Quandel, Stephan (2022), »Michael Jakumeit, Vom Aufbau einer Welt. Untersuchungen zur makrologischen Harmonik in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien von Gustav Mahler (= Schriften der Musikhochschule Lübeck, Bd. 3), Hildesheim: Olms 2022«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 19/2, 175–181. https://doi.org/10.31751/1180
eingereicht / submitted: 27/09/2022
angenommen / accepted: 27/09/2022
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 21/12/2022
zuletzt geändert / last updated: 20/12/2022

Michael Jakumeit, Vom Aufbau einer Welt. Untersuchungen zur makrologischen Harmonik in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien von Gustav Mahler (= Schriften der Musikhochschule Lübeck, Bd. 3), Hildesheim: Olms 2022

Stephan Quandel

Schlagworte/Keywords: Felder; macro-logical harmony; makrologische Harmonik; pools; Theodor W. Adorno

Michael Jakumeits Publikation ist eine der sehr wenigen Monografien der letzten 100 Jahre, die explizit die Harmonik in Gustav Mahlers Werken thematisieren. Damit dürfte sie in der Mahler-Forschung mit offenen Armen empfangen werden und auf großes Interesse stoßen; auch, weil sie, wie bereits im Titel angeklungen und im Folgenden dargestellt, musiktheoretisch wenig erforschtes Land betritt. Gut 60 Jahre nach Theodor W. Adornos Charakterisierung von Mahlers Harmonik als »makrologisch«[1] geht Jakumeit diesem bei Adorno musiktheoretisch unausgefüllt gebliebenen Terminus nach und liefert eine bemerkenswerte Analyse der Kopfsätze der ersten drei Sinfonien.

Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile nebst Einleitung und Fazit. In der Einleitung werden zunächst in der Mahler-Forschung gängige Termini erläutert, um dann eine Brücke zu dem eigens für die Arbeit entwickelten Analyse-Instrumentarium zu schlagen. Dessen Darlegung fällt überraschend knapp und konzentriert aus, dafür führt der Analyseteil viele hier nur angedeutete Aspekte detailliert aus. Von grundsätzlicher Bedeutung sind einerseits der oben genannte Adorno’sche Ansatz, ferner das Verständnis von Tonalität als harmonische und melodische bzw. modale Tonalität, wie es Dahlhaus entscheidend geschärft hat.[2] Besonders der Terminus ›Feld‹ erregt Aufmerksamkeit, ist er doch durch die Tonfeldtheorie nach Albert Simon (zuerst dargestellt durch Bernhard Haas) in den letzten knapp 20 Jahren häufiger ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.[3] Hingegen definiert Jakumeit in der vorliegenden Arbeit einen eigenen, »für den Mahlerkontext definiert[en]« (21) Feldbegriff, dem einerseits eine »gewisse zeitliche Ausdehnung« (ebd.) innewohnt und welcher sich andererseits als von motivisch-thematischen Entwicklungen unabhängig definiert. Auch unter Verwendung traditioneller Termini wie ›Funktionen‹ à la Riemann,[4] ›Bordune‹, ›Orgelpunkte‹ oder die eben genannten ›Felder‹ gelingt es Jakumeit durch entsprechende Schärfung der Begriffe, im Hinblick auf die zu untersuchenden Sätze wirksame Instrumente zu generieren. Das in den letzten Jahren wieder stärker in den Fokus gerückte Gebiet der Satzmodelle[5] nimmt breiteren Raum ein. Der folgenden Analyse nicht abträglich aber gleichwohl überraschend ist die Tatsache, dass die Arbeit analytische Konzepte wie die Neo-Riemannian Theory oder die Simon’sche Tonfeldtheorie lediglich streift.

Die beiden Hauptteile sind ein Analyseteil und ein zusammenfassender theoretisierender Teil. Hier ist zunächst festzuhalten, dass die formale Gestaltung der Arbeit versucht, ein grundsätzliches Problem zu lösen, das sich vielen Untersuchungen zu Mahlers Harmonik stellt: Jakumeit legt eine Komplettanalyse von jedem der drei Sätze vor, um die Mahlers Musik oft unterstellte »Neigung zur Verknüpfung heterogener Elemente bei deutlichem Verzicht auf deren Synthese«[6] systematisierend zu überprüfen. Daher liegt die Vorgehensweise, Sätze in ihrer Gesamtarchitektur zu betrachten, nahe. Zugleich positioniert Jakumeit sich damit auch in der kontrovers diskutierten Frage, inwieweit Tonalität und Harmonik – hier explizit ›makrologische‹ Harmonik genannt – eine für sich allein schon formstiftende Funktion einnehmen können. Im Vergleich z. B. zu Johannes Schilds Parsifal-Analyse nimmt Jakumeit hier eine entgegengesetzte Position ein.[7]

In seinen Analysen verweist Jakumeit stets auf den aktuellen Stand der Mahler-Forschung, ohne betonen zu müssen, dass in vielen Untersuchungen die Harmonik eine stark untergeordnete Rolle spielt oder ihre vermittelnde Rolle wie z. B. für die Form kaum erwähnt wird.[8] Die drei Einzelanalysen orientieren sich in ihrer Gliederung an formalen Gesichtspunkten, was angesichts des oben genannten Anspruchs, die Harmonik als makrologisch darzustellen, geradezu zwingend ist. Auf dem Weg zum Gesamtbild untersucht Jakumeit zahlreiche harmonische, melodische und satztechnische Situationen und stellt diese in detailreichen und anschaulich aufbereiteten Notenbeispielen und Partiturauszügen dar. Dabei stellt sich in vielen Reduktionen des musikalischen Geschehens heraus, welche entscheidende Rolle Stimmführungen (auch übergeordneter Art in Sinne Heinrich Schenkers) in harmonischen Konstellationen spielen, die sie sowohl klären wie verunklaren können. Besonders gilt dies für die Verwendung traditioneller Satzmodelle und Sequenzen (278).[9] Die Stichhaltigkeit und Bedeutung der ausgewählten und herausgearbeiteten Details zeigen sich eindrucksvoll in den grafischen Übersichten der drei untersuchten Sätze (77, 144, 250), in denen sich formale Gliederung (in allen drei Fällen im Sinne der Sonatenhauptsatzform), programmatische Deutungen Mahlers, Kategorisierungen von Abschnitten nach verschiedenen Feldtypen (siehe unten) und harmonischen Schwerpunkten die Hände reichen. Auflistungen der wichtigsten Motive und Themen runden die Kapitel ab.

Ein starkes Moment der Arbeit und für Jakumeits Analyse unverzichtbar ist die Berücksichtigung modaler Strukturen. Dies lässt sich besonders eindrücklich in der Analyse des Kopfsatzes der Dritten Sinfonie beobachten, wo Jakumeit das ebenso omnipräsente wie sonderbare ›d-Moll‹ der ersten knapp zweihundert Takte bezüglich seiner Ambivalenz zwischen Dur-Moll-Tonalität und Modalität untersucht. Schwebenden tonalen Zuständen durch Vorenthalten des Leittons, der Einführung des Leittones durch den großen Mollseptakkord der I. Stufe oder der Gleichzeitigkeit von natürlicher und alterierter siebter Skalenstufe werden syntaktische Rollen zugewiesen. Ergänzend bzw. dem gewissermaßen gegenüberstehend erfolgen Einordnungen aus funktionsharmonischer Perspektive. Hier mag die Frage angebracht sein, wieso die ohne funktionstheoretische Deutungen erlangten Erkenntnisse nicht für sich stehen können und ob ein Hineinzwängen dieser Phänomene in funktionsharmonische Schemata nicht einen Rückfall in die Bewertung von Abläufen als Abweichungen von Normen darstellen. Hierdurch erfährt das »Winkelschiefe«, wie die bei Mahler oft unkonventionell, wenn nicht gar regelwidrig gehandhabte Stimmführung beschrieben worden ist,[10] eine sicherlich unbeabsichtigte implizite qualitative Wertung.

Auffallend ist, dass Begriffe wie ›Enharmonik‹, ›Äquidistanz‹[11] usw. expressis verbis kaum eine Rolle spielen. Allerdings findet eine Auseinandersetzung mit solchen Phänomenen durchaus statt. Ein Beispiel dafür findet sich in der Analyse des Seitenthemas im Kopfsatz der Zweiten Sinfonie: Jakumeit weist darauf hin, dass dieses Thema der Notation wie verschiedenen Kommentaren nach[12] in E-Dur stehe, gemäß der »kleingliedrigen harmonischen Ebene« (94) jedoch in Fes-Dur. Diesem Befund liegt nicht bloß eine ›sture‹ quintentreue Lesart zugrunde, sondern ein Weitblick, welcher vorausgehende wie nachfolgende harmonische Prozesse berücksichtigt. Das vorausgehende c-Moll erfährt mittels halbtöniger Progressionen der Akkorde c-as-Fes/E einen heftigen Quintensturz, welcher aber durch zwei ›entgegengesetzte‹ Modulationen (über die Stationen Ces und es) wieder aufgefangen wird.

Zur Veranschaulichung von Jakumeits Vorgehensweise sei im Folgenden exemplarisch seine Analyse eines Abschnitts aus der Durchführung des Kopfsatzes der Ersten Sinfonie in D-Dur vorgestellt (54). Nachdem zum Ende der Exposition die traditionell zu erwartende Dominanttonart A-Dur erreicht wurde, kehrt zu Beginn der Durchführung der in hohen Registern der Violinen und Bratschen erklingende Liegeton a aus der Einleitung wieder. Hierzu intonieren Tuba und Kontrabässe ab Takt 180 in tiefster Lage den Ton f. Beide Töne werden weitere 26 Takte ausgehalten, bis in Takt 207 eine Kadenz nach D-Dur führt. Kurz vor dieser Kadenz setzt die hier referierte Teilanalyse an.

Abbildung

Abbildung 1: »Im ambivalenten Feld eingebetteter Fauxbourdon (T. 192–194 und T. 196–198)« (55)

Das durch die zwei Liegetöne aufgespannte »Feld« mit wiederholt auftretenden Kuckucksrufen in den Holzbläsern und Seufzermotiven in den Violoncelli (siehe Abb. 1) wird als tonaler Schwebezustand zwischen a-Moll, d-Moll und F-Dur beschrieben und dementsprechend als »ambivalent« charakterisiert (55). Zwischen den beiden Liegetönen im Großterzabstand intonieren drei Hörner einen Fauxbourdonsatz, dessen Tonvorrat, wie Jakumeit ausführt, am ehesten auf d-Moll verweist. Besonders das Ende der zweiten Phrase mit dem Schlussklang A-Dur sorgt für eine entsprechende leittönige Wirkung. Hier wird deutlich, dass Jakumeit den Orchestersatz zunächst nach Schichten trennt und analysiert (Liegetöne, eingeworfene Motive, Fauxbourdonsatz), diese dann aber bezüglich der tonalen Wirkung wieder aufeinander bezieht, um die konstatierten Schwebezustände zu erfassen.

Die nachfolgende Kadenz nach D-Dur (T. 205–207, siehe Abb. 2) und ihre Wirkung werden vor dem Hintergrund der bisherigen tonalen Zustände beschrieben. Die erwähnte Leittonwirkung nach d-Moll verschwindet wieder durch den Ton c ab Takt 200 und einen sich über dem Basston f ausbreitenden großen B-Dur-Septakkord, dessen Funktion, so Jakumeit, zunächst ungeklärt ist. Es stelle sich die Frage, ob er als I. Stufe in B-Dur oder als VI. Stufe in d-Moll zu verstehen sei (56). Der weitere Verlauf weist diesem Akkord die Bedeutung einer kadenziellen Antepenultima zu, der ein übermäßiger Terzquartakkord (A7 mit tiefalterierter Quinte) und der Schlussklang D-Dur folgt. Das Quartmotiv d-a der ersten Flöte und Klarinette überspannt diese drei Akkorde der Kadenz. Jakumeit charakterisiert diese Kadenz als »Inszenierung« (56), einerseits, da sie die einzige Kadenz überhaupt im ersten Durchführungsteil darstellt, andererseits, da der übermäßige Terzquartakkord traditionell die kadenzielle Position einer Doppeldominante einnimmt,[13] und insofern der D-Dur-Dreiklang an der Position einer Dominante stehe. Die laut Jakumeit rückwirkend wahrzunehmende Funktionsumdeutung dieses Dreiklangs wird hier »Tonikalisierung« genannt (54). Die in Abbildung 2 gezeigte Funktionsanalyse bezieht den großen B-Dur-Septakkord wegen des übermäßigen Terzquartakkords auf g-Moll. Hier mag kritisch hinterfragt sein, inwieweit diese Deutung als solche wahrnehmbar bzw. wie sinnhaft diese Bezeichnung ist. Einerseits kann diese Funktion nur rückwirkend so aufgefasst werden, da beim Erklingen dieses Akkords (allenfalls bis auf seinen Tonvorrat) noch keinerlei g-Moll-Kontext vorliegt. Zudem wird die behauptete rückwirkende Deutung als Tonikaparallele sogleich durch die »Tonikalisierung« des D-Dur verdrängt, welche ihrerseits rückwirkend erfolgt. Die Funktionsbezeichnung des B-Dur-Akkords als tonikal abgeleiteter Antepenultima-Akkord ist also fraglich, da sie dem Akkord eine Identität unterstellt, die, erst nachträglich vermittelt, der unbestimmten Wirkung dieses Klanges nicht gerecht wird. Es stellt sich somit grundsätzlich die Frage, inwieweit eine funktionstheoretische Bezeichnung diesen Klang überhaupt angemessen charakterisieren kann.

Abbildung

Abbildung 2: »›Inszenierung‹ der Kadenz am Ende des ersten Durchführungsteils (T. 205–207)« (57)

Der theoretisierende zweite Hauptteil der Arbeit führt die Ergebnisse der drei Analysen zusammen. Hierbei werden zunächst vier »Feldtypen« (262) unterschieden: »Bordunfelder«, »Orgelpunktfelder«, »modale Felder« sowie »ambivalente Felder«, welche sich nicht den ersten drei Typen zuordnen lassen und eine mehr oder minder ausgeprägte Mehrdeutigkeit aufweisen. Jakumeit zeigt Häufigkeiten und Entwicklungen dieser Feldtypen in den drei analysierten Sätzen auf und differenziert u. a. hinsichtlich syntaktischer Verwendungen, bestimmter Manipulationen (z. B. durch Molltrübungen) und temporärer Irritationen (z. B. durch Verzögerung oder Verunklarung zu erwartender Auflösungen, die Schaffung harmonischer Nebenschauplätze oder Chromatisierungen). Im Hinblick auf die Kadenz arbeitet Jakumeit typische Wendungen heraus, wie die in dem oben beschriebenen Analysebeispiel vorkommende »Tonikalisierung« dominantisch konnotierter Klänge (272) oder die Fortschreitung einer Dominante zu einem tonikalen Dur-Septnonakkord (274). Im Bereich der Sequenzen und anderen Satzmodelle kristallisieren sich gewisse ›Mahler-Typen‹ heraus, wie z. B. der Fauxbourdon und der parallele Sextensatz, die sich in unterschiedlichsten Ausprägungen diatonischer bis chromatischer Art zeigen und prominente Rollen innerhalb der Felder einnehmen. Nach weiteren Gestaltungstechniken wie »parataktische Reihungen« (286) genannte Rückungen oder »Überblendungen« (286) ist es vor allem der Modulationsbegriff, der bei Mahler eine sehr individualisierte Form annimmt. Anstatt zielgerichtet und fasslich vermittelnd gestaltet zu sein, bewegen sich Mahlers Modulationen zwischen Rückungen einerseits und zunächst unmerklichen, erst nachträglich vermittelten Tonartenwechseln andererseits. Dabei spielt der von Theodor Schmitt eingeführte Begriff der »Achsentontechnik«[14], welcher nicht mit »Achsenharmonik«[15] bei Ernő Lendvai u. a. verwechselt werden darf, eine wichtige Rolle.

Vor dem Hintergrund dieser Charakteristika ergeben die oben genannten grafischen Zusammenfassungen der drei Analysen (77, 144, 250) ein aussagekräftiges Gesamtbild. Im Kopfsatz der Ersten Sinfonie (D-Dur) dominieren »ambivalente Felder« und »Bordunfelder«. Die Stufen I, III und V werden großflächig auskomponiert, wobei in der Einleitung und dem ersten Teil der Durchführung tonale Schwebezustände vorherrschen und die I. Stufe erst zum Satzende eine klare tonikale Präsenz erhält. Im Kopfsatz der Zweiten Sinfonie (c-Moll) sind es vor allem »modale Felder«, welche die tonale Architektur prägen. Wie in der Ersten Sinfonie erhält die III. Stufe, die hier sowohl als E-Dur/e-Moll als auch als es-Moll auftritt, eine wichtige Rolle in der tonalen Gestaltung. In der Exposition enthält der Seitensatz bereits E-Dur und es-Moll als Tonarten, bevor sie in der zweiteiligen Durchführung großflächig auskomponiert werden. Im Kopfsatz der Dritten Sinfonie (d-Moll) schließlich erhält die III. Stufe F-Dur, in welcher der Satz sogar schließt, ein derartiges Gewicht, dass Jakumeit die makrologische Darstellung auf beiden tonalen Zentren basiert. Hier ist die tonale Ausgestaltung der gigantischen formalen Anlage u. a. durch reiche Ausdifferenzierungen, tonale Prolongationen und bitonale Färbungen besonders komplex.

Auf diese Weise gelingt Jakumeit etwas, was bislang vielen Mahler-Analysen mit dem Ziel großdimensionierter (also auch im übertragenen Sinne makrologisch) und verallgemeinernder Erkenntnisse versagt geblieben ist: eine – mindestens für die analysierten Sätze – treffende, auf musiktheoretischen Termini (denen überdies, wie oben angemerkt, auch die historische Komponente nicht fehlt) basierende Charakterisierung der Tonalität und Harmonik. Wie groß die Reichweite dieser Erkenntnisse sein mag, kann seine Untersuchung nur andeuten. Dass sie auch für die übrigen Sätze der ersten drei Sinfonien Gültigkeit beanspruchen können, erscheint mir durchaus wahrscheinlich. Im Fazit führt Jakumeit zudem einige Beispiele späterer Sinfonien an, welche die in den drei Analysen herausgearbeiteten Charakteristika aufgreifen und zeigen, dass Mahler sich nie ganz von ihnen lossagen wird. Gleichwohl ist fraglich, ob die Entwicklung von Mahlers Tonsprache über die Dritte Sinfonie hinaus mithilfe von Jakumeits Ansatz beschreibbar ist, was der Autor aber zu keiner Zeit behauptet. In seinen Schlussüberlegungen weist der Autor darauf hin, dass die Entwicklung der tonal-formalen makrologischen Architektur mit der Dritten zunächst einen Höhepunkt erreicht. Welche Erkenntnisse zu den späteren Sinfonien mit Jakumeits Ansatz erschlossen werden können, bleibt abzuwarten.

Michael Jakumeit ist mit seiner Mahler-Monografie eine bemerkenswerte Arbeit gelungen. Der hohe Anspruch, eine präzise harmonische Beschreibung von Mahlers Musik zu erzielen, wird durch Feinfühligkeit im Umgang mit dem Analyseinstrumentarium, eine überzeugende Grundstruktur sowie einen großen Detailreichtum, welcher sich zu einem stimmigen Gesamtbild zusammensetzt, erfüllt. Dabei gelingt es Jakumeit, bisherige Analysen dieser Sätze, die eher einen individualistischen, »mikrologischen Ansatz«[16] verfolgen, nicht ausschließlich zu kritisieren, sondern produktiv zu ergänzen. Die bereits genannte Charakterisierung als »winkelschiefe Satzkunst«[17] wird in der Arbeit im direktesten Fall als temporäre Irritation oder Manipulation konkretisiert; oft aber werden scheinbar unkonventionelle Ereignisse erst durch sorgfältige Betrachtung ihres Umfelds zu Bestandteilen einer Mahler-typischen Tonsprache. Jakumeits Arbeit sollte als Anstoß für weitere Publikationen mit diesem breiten Fokus verstanden werden und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine intensivierte Beschäftigung mit Mahlers Harmonik.

Anmerkungen

1

Adorno 2003, 176.

2

Vgl. Dahlhaus 2001.

3

Vgl. Haas 2004.

4

Riemann 1913.

5

Stellvertretend für weitere Publikationen dazu sei verwiesen auf Aerts 2007.

6

Utz 2011, 303.

7

Vgl. Schild 2010.

8

Vgl. hierzu Ratz 1974.

9

Vgl. dazu auch Korte 2013.

10

Vgl. Sprenger 2003.

11

Vgl. Gárdonyi 2002.

12

Vgl. z. B. Stephan 1979, 44.

13

Vgl. Gárdonyi 2002, 138.

14

Schmitt 1983.

15

Lendvai 1995, 92.

16

Hierzu verweist Jakumeit (10) z. B. auf Fürbeth 1999.

17

Siehe Anm. 10.

Literatur

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