Geller, Doris (2006), »(M)eine musiktheoretische Bibliothek. Einige Gehörbildungslehrbücher aus persönlicher Sicht«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 3/2, 263–266. https://doi.org/10.31751/229
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/04/2006
zuletzt geändert / last updated: 01/12/2008

(M)eine musiktheoretische Bibliothek

Einige Gehörbildungslehrbücher aus persönlicher Sicht

Doris Geller

Welches ist mein Lieblingsbuch? Bestimmt kein Gehörbildungsbuch. Auch auf die einsame Insel würde ich dann sogar eher einen Krimi mitnehmen (ich lese nicht gern Krimis). Nein, zum Schmökern sind sie nicht geschaffen, diese Lehrwerke. In der Musiktheoriebibliothek finde ich da schon eher etwas, was ich wirklich gern lese.

Stellen wir die Frage also anders: Welches Gehörbildungsbuch benutze ich im Unterricht? Dies ist ganz leicht zu beantworten und gilt sicherlich für die meisten Kollegen ebenso: Das eigene ungeschriebene Lehrbuch ist immer noch das beste. Jeder hat doch seinen eigenen, in langen und erfahrungsreichen Unterrichtsjahren selbst erarbeiteten Lehrgang, den er schon immer einmal gern veröffentlicht hätte. Oder Sie etwa nicht? Wenn nur nicht so viel Arbeit damit verbunden wäre, daraus ein richtiges Buch zu machen!

Daher stelle ich eine andere Frage: Welche Bücher bieten mir Anregungen methodischer Art, welche liefern mir Beispielmaterial und welche kann ich Schülern zum eigenen Üben empfehlen? Die folgende Liste ist nach Themenbereichen geordnet.

A. Rhythmus

1. Wertvolle methodische Anregungen auf dem Gebiet der Rhythmusperformance (es gibt im Deutschen kein adäquates Wort, »Darbietung« klingt so nach psychoakustischem Experiment und »Ausführung« nach Verbrechensbekämpfung) gab mir Anna Marton mit ihrem Werk:

Anna Marton (1988), Das Rhythmus-Konzept, Zürich: Pan

Ich sah das Buch zum ersten Mal, als ich Frau Marton bei einem ihrer Rhythmuskurse persönlich kennenlernte. Leider ist Frau Marton in Deutschland nicht sehr bekannt. Sie ist eine renommierte Cellistin und hat viele Jahre am Konservatorium in Bern ein Fach namens Rhythmus unterrichtet. So etwas gibt es tatsächlich! Es ging dabei ausschließlich um die ›performance‹, nicht ums Diktat. Extremer Praxisbezug!

2. Eine richtig schöne Sammlung richtig ekliger Rhythmen zum eigenen Üben ist

F. van der Horst (1963), Maat en Ritme, 150 oefeningen in het uitvoeren van ritmen (gesprochen »150 ufeningen in het öttfuhren fan rittmen«), 2 Bde., Amsterdam: Broekmans en van Poppel

Daß es keine deutsche Ausgabe gibt, stört nicht weiter, weil das Werk weitgehend ohne Text auskommt. Vielleicht gab es früher mal einen Textteil dazu, dieser wäre dann vergriffen, genauso wie der melodische Lehrgang (leider!).

3. Auch der Däne Jörgen Jersild wartet mit einer ansehnlichen Sammlung von Rhythmen auf, die des Performedwerdens harren:

Jörgen Jersild (1956), Lehrbuch der Gehörbildung, Bd. 2., Kopenhagen: Hansen

4. Wer sich verschärft mit Überbindungen beschäftigen möchte, wird allerdings in den beiden letztgenannten Werken nicht so recht fündig. Ergiebiger ist in dieser Hinsicht

Monika Quistorp (1974), Übungen zur Gehörbildung, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel

Hier muß man sich die Rhythmusanteile herauspicken, denn die Hefte sind in gemischten Unterrichtseinheiten aufgebaut.

5. Ein weiteres schönes Rhythmus-Sammelsurium ist

Siegfried Fink (1982), Rhythmus-Schule, Frankfurt a. M.: Zimmermann

6. Was fehlt denn da? Richtig: ein Buch zur Methodik des Rhythmusdiktats. Wenn’s einer kaufen tät, tät ich ja eines schreiben ...

Es gibt aber etwas im Elementarbereich, und zwar das Heft

Michael Schmoll, Arbeitshilfen zur Musiktheorie: Rhythmus-Hören, Iserlohn: Musikverl. Antenne

Der Autor stellt eine notenlose Rhythmusnotation vor, die für Anfänger bzw. Nichtnotisten durchaus interessant sein kann.

B. Melodik/Blattsingen

Man muß unterscheiden zwischen Werken über tonale Melodik und Werken über freitonale bzw. atonale Melodik. Erstere sind oft mit einem Silbensystem verbunden, welches ich für den Unterricht in Deutschland nicht sinnvoll finde, soweit es die Arbeit mit Studenten betrifft.

Daher beschränke ich mich bei der tonalen Melodik auf reine Beispielsammlungen zum Blattsingen.

1. An älteren Werken wären vor allem das Heft von Bernhard Sekles, dem Lehrer Paul Hindemiths, zu nennen sowie das Lehrwerk von Paul Schenk:

Bernhard Sekles (1901), Musikdiktat, Mainz: Schott

Dieses übersichtliche Büchlein enthält ausschließlich viertaktige Melodien in Dur- und Molltonarten, wobei jedes der 30 Kapitel ein neues melodisches Problem erschließt. Etwas für Blattsing-Einsteiger.

Paul Schenk (1956), Schule des Blattsingens, Leipzig: Pro Musica

Neben zumeist Selbstgemachtem enthält diese Schule viele äußerst internationale Volkslieder (Ceylon, Litauen) in z. T. exotischen Skalen. Von jemandem, der die Mühe auf sich nahm, dieses komplizierte Melodienwerk durchzuarbeiten, kann man getrost sagen, daß er’s kann.

2. Zwei neuere Sammlungen, die gemäß ihrer Modernität ausschließlich Nicht-Selbstgemachtes enthalten (Volkslieder und Literaturbeispiele), lernte ich in den USA kennen:

Robert W. Ottman (1956), Music for Sight Singing, Englewood Cliffs: Prentice-Hall

Gary Karpinski/Richard Kram (2007), Manual for Ear Training and Sight Singing, NewYork: Norton

Zwar nicht systematisch, dafür aber sehr sympathisch sind Liederbücher jeglicher Art. Wer jeden Morgen vor dem Frühstück (oder auch danach) einige Liedchen vom Blatt trällert, erwirbt irgendwann wie von selbst gewisse Blattsingfähigkeiten. So hörte ich es jedenfalls von einigen professionellen Autodidakten, die gezwungen waren, es zu erlernen. Der Geheimtip lautet, wie in so vielen anderen Fällen auch: Tu es!

3. Zur freitonalen Melodik ist das Standardwerk schlechthin zu nennen:

Lars Edlund (1963), Modus novus. Lehrbuch in freitonaler Melodielesung, Stockholm: Hansen

Es ist furchtbar systematisch aufgebaut und sauschwer, also unbedingt zu empfehlen. Es wird von einer Fülle an Literaturbeispielen skandinavischer Komponisten beherrscht, was zur allgemeinen Horizonterweiterung beiträgt. Wer sich dieses von außen so harmlos aussehende Heftchen ›reinziehen‹ will, sollte dabei immer eine Hand in der Nähe der Klaviertastatur haben, um die eigenen Kehlkopfprodukte zu überprüfen. Aber bitte erst nach der Liederbuchkur anwenden!

4. Eine überaus lohnende Sammlung an ›Blattsingübungen‹ bietet Paul Hindemiths Das Marienleben. Herrlich unsystematisch!

C. Danksagung

Jetzt kommt die große Danksagung an all die fleißigen Autorenbienchen, die so vieles gesammelt haben, was andere dann in ihrem Unterricht verwenden können. Hierher gehören auch die beiden bereits erwähnten Sammlungen der amerikanischen Autoren.

1. Wer kennt es nicht, das ubiquitäre, in farbenfrohem Einband sich präsentierende Lehrwerk, den Klassiker unter den Gehörbildungsbüchern? Wer hat noch nie Beispiele daraus stibitzt, um sich das eigene Suchen zu sparen? Na? Um nun auch noch die letzte Eule in die griechische Hauptstadt zu tragen:

Roland Mackamul (1969), Lehrbuch der Gehörbildung, 2 Bde., Kassel: Bärenreiter

Wer sich an der etwas starren Systematik und der weitgehenden Rhythmuslosigkeit nicht stört, kann von diesem Buch auch heute noch profitieren.

2. Ein modernes Lehrbuch, ungeheuer vielseitig, gespickt mit wertvollen Ideen und unkonventionellen Aufgabentypen, die auch die Improvisation mit einbeziehen (leider nur für Klavierspieler) ist der Nachfolger des Mackamul-Klassikers bei Bärenreiter:

Ulrich Kaiser (1998), Gehörbildung, 2 Bde. mit je einer CD, Kassel: Bärenreiter

Kaiser nimmt den Lernenden liebevoll bei der Hand und führt ihn durch den Dschungel seiner Musikbeispiele. Er darf dabei viel klavierspielen (nachspielend und improvisierend), CDs hören, seine Kenntnisse in Tonsatz, Formenlehre und Musikgeschichte auffrischen und sogar Grafiken malen. Die Thematisierung der Höranalyse musikalischer Werke und des Hörens von Formverläufen ist ein weiteres Plus dieses Werkes.

D. Sonstiges

1. Möchte sich vielleicht jemand über ›das‹ absolute Gehör informieren? (Sehr zu empfehlen für TV-Moderatoren, die angebliche Absoluthörer in ihre Shows einladen, wo sie ihre Mätzchen präsentieren dürfen.) Obwohl schon lange vergriffen, ist die Standard-Infoquelle

Eva-Marie Heyde (1987), Was ist absolutes Hören?, München: Profil

Aber auch eine Mackamulschülerin aus München trägt dazu bei, daß die Geheimnisse, die sich um ›das‹ absolute Gehör ranken, keine bleiben mögen:

Diemut Anna Köhler (2001), Gehörbildung für Absoluthörer, Frankfurt a. M.: Lang

2. Wie wär’s mit ein bißchen Intonation? Da gibt es doch etwas bei Bärenreiter ...

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