Gehörbildung in Australien
Doris Geller
Unsere große Reise zum anderen Ende der Welt stand bevor. Mein Mann und ich wollten im Februar/März 2006 fünf Wochen in Südaustralien verbringen. Unmittelbar danach, Anfang April, würde ich an zwei Universitäten in Connecticut und Massachusetts Workshops zum Thema Intonation abhalten. Was lag da näher, als mich vorher auch in Australien einmal umzusehen und im Gespräch mit Kollegen in Erfahrung zu bringen, wie es dort mit der Ausbildung im Fach Gehörbildung steht. Dabei konnte ich mich als Vorbereitung für den USA-Aufenthalt schon einmal im Fachenglisch üben.
Vermittelt durch Alexandra, eine aus Australien stammende Gesangsstudentin der Mannheimer Musikhochschule, deren Freundin in Adelaide Gehörbildung unterrichtet, kam ich in Kontakt mit Emily Kilpatrick, einer 23jährigen Studentin der Musikwissenschaft am Elder Conservatorium of Music in Adelaide. Sie ist gerade dabei zu promovieren, in ihrem Alter dort völlig normal, wie ich vorher von der Freundin erfahren hatte. Nebenher hat sie den Lehrauftrag und unterrichtet ihre Kommilitonen im Fach Gehörbildung. Emily organisierte für meinen Mann und mich ein Treffen mit zwei Kolleginnen, Ruth Saffir und Joanna Drimatis. Später sollte ich auch noch Carl Crossin kennenlernen sowie die Fachgruppenleiterin Jenny Rosevear, die bezeichnenderweise Theoretikerin ist. Wir aßen zu fünft in einem der vielen Campus-Cafés zu Mittag. Es kam eine sehr lebhafte und fröhliche Gesprächsrunde zustande, bei der ich folgendes in Erfahrung bringen konnte, was uns deutsche Gehörbildner interessieren könnte:
Das Conservatorium ist Teil der University of Adelaide und bietet Ausbildungsmöglichkeiten für Performer, Musiklehrer, Schulmusiker und Musikwissenschaftler. Dirigenten sind nicht dabei, zum Dirigierstudium geht man nach Sydney oder Melbourne. Alle haben drei Jahre lang Unterricht in Gehörbildung mit einer Unterrichtsstunde pro Woche in Gruppen mit ca. 20 Studierenden. In Australien heißt das Fach übrigens ›Aural Training‹, wie in Großbritannien.
Es gibt einen festen Lehrplan, der die Unterrichtsinhalte aller Stufen auflistet. Diese entsprechen etwa denen an deutschen Hochschulen, mit dem Unterschied, dass auf einem sehr elementaren Level begonnen wird. Dies ist notwendig, weil die Vorbildung der Studierenden sehr unterschiedlich ist. Viele können z.B. keinen Bassschlüssel lesen. Die Bereiche Höranalyse und Intonationshören sind integrierter Bestandteil des Lehrplans. Die Lehrer benutzen ein vorgefertigtes Unterrichtswerk, welches aus Beispielheften und Tonträgern besteht, die mit Synthesizerklängen eingespielte Diktatbeispiele enthalten. Der Unterricht wird unterstützt durch das Eigentraining der Studierenden mit dem PC-Programm ›Auralia‹. Seit meinem Besuch kann auch das Intonationshören am Computer geübt werden, denn ich kam nicht umhin, ihnen ein INTON-Programm dazulassen.
Ich war natürlich neugierig geworden und wollte mir das Ganze einmal anschauen. So bekam ich die Gelegenheit, am nächsten Tag im Unterricht von Joanna, Ruth und Carl zu hospitieren. Bei Joanna im Level 2 gab es ein einfaches Kadenzdiktat sowie polyphones Hören anhand der Collagentechnik Charles Ives’. Ruth unterrichtete im Level 1 das Erkennen einfacher Rhythmuspatterns sowie die Halbton-/Ganztonunterscheidung. Carl übte im Level 4 mit den Studierenden ein dreistimmiges Gesangsstück ein, welches dann von der CD (s.o.) gespielt und als Vorlage zum Fehlerhören benutzt wurde.
Wie wird man in Australien Gehörbildungslehrer? Bei Emily war es folgendermaßen: Sie bekam eine Woche vor Semesterbeginn einen Anruf vom Chef-Musikwissenschaftler mit der Bitte, ab nächster Woche sechs Wochenstunden Gehörbildung zu unterrichten. Sie war etwas ratlos, denn bis dahin hatte sie Klavier studiert. Ruth unterrichtet Cello und gibt Gehörbildungsunterricht, weil sie Spaß daran hat. Joanna leitet das Orchester des Conservatoriums und ist Geigerin. Auch Carl spielt nicht Klavier, aber es gibt ja CDs und das Tonträgerprogramm. Ich weiß nicht, was die Theoriekollegen von dem Fach Gehörbildung halten, jedenfalls scheinen sie bis auf die Zugehörigkeit zur selben Fachgruppe nicht viel damit zu tun zu haben.
Unsere nächste Station war Sydney, wo uns an der University of New South Wales Dorottya Fabian empfing, bei der wir uns von Deutschland aus telefonisch angekündigt hatten. Sie ist Musikwissenschaftlerin und unterrichtet Gehörbildung, weil sie als einzige bereit war, diese Aufgabe zu übernehmen. Als gebürtige Ungarin arbeitet sie im Sinne Kodálys viel mit der Stimme. Sie besteht allerdings nicht auf der Verwendung der Solmisationssilben. Ich durfte eine Semesterprüfung miterleben: Die Studierenden hatten eine Reihe einfacher Durmelodien eine Woche lang vorbereitet und mussten einige davon einzeln vorsingen. Die Leistungen waren sehr unterschiedlich. An der Universität werden nur Lehrer ausgebildet, und das Fach Gehörbildung ist ein Nebenfach, welches dieser Bezeichnung alle Ehre macht.
Zu spät entdeckten wir das Sydney Conservatorium of Music, welches erst kurz zuvor in die University of Sydney eingegliedert worden war. Hier herrscht ein Niveau, wie man es von den besten deutschen Musikhochschulen her kennt. Zur Kontaktaufnahme mit der Theorieabteilung reichte unsere Zeit leider nicht mehr, wohl aber für den Besuch eines hervorragenden Konzerts im Conservatorium. Lehrkräfte und Studierende spielten zusammen die Gran Partita von Mozart und die Petite Symphonie von Gounod. Die Hochschulchefin, Kim Walker, saß am Fagott.
An der University of Melbourne schließlich hätten wir fast einen echten Theoretiker getroffen, wenn dieser nicht am Tag zuvor mit dem Motorrad schwer verunglückt wäre. So schickte Prof. Peter Hurley seinen Stellvertreter, Tim Mc Kenry, der Musikwissenschaft studiert und daneben Gehörbildung unterrichtet. Wir trafen uns zum Essen und plauderten. Dabei erfuhr ich, dass hier der Gehörbildungsunterricht nur ein Jahr dauert (was Mr. Mc Kenry natürlich bedauerte), dass aber bald die Studienpläne entsprechend geändert würden. Außer ihm gibt es dort noch eine aus Ungarn stammende Lehrerin, die den größten Teil des Unterrichts gibt. Der anschließende Rundgang durch die Räume vermittelte einen gediegenen und traditionsreichen Eindruck.
Vielleicht bekommt jetzt der eine oder andere Lust, sich z.B. in Melbourne zu bewerben, die Bezahlung ist nicht schlecht. Ich befürchte nur, dass die Australier keine Notwendigkeit sehen, einen ›richtigen‹ Gehörbildner einzustellen, denn es geht ja auch so. Auf der einen Seite die sehr jung promovierten Musikwissenschaftler mit Gehörbildung als Broterwerb, auf der anderen Seite die praktischen Musiker, die sich gerade mal bereit finden, das Fach zu unterrichten: Alle sind Autodidakten.
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