Heinrich Poos, Bach-Lektüren, hg. von Hans Jaskulsky, Hildesheim: Olms 2022
Sebastian Urmoneit
Schlagworte/Keywords: Heinrich Poos; Johann Sebastian Bach; Hermeneutik; Musiktheorie und Theologie
»Die Manier […] will immer fertig sein und hat keinen Genuß an der Arbeit. Das echte, wahrhaft große Talent aber findet sein höchstes Glück in der Ausführung.«[1]
Unter dem Titel »Bach-Lektüren« sind nicht allein posthum alle Letztfassungen der Aufsätze versammelt, die Heinrich Poos über Johann Sebastian Bach geschrieben hat, also auch seine »ikonographische Studie« Kreuz und Krone sind verbunden. Sinnbild und Bildsinn im geistlichen Vokalwerk J. S. Bachs, die er selbst in seine Ausgewählten Schriften nicht aufgenommen hatte.[2] Darüber hinaus sind in dem Buch als »Nachlese« die Notizen Zur ›Binnenintroduktion‹ des Credo in Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe, dem »Confiteor«, veröffentlicht worden. Über Jahrzehnte hinweg hatte Heinrich Poos sowohl in seine Notizblöcke als auch in seine Partitur bzw. seinen Klavierauszug Anmerkungen geschrieben, diese Ausführungen aber allein fragmentarisch hinterlassen. Mit diesem Rätsel ist er nicht mehr in Goethes Sinne fertig geworden und konnte die Arbeit daran nicht »für fertig« erklären, weil er »nach Zeit und Umständen das möglichste getan hat.«[3] Hans Jaskulsky hat nun, auf ähnliche Weise wie Rolf Tiedemann Adornos Beethoven-Buch herausgegeben hat, aus dem Sammelsurium an überlieferten Skizzen das »Protokoll einer Annäherung«[4] zusammengefasst.
Dass Poos der Hermeneutik Friedrich Schleiermachers verbunden war, bemerkt man in jedem der Aufsätze, auch wenn dessen Name in keinem jemals gefallen ist. Wie Schleiermacher ist auch er von einer »Duplicitaet der Hermeneutik«[5] ausgegangen, die sich im Interpretandum als dem Aufeinandertreffen von »Sprachgesez« und »Sprachgebrauch«[6] kundtut, was, modern gesprochen, auf die Polarität Sprache-Autor hindeutet.[7] Ihr begegnet der Interpret mit zwei einander bedingenden Vorgehensweisen: einer »grammatischen« und einer »technisch-psychologischen Interpretation«. Im Hinblick auf die Sprache verfährt er »komparativ«, im Hinblick auf den Autor »divinatorisch«.[8] Schleiermacher folgend, trennt auch Poos die »grammatische« nicht von der »technisch-psychologischen Interpretation«, so dass »zwey Arten der Interpretation«, je nach Interesse oder Belieben herangezogen werden könnten, sondern tarierte seine »Auslegung« so lange aus, bis sie »beides vollkommen« leistete. Wenn Schleiermacher feststellte, dass, wer »nur grammatisch verstehn will«, »immer nur unkünstlerisch verstehn«[9] wird, und wer »nur psychologisch verstehn will […], immer unphilologisch verstehn« wird, dann kann dies als die Grundlage auch der hermeneutischen Bach-Forschung von Heinrich Poos angesehen werden.[10] In seinen Worten heißt das: Der »Sinn der kompositorischen Chiffre« ist nicht von außen, sondern allein in der »Buchstäblichkeit eines Textes« zu haben (296).
Doch während er als Komponist ein Bicinium hätte schreiben können, in dem die eine Seite der Interpretation in der linken, die andere gleichzeitig in der rechten Hand dazu erklänge und die beiden Stimmen noch im doppelten Kontrapunkt erfunden wären, so dass sie miteinander vertauscht werden könnten, musste er seine Gedanken in wörtlicher Sprache in dieser Verschränkung nacheinander zu Papier bringen. Alle seine Aufsätze sind von dieser gedanklichen Polyphonie durchdrungen, was ihre Lektüre so anspruchsvoll werden lässt.
In seiner Kleinen Apologie des Notenlesens, dem letzten Aufsatz, den er selbst noch veröffentlicht hat, zeigt Heinrich Poos an drei Beispielen, dass die Kenntnis der »gegebenen Sprache«[11] die Grundvoraussetzung bildet, ohne die keine Untersuchung auf tragfähigem Boden steht. Mit Kierkegaard hielt er Sokrates für den größten Philosophen, weil dieser genau unterscheiden konnte, was er wusste und was nicht. Weil Poos allein dann einen Aufsatz veröffentlichte, wenn dieser aller Selbstkritik standhielt, konnte er es sich leisten, bei seiner Suche nach der ›Wahrheit‹ eines Textes nicht aus falscher Rücksichtnahme vor einem Säulenheiligen der (Bach-)Forschung zurückzuschrecken: Da Friedrich Wilhelm Marpurg, wie Poos es demonstriert, nicht in der Lage dazu war, das Thema der h-Moll-Fuge BWV 869 in seiner Verfugung mit dem Kontrasubjekt zu lesen, musste er auch mit seiner alternativen Beantwortung scheitern, die er – warum auch immer – vorlegte (322 f.); da Carl Dahlhaus die generalbassharmonische »detractio«,[12] die »Zusammenziehung« einer vier- zu einer dreigliedrigen Akkordfolge nicht kannte, musste er in Takt 44 der As-Dur-Fuge BWV 886 von »Enharmonik« sprechen, obwohl Bach sie hier so wenig wie sonst irgendwo in seinem »Kunstbuch« bemüht hatte (325–327). Diese beiden Beispiele bilden die Präliminarien dafür, Ferruccio Busonis »Weigerung, die Form des F-Dur-Präludiums BWV 856 zu beschreiben«, argumentativ zu begegnen. Letztlich »stolperte« er hier über einen einzigen »Vorzeichen-Fehler« (328) und konnte darum nicht entdecken, dass Bach dieses Präludium auf der Grundlage der Da-capo-Arie komponiert und »den Epilog des ersten mit dem Prolog des zweiten Fortspinnungstypus zusammengezogen hatte« (ebd.). Wenn Bach im Gerüstsatz der chromatischen Sequenz (T. 3–5) die Basstöne f–e–g–f mit dem Kontrasubjekt h–c–cis–d kontrapunktiert und dies in Takt 9–10 als transponierten Krebs im doppelten Kontrapunkt der Oktave variiert wiederholt, so ist die rätselhafte Transposition allein zu durchschauen, wenn man in Takt 5 den vierten Basston f zum fis korrigiert, weil nur so die Transposition des b–a–c–h-Motivs auch im Modell als Tonfolge f–e–g–fis hervortritt.
Die Quelle eines Notentextes war für Poos niemals die letzte Instanz. Er beklagte zumindest, »dass die Herausgeber der Neuen Bach-Ausgabe Quellenkritik durch Quellenstatistik« ersetzt hätten (329). Wer wüsste nicht besser als ein Komponist, wie schnell man sich selbst verschreibt oder, wie hier, einer Abschrift vertraut bzw. beim Korrekturlesen seines eigenen Textes sich den Fehler im Kopf zurecht liest. Allein die Kenntnis dessen, was Poos als Mathematiker[13] unter »Musikalischer Logik« verstand, hätte die Nachwelt Bachs, also auch Busoni, hellhörig machen müssen.
Was für Schlussfolgerungen er aus diesem Fund zog, der ihm noch bei seiner Entschlüsselung des Rätsels des »sogenannten Bach-Pokals« gute Dienste erwies (330–336), wird hier nicht vorweggenommen; soll doch in dieser Würdigung nicht der Versuch unternommen werden, Abstracts der Aufsätze zu verfassen, die den falschen Anspruch erhöben, eine Lektüre der Texte zu ersetzen, ist doch das, was sich zusammenfassen lässt, in seiner Gänze überflüssig gewesen. Wenn Poos in der »Einführung«, dabei auf Jürgen Paul Schwindt bezugnehmend, sich gegen ein »Über-Texte-zu-reden« gestellt hat und stattdessen für »ein Lesen der Texte« eingetreten ist (9),[14] dann wäre noch zu ergänzen, dass ein kursorisches Lesen der Aufsätze gleichsam auf den Holzweg führte.
Seinen Aufsatz über »Christus Coronabit Crucigeros. Hermeneutischer Versuch über einen Kanon Johann Sebastian Bachs (BWV 1077)« beginnt Poos mit der Beschreibung des »Phänomensinns«. Dieser Begriff ist zwar der Kunstgeschichte entliehen, aber insofern mit der »Duplicitaet der Hermeneutik« verwandt, als es zu den Grundeinsichten Erwin Panofskys gehört, dass eine
im strengen Sinne formale Beschreibung praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist: Jede Deskription wird – gewissermaßen noch ehe sie überhaupt anfängt – die rein formalen Darstellungsfaktoren bereits zu Symbolen von etwas Dargestelltem umgedeutet haben müssen; und damit wächst sie bereits, sie mag es machen wie sie will, aus einer rein formalen Sphäre schon in eine Sinnregion hinauf.[15]
Bei Poos wird dies in der jeweils entwickelten Terminologie deutlich. Er bezeichnet den im Umkehrungskanon BWV 1077 entdeckten Kontrapunkt, in dem das aufsteigende diatonische und das fallende chromatische Tetrachord gleichzeitig erklingen, zunächst neutral als »Gerüstsatz«. Doch die Gegensätzlichkeit in ihm veranlasst ihn dazu, diesen Kontrapunkt als »concordia discors« zu charakterisieren, was der Benennung »Ideenkanon« insofern den Weg bereitet, als in dessen »Soggetto […] die vier biblisch bezeugten Geheimnisse Christi« zum Tonsymbol erhoben worden sind (114). »Musikgeschichte«, so formuliert Poos am Ende des Aufsatzes »Kreuz und Krone sind verbunden«, der in mancher Hinsicht die Fortsetzung von »Christus Coronabit Crucigeros« darstellt, »zeichnet Geschichte dadurch nach, dass sie zeigt, wie geistige Kräfte zu ästhetischen Formen werden« (112). Der Aufsatz über »Christus Coronabit Crucigeros«, der das Ergebnis mehrerer Vorstudien ist, die an unterschiedlichen Stellen veröffentlicht worden sind, bildet den Grundstein zu seiner »theologischen Bachforschung«.[16] Das Thema war ihm wichtig und das Feld erschien ihm so unbeackert, dass er in seiner »ikonographischen Studie« »Kreuz und Krone sind verbunden« den im Kanon »Christus Coronabit Crucigeros« entdeckten Symbolkontrapunkt als Topos begreift, den er »crux-gloria-Topos« (24) nennt. Rund hundert Jahre vor Bach beginnend, sichtet und ordnet er »die Stoffmengen«, um »Motivgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Ideengeschichte, also stoffdeutend«, zu betreiben.[17]
Während Poos die »Toposforschung« aus der Literaturwissenschaft in die deutsche Musikwissenschaft eingeführt hat, so ist er zwar nicht der erste gewesen, der den rhetorischen Formbegriff für musikwissenschaftliche Forschung angewandt, wohl aber der, der entscheidende Arbeit am Begriff einer »Klangrede«[18] geleistet hat. Nach ihm ist dieser nicht erkenntnisfördernd gebraucht worden, wenn in einer Untersuchung lediglich rhetorische Setzmanieren aus dem Notentext gesammelt und aufgelistet werden oder der Aufbau eines Bachschen Instrumentalwerks zwar vordergründig gesehen historisch informiert auf »die Dispositio der römischen Oratorie«[19] projiziert wird, dabei aber letztlich doch nicht minder schematisch verfahren wird als bei Hugo Riemann, Ludwig Czaczkes und Alfred Dürr, die anachronistisch die Fugen in mehrere Durchführungen aufgeteilt haben.[20] Wie eng in seiner musikwissenschaftlichen Forschungsarbeit alles miteinander verknüpft ist, lässt sich daran zeigen, dass er den rhetorischen Formbegriff mit der Toposforschung verbunden sieht, etwa wenn er den »ordo naturalis«, die »Normallage« eines »musikalischen Idioms«, von seinen »künstlichen Veränderungen«, dem »ordo artificialis«, begründet zu unterscheiden vorgibt: »Diese Veränderungen hatten in jahrhundertelanger Tradition die Gestalt von Figuren angenommen. Vornehmlich durch diese konnte der rhetorische Künstler auf die Gedanken seiner inventio aufmerksam machen« (121).
Die Musikwissenschaft und -theorie hätten, so beklagte es Poos in jedem seiner Aufsätze und in jedem seiner Seminare, immer der Kenntnis mehr Beachtung geschenkt als der Erkenntnis.[21] Im Gefolge Adornos läuft auch für ihn aber letztlich jedes Denken, »das seine Erklärungen aus den ohnehin vorhandenen Tatsachen heraus abstrahiert und dann für Erkenntnisse ausgibt«, auf »Tautologien« hinaus.[22] Bei ihm heißt es im Aufsatz »Der Choralsatz als musikalisches Kunstwerk«: »Denn eine Masse von Tautologischem lässt sich niemals zu einer Theorie, allenfalls zu einer Versammlung von Gemeinplätzen arrangieren. […] Theorie ist Ordnung, nicht Wahrheit« (238). Während Bach im Choral aus einem Stück umgangsmäßiger Musik für den Gemeindegesang ein Kunstwerk machte, missverstanden die nachfolgenden Generationen dies, vertrieben den »Mythos des rhetorischen Kunstwerks« und verwendeten den Choral allein noch zu einer didaktischen Unterweisung in der Tonsatzlehre.
In seinem Aufsatz zum Choralsatz bedient sich Heinrich Poos u. a. der »rhetorischen Vitiumlehre« (240), mit der Bach, der Tradition folgend, mit Absicht Fehler begangen hat, um auf einen Gedanken aufmerksam zu machen. Der »falsch vorbereiten Nonendissonanz« in der Mitte der zweiten Choralzeile (T. 2) im Choral »Ich armer Mensch, ich armer Sünder« BWV 179/6 lässt sich nicht begegnen, wenn man sie, wie Werner Breig, als »Sekundreibung« zum Erreichen »hochgespannter Expressivität« der Einfühlung anheim gibt (232–234). Dass Bach in seiner Auslegung von Luthers Melodie »Vom Himmel hoch, da komm ich her« in dem Choral »Schau hin, dort liegt im finstern Stall« BWV 248/17 am Zeilenschluss viermal in der Tonart C-Dur kadenziert, statt wie die Vorbilder Osianders, Praetorius’ und Scheins dort zu differieren, zieht er die Figur des Kreuzes, die sich aus den vier Oberstimmentönen der jeweiligen Ultima ergibt, zusammen und bündelt sie in einer Tonart zusammen (255–260). Den Epilog der Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort BWV 60, den Choral »Es ist genug«, legt Poos als Nachahmung von Johann Rudoph Ahles Satz und Melodie aus. Versteckt in einer Fußnote, gibt er den Hinweis, dass er Bachs Fassung als Nachahmung einer Handlung aufgefasst hat. Wenn sein Verfolg von der »Flucht-Darstellung« in der ersten bis hin zu dem Ausdruck von »Gelassenheit« der letzten Zeile führt, so geht dies zurück auf Aby Warburgs Pathos- und Ethosformeln (282), die ganz wesentlich für sein Denken sind.
Von diesen handelt auch sein »hermeneutischer Versuch« über Bachs Chaconne aus der Partita d-Moll BWV 1004 für Violine solo. In ihm geht er zunächst nicht auf die Forschung, sondern auf die Interpreten ein, denen er vorwirft, mit »den Zeichen« dieses »Labyrinth[s] der 256 Takte« oft nur leichtsinnig zu spielen, statt deren Fülle »auch denkend zu reproduzieren« (148). Den Begriff der »Klangrede« hat er hier ganz ohne den Rückhalt in einem der Komposition zugrunde gelegten Text angewandt. In der Suche nach dem Gehalt geht es ihm nicht um den Nachweis, dass sich in dieser Chaconne eine »subjektiv-partikulare« oder gar »biographische« Erfahrung im »Gedächtnis« der Musik niedergeschlagen habe, sondern ein »ideengeschichtlich Allgemeines« (156). Wenn er davon schreibt, sich »nicht dem Glauben […] an einen reinen ›Beziehungszauber‹ in Tönen und schon gar nicht an ein unmittelbares Einfühlungsvermögen« (147) hinzugeben, dann gemahnen diese Worte an Sigmund Freud, der formulierte, dass er der »sogenannten Intuition« bei »solchen Arbeiten« wenig zutraute; denn was er »von ihr gesehen« habe, erschien ihm »eher der Erfolg einer gewissen Unparteilichkeit des Intellekts«: »Nur daß man leider selten unparteiisch ist, wo es sich um die letzten Dinge, die großen Probleme der Wissenschaft und des Lebens handelt.«[23] Auch Heinrich Poos war »von innerlich tief begründeten Vorlieben beherrscht, denen er mit seiner Spekulation unwissentlich in die Hände«[24] arbeitete. In einem dem »Indizienbeweis« verwandten Vorgehen zeigte er, »dass ein im einzelnen nachzuweisender Vorstellungskomplex an der Gestaltung des kompositorischen Textes mitgewirkt habe« (157). Den Streit zwischen Formalisten und Inhaltsästhetikern, der die Musikwissenschaft bis heute in zwei Lager spaltet, konnte auch er in diesem Aufsatz zu Bachs »Zeitphilosophie« nicht prinzipiell schlichten. Er hielt es für unbegründet, dass ein »Wirklichkeitsbezug« die »ästhetische Qualität« des Bachschen Werkes gefährdete (193), sondern stellte sich dem »Numerus-affectus-Drama« (169). Im Aufsatz selbst fällt der Name nicht, aber in einem Kompaktkurs an der Universität der Künste Berlin im Jahre 1990 führte er Hans Leisegang an, der bei den bloßen »Formen der Konstruktion« stets »den Anspruch eines inneren Bezuges auf die seiende Welt« suchte.[25] Legt man die oben formulierten Maßstäbe der Hermeneutik an, ist dieser Text sicher die härteste Nuss, die der Leser der Bach-Lektüren zu knacken hat. Wollte man diese Sammlung nicht chronologisch lesen, dann wäre sie m. E. mit diesem Aufsatz zu schließen.
Die Bach-Lektüren von Heinrich Poos sind das Zeugnis seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem Schaffen dieses Komponisten. Nur weil er dessen Werke insgesamt gründlich kannte, konnte er in seinen Aufsätzen derart ins Detail gehen. »Je weniger« die Musikwissenschaft »auf Charisma setzt, je sorgfältiger sie ihre Dokumente liest, desto konsensfähiger werden dann auch die Antworten sein« (238). Heinrich Poos hat seine Aufsätze mit dem Anspruch auf »Dauerhaftigkeit« verfasst. Doch so stahlhart sie formuliert und ausgearbeitet sind, so beweglich sind sie darin gehalten, dass es ihm gelungen ist, ihnen die Spontaneität aktiven Gestaltens während der Entstehung zu bewahren. Ganz im Sinne Schleiermachers ging es Poos bei der Arbeit am Notentext um die »Wiedererschließung von Möglichkeiten«, denn auch für ihn war »das Verstehen« des Komponisten »ein Mittel, nicht der Zweck« des Verstehens.[26]
Anmerkungen
Eckermann 1836, 130. | |
Poos 2012. | |
Goethe 1998, 208. | |
So der Untertitel des Aufsatzes, den Heinrich Poos zu Carl Philipp Emanuel Bachs Rondo a-Moll verfasst hat; siehe Poos 2012a, 99. | |
Schleiermacher 2012b, 38. | |
Schleiermacher 2012a, 18. | |
Scholtz 1995, 107. | |
Ebd., 104. | |
Schleiermacher 2012c, 75. | |
Wie für Schleiermacher, so war auch für Poos die Hermeneutik keine Wissenschaft, sondern eine Kunst, ›ars‹ in dem alten Sinne, dass sie eine aus Übung und Wissen entwickelte Fertigkeit ist, deren Regeln zur Auslegung eine Kunstlehre, keine Ästhetik bilden, d. h. ein kunstgemäßes Verfahren, das auf einer durch Auslegungspraxis, Erfahrung und Reflexion kultivierten Kompetenz beruht. Darum ist für beide Denker die Hermeneutik eine philologische Disziplin und sind deren Bedingungen keine transzendentalen, sondern erworbene und erlernte Kenntnisse, die ständig erweitert werden. Siehe dazu Scholtz 1995, 96–109. | |
Schleiermacher 2012d, 120. | |
Siehe dazu Lausberg 1963, § 327 f. | |
Jeder, der Poos persönlich kannte, wusste, dass allein das Ulbricht-Regime verhindert hatte, dass Poos, wie er nicht ohne Ironie formulierte, gerne ein sorgenfreies Leben als Mathematiker geführt hätte. | |
Dazu ist er mit Friedrich Nietzsche auf die Bremse getreten, um für ein Lesen im Tempo des »Lento« zu werben; vgl. Nietzsche 1980, 17. | |
Panofsky 1985, 86. | |
Es gehört auch zu den großen Verdiensten dieses ursprünglich in den Theologischen Bach-Studien I (Blankenburg/Steiger [Hg.] 1987) erschienenen Aufsatzes, dass in ihm der »theologische Kern« der Musiklehre des Andreas Werckmeister freigelegt worden ist, den Rolf Dammann, so Poos (123), in seiner Abhandlung zu dem Musiktheoretiker (Damann 1954) ganz vernachlässigt hatte. | |
So Poos (2012, 276) in seiner ikonographischen Studie zu Hugo Wolfs Klavierlied »An den Schlaf«. | |
Mattheson 1739, 235–244. | |
Peters 2003, 29. | |
Ebd. | |
Siehe dazu Szondi 1978, 267. | |
Adorno 2003, 162. | |
Freud 1999, 64 f. | |
Ebd. | |
Leisegang 1950, 25. | |
Hubig 2011, 160. |
Literatur
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