Pascal Rudolph, Präexistente Musik im Film. Klangwelten im Kino des Lars von Trier, München: edition text + kritik 2022
Susanne Hardt
Die Beschäftigung mit Filmmusik als Forschungsgegenstand entpuppt sich oft als herausfordernde Angelegenheit aufgrund der vielschichtigen filmmusikalischen Gestaltungsmöglichkeiten und der vielfältigen Beziehungen zu anderen filmischen (Produktions-)Aspekten. Rudolph gelingt es jedoch, mit seinem Buch Präexistente Musik im Film – Klangwelten im Kino des Lars von Trier nicht nur neue Forschungsansätze zu erschließen, indem er die hintergründige Planung und Produktion von Filmen in seine theoretischen Überlegungen einbezieht, sondern schlussendlich trotz der Vielgestaltigkeit und Individualität seiner analysierten Studienobjekte allgemeingültige Prinzipien zur Filmgestaltung des Regisseurs Lars von Trier sowie theoretische Analyseansätze abzuleiten, welche auch über seine Arbeit hinaus in zukünftiger Filmmusikforschung praktische Anwendung finden können – und das alles gewürzt mit einer dezenten, erfrischenden Prise Humor.
Doch der Reihe nach:
Im Fokus von Rudolphs analytischen Überlegungen steht die Frage, wie sich Filmschaffende Musik zu eigen machen und auf welche Weise dadurch Bedeutung entsteht (vgl. 282), welcher Rudolph anhand der Analyse verschiedener präexistenter Musikstücke innerhalb sämtlicher Filme Lars von Triers nachgeht. ›Präexistent‹ bezeichnet in diesem Falle Musik, welche nicht für den Film komponiert wurde, sondern bereits vor der Entstehung des Films existierte und somit unabhängig von diesem einen eigenen außerfilmischen Rezeptionshintergrund hat. Mag die anfängliche Einordnung der von Rudolph gewählten ›Individualmethodik‹ zur Annäherung an die unterschiedlichen Filme und deren Musikeinsätze im ersten Moment wie eine eher willkürliche Arbeitsweise erscheinen,[1] so wird schnell deutlich, dass diese Methodik nicht nur dem Forschungsgegenstand absolut angemessen, sondern aufgrund der höchst individuellen Gestaltung seiner Studienobjekte in Hinblick auf seine zentrale Forschungsfrage die einzig mögliche ist.
Nach dieser anfänglichen Einordnung der Arbeit selbst, geht es direkt in medias media: nämlich an die Frage nach dem Entstehungsprozess der Filme von Lars von Trier – natürlich mit besonderem Fokus auf der Auswahl der präexistenten Musiken und Überlegungen zu den Verantwortlichkeitsverhältnissen hierfür. Neben der detaillierten Recherche innerhalb verschiedener Drehbuchversionen der Filme führt Rudolph Interviews mit unterschiedlichen Beteiligten am Schaffen Lars von Triers, um dem kreativen Prozess der Filmproduktion so nah wie möglich zu kommen und die Beweggründe der Crew für die Auswahl eben jener im späteren Verlauf von ihm analysierten präexistenten Musiken genauestens nachzuvollziehen.
Es folgen die konkreten Analysen von vier präexistenten Musikstücken innerhalb der Filme Idioterne,[2] Dogville[3] und Nymphomaniac,[4] anhand derer Rudolph den vielseitigen und vielschichtig gestalteten Bedeutungstransfer zwischen musikalischer Gestaltung, Bild und weiteren filmischen sowie außerfilmischen Aspekten erörtert. Anhand dieser vier Beispiele präsentiert Rudolph anschließend seine Theorie der filmischen Aneignung von Musik, welche – sowohl in inhaltlicher als auch in konzeptioneller Hinsicht – im Zentrum seiner Ausführungen steht. Hierbei adaptiert er Christian Thoraus Begriff der ›Metaphorizität‹[5] und setzt ihn inhaltlich in Relation zu seinen Beobachtungen in den bis dato beschriebenen Analysen. Daraus leitet er ein Modell zur visualisierten Einordnung des inter- und intramedialen Adaptionsprozesses von präexistenter Musik im Film innerhalb der Pole ›interpretativer Kreation‹[6] und ›kreativer Interpretation‹[7] in Form eines kartesischen Koordinatensystems ab (164–167, für Abb. 1 siehe 166), welches eine hochwertige Grundlage zur Abstufung und Klassifizierung des Umgangs mit präexistenter Musik in anderen filmischen Kontexten für zukünftige Filmmusikforschung bilden kann.
Abbildung 1: Pascal Rudolph, Präexistente Musik im Film, inter- und intramedialer Adaptionsprozess von präexistenter Musik im Film mit Beispielen
Es folgt eine detaillierte Analyse des Tristan-Vorspiels von Wagner, basierend auf der formalen Analyse der Musik von Robert P. Morgan (2000) in von Triers Film Melancholia. Besonders eindrucksvoll verdeutlicht Rudolph hierbei nicht nur die Adaption des musikalischen Inhalts durch die Verknüpfung des »Blickmotivs«[8] mit der ihm zugeordneten »Melancholia-Einstellung« (177 f.), sondern gleichermaßen den (im wahrsten Sinne des Wortes) einschneidenden Umgang mit der Musik selbst, aus welcher zugunsten der filmischen Erzählung mehrere Takte entnommen werden.[9] Doch damit nicht genug, denn nun setzt Rudolph diese detaillierte Analyse in Relation zu einer weiteren Verbindung zwischen von Trier und Wagner: Lars von Triers Beauftragung als Regisseur für den Ring des Nibelungen anlässlich der Festspiele in Bayreuth 2006. Ging es bisher also noch um filmimmanente Bedeutung und Bedeutungsaustausch, so wird den analytisch-philosophischen Überlegungen zur fiktionalen Welt der Filme nun ein Bezug zur Realität hinzugefügt, welcher zugleich Lars von Triers Anspruch an sein eigenes Schaffen als Regisseur verdeutlicht: durch das Spiel und die Wechselwirkung mit präexistenter Musik als realem Element eine Form von erlebbarer Realität für das Publikum zu schaffen. Die Analyse des Films Dancer in the Dark rundet somit schlussendlich Rudolphs Ausführungen ab, da Lars von Trier hier über die präexistente Musik hinaus sogar deren Komponistin Björk als Schauspielerin der Hauptfigur des Films einbezieht. Hier trägt der Einsatz präexistenter Musik also maßgeblich zum bewusst provozierten Verschwimmen der Grenzen zwischen filmischer Fiktion und realer Welt bei.
Es erscheint daher nur konsequent, dass aus diesen Ausführungen die Anschlussfrage resultiert, inwieweit nicht nur Film sich durch die Aneignung präexistenter Musik auf Realität beziehen und somit zu real gestaltetem Erleben werden kann, sondern diese womöglich umgekehrt selbst auf unterschiedliche Weise beeinflussen kann. Im Ausblick liefert Rudolph bereits erste Indizien, wie z. B. die im Vergleich zu vorher unterschiedliche Rezeption und Interpretation des Tristan-Vorspiels nach Veröffentlichung des Films Melancholia. Rudolph setzt somit das Gedankengut von Zofia Lissa fort, die schon 1965 schrieb, dass die Theorie der Filmmusik »somit eine Theorie des Zusammenwirkens der Musik mit den anderen Faktoren der synthetischen Ganzheit ›Film‹ sein [müsse]«.[10] Über die ganzheitliche Betrachtung der ausgewählten präexistenten Musiken innerhalb ihres filmischen Kontextes hinaus wirft er die Frage nach einer größeren Wechselwirkung zwischen fiktionalem Medium und Realität auf und generiert damit zugleich eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für zukünftige Forschungsfragen im Bereich Medienrezeption.[11]
* * *
Rudolph zeigt mit seinen Untersuchungen, wie wichtig im Bereich der Filmmusikforschung ein hohes Maß an Interdisziplinarität bei der Wahl der Herangehensweise ist und wie vielfältige, unterschiedliche Aspekte bei der Annäherung an den Forschungsgegenstand Filmmusik berücksichtigt werden müssen oder hilfreich sein können: angefangen mit der Zusammenarbeit unterschiedlicher Personen bei der Filmproduktion und deren ›handwerklicher‹ Komponente über die musiktheoretische Analyse der eingesetzten Musik und der Berücksichtigung des individuellen musikalischen Rezeptionshintergrunds bis hin zur Anwendung bzw. Übertragung von Theorien und Ansätzen aus gänzlich anderen Fachbereichen, wie z. B. der Metapherntheorie, um schlussendlich dem Gesamtkunstwerk ›Film‹ analytisch gerecht zu werden und zu fundierten Erkenntnissen zur Filmmusik selbst, ihrem Einsatz und ihrer Wirkungsweise gelangen zu können. Darüber hinaus gelingt es ihm, seine Überlegungen inklusive all dieser grundverschiedenen Aspekte in einen so nachvollziehbaren und nahbaren Schreibstil zu verpacken, dass die hohe Komplexität der Gedankengänge nicht etwa abschreckt, sondern geradezu zur eigenen Beschäftigung mit dem weiten Forschungsfeld Filmmusik oder zumindest zum nächsten Kinobesuch eines der musikalisch-interpretativen Kunstwerke des Lars von Trier einlädt.
Anmerkungen
»Statt die Filme über einen Analysekamm zu scheren, werden mithilfe je für den Einzelfall ausgewählter Methoden und Theorien spezifische Merkmale herausgearbeitet, wodurch das Phänomen präexistenter Musik im Film unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet wird.« (15) | |
Le Cygne von Camille Saint-Saëns. | |
Verschiedene Musikstücke von Antonio Vivaldi. | |
»Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« von J. S. Bach und die Violinsonate in A-Dur von César Franck. | |
Vgl. Thorau 2017. | |
»Die interpretative Kreation entsteht durch eine starke Form von Emergenz, die das Resultat einer starken Metaphorizität ist, die wiederum aus einer starken Konfliktausprägung hervorgeht.« (163) Gemeint ist eine große Distanz zwischen der originalen präexistenten Musik und ihrer Behandlung im Film. | |
»Die kreative Interpretation entsteht […] durch eine schwache Form von Emergenz, die das Resultat einer schwachen Metaphorizität ist, die wiederum aus einer schwachen Konfliktausprägung hervorgeht.« (163) Gemeint ist eine große Nähe zwischen der originalen präexistenten Musik und ihrer Behandlung im Film. | |
Vgl. Thorau 2003, 192–202. | |
Takt 36.4 bis Takt 40.3 werden »herausgeschnitten« (176). | |
Lissa 1965, 27. | |
Vgl. hierzu auch die Podcast-Folge »So beeinflussen Filme und Serien unsere Erinnerungen« (Krafft 2023). |
Literatur
Krafft, Elisabeth (Moderatorin), »So beeinflussen Filme und Serien unsere Erinnerungen«, in: Aha! Zehn Minuten Alltags-Wissen, Audio-Podcast vom 19. Juli 2023. https://zehnminutenalltagswissen.podigee.io/140-so-beeinflussen-filme-und-serien-unsere-erinnerungen (6.10.2023)
Lissa, Zofia (1965), Ästhetik der Filmmusik, Berlin: Henschel.
Morgan, Robert P. (2000), »Circular Form in the Tristan Prelude«, Journal of the American Musicology Society 35/1, 69–103.
Rudolph, Pascal (2022), Präexistente Musik im Film. Klangwelten im Kino des Lars von Trier, München: edition text + kritik.
Thorau, Christian (2003), Semantisierte Sinnlichkeit. Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 50), Stuttgart: Franz Steiner.
Thorau, Christian (2017), »Musik als Metapher. Theorieansätze zwischen Sprache, Zeichen und Kognition«, in: Handbuch Literatur & Musik (= Handbuch zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 2), hg. von Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin: Walter de Gruyter, 159–175.
Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden [Dresden College of Music Carl Maria von Weber]
Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
This is an open access article licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License.