Olga Neuwirths Oper ›Bählamms Fest‹, wissenschaftliche Hausarbeit, Leipzig (unveröffentlicht).
Jelinek, Elfriede (2003), Libretto (nach der Übersetzung von Heribert Becker) zu: Olga Neuwirth, Bählamms Fest (1999), Musiktheater in 13 Bildern nach Leonora Carrington, in: Begleitheft zur CD-Einspielung, Kairos Production.
Lemm, Manfred (1992), Mordechaj Gebirtig. Jiddische Lieder, Wuppertal: Edition Künstlertreff.
Schmidt, Christian Martin (1980), »Einführung und Analyse«, in: Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4, Opus 98, Taschenpartitur, Mainz: Goldmann/Schott.
Widmann, Jörg, Polyphone Schatten, http://www.schott-musik.de/shop/9/show,168984.html
Noten
Thomas Adès: Brahms for Baritone and Orchestra, Op. 21 (2001). Text by Alfred Brendel, London: Faber Music Ltd. 2001.
Olga Neuwirth: Bählamms Fest. Musiktheater in 13 Bildern. Text: Elfriede Jelinek nach Leonora Carrington. 1997–99. UA-Partitur. Sy. 3356, München: G. Ricordi & Co. 1999.
Jörg Widmann: Polyphone Schatten (Lichtstudie II) für Viola, Klarinette in A und Orchestergruppen, Mainz: Schott Musik International 2002.
Hochschule für Musik und Theater ›Felix Mendelssohn Bartholdy‹ Leipzig [University of Music and Theatre ›Felix Mendelssohn Bartholdy‹ Leipzig ]
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